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Die Wahrheit – in der Wand

Henker wie Opfer – das sind alles wir, nur wir, und wir sind es, die sich damit auseinandersetzen müssen. Ein Krasnojarsker Künstler hat es verstanden, dies anschaulich aufzuzeigen


Fotografien nackter Menschen in voller Größe. Das Gesicht zur Wand gekehrt.
Ausstellung von Wadim Marjasow

Vor dir stehen, mit dem Gesicht zur Wand, nackte Menschen, alte und junge, schöne und weniger schöne. Sie murmeln Gebete vor sich hin. Schau ihnen auf den Hinterkopf. Überleg mal. Wer bist du. Wo sind wir. Auf wessen Seite stehst du – auf der Seite der Henker oder der Opfer.

Der Krasnojarkser Künstler Wadim Marjasow hielt eine schockierende, verblüffende Ausstellung ab. Ich sage das ganz laut, denn es passten neben dem Talent auch noch Zeit und Ort zusammen, und überhaupt – die Ameisen lief einem eiskalt über den Rücken: außer dem rein Menschlichen, der Lawine von Emotionen, den Gedanken fühlst du über all dem noch etwas Höheres. Aber es ist nicht Seine Anwesenheit, im Gegenteil – es ist Sein durchdringend klaffendes Nicht-Vorhandensein. Henker wie Opfer – das sind alles wir, nur wir, und niemand hilft uns dabei, uns damit auseinanderzusetzen.

Du begibst dich in die halbdunkle Nische. Vor dir befinden sich 14 Fotografien in Menschengröße (angefertigt von Wladimir Dmitrienko), der sie mittels irgendeiner zauberhaften Technologie auf einen kaum sich bewegenden Stoff übertragen hat, der aussieht, als würde er von innen heraus leuchten. Es handelt sich um nackte Menschen. Ihre Haut, ihre Körper sind so getönt, dass sie völlig geschlechtslos aussehen, als ob aus ihrem Fleisch ein Geist hervortritt. Die Menschen stehen mit dem Gesicht zur Wand und mit dem Rücken zu dir. In welcher anderen Situation können sich vor dir noch so zahlreiche Personen befinden, die das Gesicht zur Wand gewendet haben? In jeder beliebigen – zumindest in unseren Gefilden, und von irgendwo her weiß man ganz genau, um was für eine Situation es sich handelt. Auf dem Fußboden – hingeworfene Kleidungsstücke, Hemden und Kleider. Nicht aus Stalins Zeiten, sondern aus der heutigen, leichte Frauenschuhe und Männer-Schnürstiefel, Mokassins und Laufschuhe.

Die Menschen wurden nicht nur splitternackt entkleidet, um ihre Identifizierung anhand der Kleidung auszuschließen, sondern um sie zu demütigen und zu demoralisieren. Bei einem Entblößten verringert sich urplötzlich die Fähigkeit zum Widerstand, sein Instinkt zur Selbstverteidigung wird eingeschränkt. Es scheint eine Dummheit zu sein, dass eine solche Gehemmtheit, Gewissenhaftigkeit, Empfindsamkeit gegenüber der Kränkung in der Lage ist, sämtliche Instinkte niederzuringen und sogar den Tod schneller geschehen zu lassen. Dennoch sind wir eben gerade so gemacht. Erzwungene Nacktheit legt uns in Ketten. Genauer gesagt – Kleidung bietet uns Schutz und verleiht uns Willensfreiheit.

Die Ausstellung trägt den Titel „Das Sich-nicht-Wiedersetzen“. Marjasow hat die Situation einer Wahl modelliert: sich dem Bösen durch Gegengewalt zu widersetzen – oder die Aggression zu überwinden und die innere Freiheit zu bewahren, indem man Geistesstärke und Nicht-Widerstand beweist, was nicht mit Unterwürfigkeit und Kapitulation gleichzusetzen ist. Es ist ein Akt, mit dessen Hilfe es gelingt, die Seele und seine menschliche Haltung zu retten, was auch in erster Linie erforderlich ist, wenn man sich gegen das Böse behaupten will.

Fotografiert wurden Freiwillige. Der erste war Wadim selber. Diese Menschen haben ihre Stimmen aufgezeichnet: sie sprechen ein Gebet, und ihr ganzes Stimmenwirrwarr ertönt im Saal.

Du hast die Wahl: du kannst dich in der Haut des Henkers fühlen, aber du kannst auch Opfer sein. Dich vor dem Fotografen ausziehen. Die Zahl derer, die vor der Wand stehen, wird sich vermehren, das Projekt soll auch an anderen Orten fortgesetzt werden. Während es im Krasnojarsker Museumszentrum läuft, wirkt Marjasow dort als Designer und wird auf jeden Fall jedes Jahr eine Ausstellung abhalten, die den tragischsten Momenten der vaterländischen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts gewidmet ist, und damit geht es auch immer um unser gegenwärtiges Jahrhundert.

Marjasow arbeitet mit Hilfe des Schocks – es ist nicht einfach, emotional auf den Betrachter einzuwirken, wohl aber mittels Schockwirkung. Und wenn dieser Schock nachlässt, dann begreifst du: man will dich nur sehr klar und deutlich an jenen Ort erinnern, an dem wir leben, und an deine Verantwortlichkeit. Auf der Ausstellung im Jahre 2006, zum Beispiel, über die die „Neue Zeitung“ berichtete, waren die Besucher mit Zerstörung konfrontiert, mit verstreut auf dem Boden herumliegenden alten Büchern und Partituren mit Spuren von Stiefelabsätzen – ein Symbol für zertretenes Kulturerbe, Überwindung kultureller Verbote, denn ein Buch zerreißen – das ist genau so, als ob man ein Kind schlägt. Und damals standen die Besucher ebenfalls vor der Wahl, und tatsächlich verhielten sie sich ganz unterschiedlich. Der Eine zog seine Schuhe aus. Ein Anderer hob ein Buch auf, kniff die Augen zusammen und fing an sich einzulesen. Der Nächste ging hin und drückte die abgenutzten Seiten eines Buches auseinander und ein Vierter schritt auf ihnen einher. Henker oder Opfer sein – eine unangenehme Wahl, aber immerhin eine Wahl, und die Zeiten, in denen man ihr nicht entrinnen kann, wiederholen sich periodisch.

- Kürzlich stattgefundene Zusammenkünfte in sibirischen Fabriken, die der Gruppe Pussy Riot gewidmet waren, auf denen junge Arbeiterinnen mit der Bitte auftraten, die Altersgenossinnen doch „zu uns zu schicken – wir werden ihnen beibringen, wie hier gearbeitet wird“ und „wie du dich abrackerst, so wirst du auch fressen“ – das ist eine absolut entlehnte Übersetzung aus den Versammlungen von Arbeitern in den 1930er Jahren, - sagt Marjasow. – Und dann standen die Arbeiter, welche die Massen-Erschießungen der „konterrevolutionärer Scheusale“ unterstützt hatten, einige Zeit später selber an der Wand. Und du erinnerst dich an die Memoiren der Jefrosinija Kersnowskaja. Eines ihrer Hauptthemen: es waren nicht der Staat oder Stalin, die diese schrecklichen Lebensbedingungen schufen, denen die Repressierten ausgesetzt waren, sondern ebensolche Menschen wie du – nur dienten sie als Aufseher, Wachleute. Ich unterstrich für mich das Thema der Gewalt auf Befehl von oben: nicht der Staat, sondern die Menschen selbst haben einander misshandelt und gedemütigt - und sie tun es immer noch. Der Bolotnaja- und Poklonnaja-Platz in Moskau haben gezeigt: gib das Recht oder das Kommando – und erneut beginnt die Opposition. Die Henker – sind nicht in der Staatsmacht zu finden (die tritt beiseite und kann nichts dafür), die Henker - sie gehen von den Menschen aus. Und ich stelle den Betrachter nicht an die Stelle des Henkers. Ich habe keine Imitation der Strafe gemacht, es ist vielmehr – ein freiwilliger Akt des Sich-nicht-Widersetzens.


Aber im Leben ist das für gewöhnlich nicht so.
Opfer der DTP sind in der Regel unschuldig
Upstairs Studio

Ein Lebensalter zuvor, im September des Jahres 1937, wurden im kleinen und gemütlichen Minusinsk 109 Personen erschossen, im Oktober waren es 357, im November 416 und im Dezember 590; in nur einer einzigen Nacht, der Nacht auf den 9. Dezember, wurden 222 Personen hingerichtet. Die Gewehrläufe hielten dem nicht Stand, sie verklemmten, und man gab den Menschen mit einer Brechstange den Rest. Die letzte Erschießung jenes Jahres fand in der Neujahrsnacht statt. Arbeitsteilung – eine großartige Errungenschaft dieser Zivilisation, die Trennung von Beruf und persönlichem Leben war – eine noch größere. Der Henker tötet, weil es seine Dienstpflicht ist, und anschließend geht er zu seinen Kindern und feiert mit ihnen das Neujahrsfest. Er schaut in den längst schon leeren Himmel, hört das Knirschen des Schnees unter seinen Füßen, betritt sein Zuhause, betrinkt sich, nimmt einen Imbiss zu sich, küsst sich mit den anderen, sagt irgendetwas, ordnet die Schleifchen in den Zöpfen seines Töchterchens, reicht ihm vom Tisch ein Stückchen Konfekt.

Die erste Erschießung des neuen Jahres 1938 fand am 2. Januar statt. In der Nacht wurden 69 Menschen umgebracht. Danach trafen Kollegen aus Abakan ein, und am 5. Und 6. Januar richteten Mitarbeiter der chakassischen NKWD-Behörde im Minusinsker Gefängnis 130 Verurteilte hin. Insgesamt wurden im ersten Quartal 781 Personen liquidiert, im zweiten 593. Im Juli ruhte sich das Erschießungskommando aus, am 5. August wurden „in einer einzigen Sitzung“ 309 Menschen erschossen (der Ober-Henker der Lubjanka, Wasilij Blochin, hatte angeordnet, dass man seinem Erschießungskommando nicht mehr als 250 Leute brachte), insgesamt wurden im August 422 Personen vernichtet. Im September – 180, im Oktober – 125, im November – 6. Am 17. November 1938 „kleben“ die Erschießungen in einer „Pause“ fest: das Regime erlässt die Anordnung „Über Verhaftungen, staatsanwaltschaftliche Aufsicht und die Durchführung von Ermittlungsverfahren“.

Mitunter stand Minusinsk hinter dem benachbarten Abakan zurück. Im Jahre 1938 erhielten die NKWD-Organe den Auftrag die Chinesen und Koreaner zu verhaften, die in Chakassien lebten. Mit Erhalt der von Jeschow und Wyschinskij unterzeichneten Erschießungslisten wurden in einer einzigen Nacht, am 19. Oktober, alle Verhafteten erschossen: in Minusinsk 73, in Abakan 142.

Die Arbeitspläne wurden damals übererfüllt und die der Region Krasnojarsk von Moskau auferlegten „Kontrollzahlen“ bezüglich der Erschießungen eifrig bewältigt. Auf Bitten der Regionsleitung erhöhte man für ihn die Erschießungslimits.

Die regionale NKWD-Behörde übererfüllte auch die bereits heraufgesetzten Limits. Aus den Orten gingen Anträge auf neue Limit-Erhöhungen ein, und allein das zeugt nicht so sehr von Stalins Paranoia, sondern vielmehr von der Unzurechnungsfähigkeit der Nation, die psychische Epidemie, von der die Menschen damals befallen waren.

Wer waren die Henker, was waren das für Personen, unterschieden sie sich durch irgendwelche besonderen Merkmale von den Menschen?

Der Minusinsker Vollstrecker Andrej Aleksejew – ein Sohn des russischen Volkes. Der Abakaner Henker Iwan Dsedatais -ein Sohn des lettischen Volkes. Der Beschreibung nach – ganz gewöhnliche Leute. Wie wir alle. Man befahl ihnen andere ganz gewöhnliche Leute im Süden der Region Krasnojarsk zu erschießen. Alksejew wirkte als Leiter des Minusinsker operativen Sektors des NKWD. Iwan Iwanowitsch Dsedatais diente als Gehilfe des Leiters der chakassischen NKWD-Behörde.

Hier einige Zitate aus Dokumenten, deren Geheimhaltung aufgehoben wurde: „Zeuge Nikitin hat ausgesagt, dass der Prozess der Durchführung der Anordnung über die Erschießung bei der Vollstreckung einen quälenden Charakter aufwies, denn viele der repressierten Personen wurden bei der Erschießung lediglich verwundet – auf Befehl Aleksejews wurden sie dann mit einer Brechstange erschlagen. Zeuge Samojlow machte die Aussage, dass er Augenzeuge der Erschießung von Repressierten im Oktober 1937 war und Aleksejew persönlich über Tatbestände von Misshandlungen sowie dem Versuch A.I. Korolews berichtet hatte, einen der Verurteilten mit Hilfe eines elektrischen Detonators in die Luft zu sprengen. Daraufhin hatte Aleksejew verkündet: „Nicht nur das haben wir gemacht – wir haben vor allem schneller geschossen und Patronen gespart“. Nach Aussagen des Zeugen Dementjew „war er während der Durchführung einer solchen Operation im Oktober 1937 in einem Keller anwesend und musste mit ansehen, dass die Erschießungen von Mitarbeitern durchgeführt wurden, die sich in angetrunkenem Zustand und völliger Desorganisation befanden“.

Dsedatais war ein ehemaliger lettischer Schütze, Mitglied der Partei seit 1917 und in den Organen der Allrussischen Tscheka, der OGPU und des NKWD seit 1919 vertreten. Er führte im Gebäude der NKWD-Behörde am Ufer des Abakan-Flusses Erschießungen durch. In regelmäßigen Abständen fuhr Dsdatais‘ Kommando auf Bestellung Aleksejews ins benachbarte Minusinsk. Aleksejew tötete keine „fremden Feinde“, er schonte seine Kräfte, um mit „den eigenen“ fertig zu werden.

Dsedatais arbeitete geschickt mit den Kadern zusammen, indem er in sein Erschießungskommando abwechselnd praktisch alle operativen Mitarbeiter einbezog. Zur Vermeidung von Nervenzusammenbrüchen erlaubte man den Vollstreckern auf Befehl des NKWD der UdSSR als prophylaktische Maßnahme sogenannte „Mutmacher“. In einer der Herbstnächte des Jahres 1938 übertrieben Dsedatais, Aleksejew und zwei minusinsker Mitarbeiter – Korolew und Nowoselow – ihre Handlungen: als man die Verurteilten brachte, waren die Henker nicht in der Lage ihre Ziele zu treffen. Mit der Brechstange, um es genau zu sagen. Man benutzte sie als „kontrollierten“ Schuss. Als die nächste Partie gebracht wurde, verlief das zielgerichtete Schießen in einer derart ungeordneten Art und Weise, dass drei Konterrevolutionäre fliehen konnten. Man fand sie, das Urteil wurde vollstreckt, aber diese Sache wurde in Krasnojarsk bekannt: jemand aus den eigenen Reihen machte der regionalen NKWD-Behörde Meldung.

Das Ermittlungsverfahren war kurz, die Konsequenzen in jenem Koordinatensystem – sicher und zuverlässig: die Untersuchungsabteilung des NKWD der UdSSR stellte fest, dass Aleksejew, Korolew, Nowoselow und Dsedatais „grobe Verletzungen der sozialistischen Gesetze sowie Amtsvergehen“ begangen hatten. Zum Vorschein kamen Misshandlungen und Pländerungen. Des Weiteren wurde entsprechend der für den menschlichen Alltag jener Zeit existierenden Koordinaten folgender Hauptgrund festgestellt: unmäßige Trunksucht am Arbeitsplatz. Am 22.10.1938 entließ das Sonder-Kollegium alle Vier wegen „Diskreditierung des Dienstgrades von NKWD-Mitarbeitern“ aus den Organen und verurteilte sie zur Inhaftierung in Arbeits- und Erziehungslagern.

1939 wandte sich Aleksejew an Jeschow und teilte ihm mit, dass er 17 Jahre lang aufrichtig in den Organen der Allrussischen Tscheka, der OGPU und des NKWD tätig gewesen sei und allein im Jahr 1937 persönlich 2300 Trotzkisten verhaftet und mehr als 1500 von ihnen erschossen habe. Am 09.01.1941 wurde Aleksejew auf Anordnung desselben Sonder-Kollegiums beim NKWD der UdSSR bedingt-vorzeitig aus seinem Haftverbüßungsort in die Freiheit entlassen, und im August 1943 galt seine Strafe als getilgt.

Der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 16.01.1989 gestattete es, alle Staatsbürger zu rehabilitieren, die von außergerichtlichen „Troikas“, OGPU-Kollegien und Sonder-Kollegien des NKWD-MGB verurteilt worden waren. Die Wiedereinsetzung in ihre Rechte sowie die Wiederherstellung ihres „Image-Verlustes“ betraf keine Vaterlandsverräter, Angehörige von Straftrupps, Nazi-Verbrecher, Mitarbeiter, die sich mit der Fälschung von Strafakten befasst hatten, sowie Personen, die Morde begangen hatten. Aber schon in unserer Zeit, in den 2000er Jahren, fand die regionale Staatsanwaltschaft doch eine Möglichkeit für Aleksejews Rehabilitation.

Wurden Korn und Mühlsteine ausgeglichen? Wie der Vorsitzende des Krasnojarsker „Memorial“, Aleksej Babij, der „Neuen Zeitung“ erläuterte, wurde den Henkern im Herbst 1938, als das Regime den Massen-Terror reduzierte, in der Regel vorgeworfen, dass sie nicht bei der Ausführung der Anweisungen der Landesleitung freie Hand gelassen hatten, sondern bei verschwörerischen Zielen, als sie Agenten aller möglichen Spionagedienste waren. Alexsejew war selbstverständlich lein Spion gewesen, deswegen hatte der Staatsanwalt vom juristischen Standpunkt her Recht. Aber die „Memorialer“ ließen es nicht zu, das Aleksejew und seine Kollegen auf den Seiten des mehrbändigen Buches der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen in der Region Krasnojarsk und der Republik Chakassien auftauchten. Sie sind ebenfalls Opfer. Aber zuallererst – Henker.

Trotz eines weitverbreiteten Irrtums sind die überwältigende Mehrheit der Repressierten – Bauern. Aber neben Ackerbauern und Pferdepflegern gibt es in diesen Bänden auch Kommissare, Parteileute, staatliche Akteure, Beamte, die Stalin und seinem Regime mit Treu und Glauben gedient haben und sich im Grunde genommen dem Moment näherten, wo man ihnen die Brechstange in den Schädel stoßen würde.

Es ist nicht ohne Sinn, aber kaum würdig, wenn man heute darüber urteilt, wer rechtmäßig in dieses Buch gehört und wer nicht. Gleichzeitig würde es das außerordentlich fruchtbringende Büropersonal, den sich aufblähenden Staatsapparat, all diese Leute vom „Vereinten Russland“, unsere Kindern am Seliger-See wohl nicht daran hindern sich vorzustellen, wie diese Art von Karrieren in Russland zu Ende gehen können.

Chef Dsedatais, der Leiter der chakassischen NKWD-Verwaltung von 1935-1938, N.P. Chmarin (der während der Repressionen mit dem Lenin-Orden ausgezeichnet und 1960 aus der Partei ausgeschlossen wurde), erläuterte auf einer Sitzung des Büros des Gebietskomitees der WKP (B), dass er aus Krasnojarsk die Aufgabe erhalten hätte 3000 Personen zu verhaften. Die Mitglieder des Büros waren gezwungen, diesen Plan zu bestätigen, der im Wesentlichen auch für sie alle die Todesstrafe vorsah. Die NKWD-Behörde erarbeitete konkrete Maßnahmen. Diese Liste wurde vor nicht allzu langer Zeit vom Vorsitzenden des chakassischen „Memorial“, Nikolaj Abdin, bekannt gemacht, der inzwischen verstorben ist: „1. Alle Mitglieder des Büros des Gebietskomitees, alle ersten Sekretäre der Bezirkskomitees sowie auch alle zweiten zu verhaften, sofern sie in Kontakt mit dem Gebietskommissar gestanden haben. 2. Alle Mitglieder der Gebietsexekutiv-Komitees, Vorsitzenden der Stadt- und Bezirksexekutiv-Komitees und Dorfräte (letzte nach Wahl) zu verhaften. 3. In nächster Zeit alle Staatsanwälte, deren Assistenten und Ermittlungsrichter der Staatsanwaltschaft zu verhaften, darunter auch den Gebietsstaatsanwalt, den Vorsitzenden des Gebietsgerichts und den Vorsitzenden des juristischen Kollegiums der Advokaten. 4. Den ersten Sekretär des Gebietskomitees des Allrussischen Leninistisch-Kommunistischen Jugendverbandes Tschuldschanow und die Sekretäre der Bezirks- und Stadt-Komitees des ALKJ zu verhaften. 5. Alle Mitarbeiter der Redaktionen der Gebiets-, Bezirks- und Stadtzeitungen, des Gebietsradiosenders und der Vereinigung staatlicher Herausgeber zu verhaften. 6. Die Leiter der führenden Behörden und Abteilungen des Gebietsexekutiv-Komitees und der Bezirksexekutiv-Komitees zu verhaften. 7. Strafverfahren wegen Schädlingstätigkeit und Sabotage in den Unternehmen der Goldförderungsindustrie, Kohlenschächten, Beschaffungs- und verarbeitenden Industrien, der Holz- und Holzverarbeitungsindustrie sowie in Kolchosen, Sowchosen und Maschinen-Traktoren-Stationen einzuleiten.

Die gesamte Leitung Chakassiens, die ganzen Spitzen der Gesellschaft, die Elite brachte man nach Krasnojarsk, wo man sie erschoss.

Analogien des Jahres 2012 mit dem Jahr 1937 sind selbstverständlich äußerst zahlreich – wenn man von den inneren Umständen spricht. Heute verurteilen sie einen nicht zum Tod durch Erschießen. Und überhaupt: sie werden nicht „im Namen der Russischen Föderation“ an die Wand gestellt. In Putin Merkmale von Stalin zu sehen ist dumm, und die Erfahrungen der Gegner des Putin-Regimes mit den Leiden der Märtyrer vorheriger Epochen vergleichen – geradezu widerwärtig. Aber bei der krasnojarsker Ausstellung und allem, was um sie herum geschieht, geht es nicht um das Maß an Liberalität / Kannibalismus des Staates, sondern um uns, die Zweibeiner, und im Gegensatz zu Putin – die Unspektakulären. Haben wir uns denn seit 1937 stark verändert? Wir die Gewöhnlichen, Normalen, Einfachen. Damals wie heute sind wir keineswegs Ausgeburten der Hölle. Scheinbar mit der gleichen reflektorischen Bereitschaft „der allgemeinen Sache“ oder dem „allgemein-nationalen Führer zu dienen“, dabei mit eigener Unabhängigkeit und eigenen Ansichten handeln und keinerlei Aufmerksamkeit auf fremde Souveränität zu legen.

Und das heutige System ist damit beschäftigt, den Status-Quo zu festigen: die Priorität des Staates über dem Leben konkreter Menschen. In der für die Nation katastrophalen Abhängigkeit der von oben festgelegten Ordnung, in dem leichten Selbstverzicht auf das Recht nach Selbständigkeit liegt auch ein tiefgründiges Problem – weil es nämlich für das Volk in seiner Mehrheit gar kein Problem darstellt: dieser Mangelgestattet es in der Tat überhaupt erst, in der von uns errichteten Welt zu überleben. Und das betrifft zweifellos nicht nur Russland oder Asien.

Die russische Sklaverei weist keine besonderen Charakteristika auf, es sei denn das traditionsgemäße Interesse des Kreml an ihr. Und die Alternative, für die die Mehrheit wenigstens mündlich plädiert, akklimatisiert sich nur schlecht: allein die Sklaven-Psychologie gestattet es, hier nicht einfach zu leben, sondern siegreich zu triumphieren, allein die Sklaven-Beugsamkeit und der Lebenshunger – trotz allem und egal was gewesen ist, sogar unter Bedingungen, in denen Würmer und Maden ihr Dasein fristen. Deswegen kann jeder zum Henker oder Opfer werden, sie tauschen ihre Plätze ganz leicht. Nur etwas Unmerkliches kann sie stoppen. Moral, Religion, Gauner-„Sprache“ – sie erlauben es, grenzenlose Willkür von den Normen zu unterscheiden, - jeder wie er will, jedem das Seine, aber all das trachtet stets zum Verschwinden. Auch jetzt. Aber das Böse ist immer ansteckend, der Verderb ist immer etwas Kollektives, und die Zeiten des Massen-Wahnsinns, der sich über Land und Volk ausbreitete, ist allen nur zu gut bekannt. Umso mehr, wenn der Wahn von oben geschürt wird und alle mit ihren Ängsten erfasst, so wie Dsedatais und Aleksejew von allen, die sich um sie herum befanden, das Blut aussaugten.

Die Furcht des Kreml vor der „orangen“ Revolution und der teilweise deswegen in den obersten Etagen begonnene Kampf gegen die Korruption verleihen, wie es scheint, einen verblüffenden Effekt.

Das wird natürlich eine Nachahmung des Jahres 1937 sein, heute ist alles Imitation, aber nur bis zu dem Augenblick, wo die Preise für Erdöl und andere Rohstoffe fallen, an die das Regime sich klammert. Genau da also beginnt die Gegenwart. Marjasows Arbeit, egal wie hoch sie auch geschätzt sein mag, trifft nicht den Nerv des heutigen Tages, sondern den von gestern und den von morgen. Aber heute ist der Tag, an dem derartige Ausstellungen in der Russischen Föderation noch möglich sind. Insgesamt gesehen – „Erinnerungen an die Zukunft“. Über die Situation der persönlichen Wahl.

Selbstverständlich ist Putin nicht Stalin, und auch ihm wird es, falls eine psychische Epidemie ausbricht, schlecht ergehen. Und die wahren Putin-Anhänger werden ihn natürlich nicht zum deutschen, sondern zum chinesischen Spion erklären, weil seine Verdienste in östlicher Richtung das meiste Befremden und die meisten Zweifel hervorrufen. Jetzt werde ich demonstrieren, wie leicht und einfach die Staatsmacht in eine Paranoia und weiter in den Wahnsinn gelangen kann.

Sagen Sie bitte, wozu Putin – und es ist ja gerade sein Projekt – seit so vielen Jahren bemüht ist, in China eine Gasleitung durch das Altai-Gebirge zu verlegen, durch das enge, 55 km lange Gebiet im westlichen Hochgebirgsteil der russisch-chinesischen Grenze? Es gibt doch auch ein östliches Gebiet, fast ganz eben, von mehr als 4000 km Länge, es gibt eine östlich geführte Rohrleitung, die in jeder Hinsicht logischer, geeigneter, vorteilhafter erscheint, teilweise schon erschlossen und gebaut ist. Aber dieses Projekt ist aufgeschoben worden. Vielleicht weil Chodorkowskij diese Route plante? Im östlichen Abschnitt regulierte Putin die Grenzprobleme, indem er China strittige Gebiete abtrat, im westlichen sind die Ansprüche der Chinesen, die dahin gehen, die Grenze weiter ins Innere Russlands zu verschieben, einstweilen lediglich festgestellt worden. Um das Rohrleitungssystem durch das Altai-Gebirge zu führen, kann man das Ukok-Plateau nicht umgehen, welches von der Weltgemeinschaft geschützt wird, so dass ein Skandal unvermeidbar wäre. Wieder kauft auch Europa gern Erdgas aus den Fundstätten West-Sibiriens, und es bezahlt wesentlich mehr, als es die Volksrepublik China auch nur hypothetisch vorschlagen könnte. Welchen Beweggrund mag Putin wohl haben, wenn er sich so eifrig um diese Route bemüht?

Auf diesem Teil der Staatsgrenze steht ein natürliches Hindernis – Gebirgsketten, die höchsten in Sibirien überhaupt. Einen Weg, eine Straße hat es hier nie gegeben, durchschlagen konnten sich höchstens vereinzelte Sonderlinge und Extrem-Abenteurer, wie es Buddha (laut mündlicher Überlieferung) tat. Falls sie die Gasleitung bauen, wird es eine Straße geben. Und die chinesische Armee wird bei Interesse die Möglichkeit erhalten, auf direktem Wege nach Nowosibirsk und Omsk zu marschieren, wobei Russland in zwei ungleiche Hälften zerteilt und sich selbst davon den größten einverleiben würde.

Die Liberalen werden des Separatismus beschuldigt, der Beziehungen zum Westen mit all seinen Spionagediensten – vollkommen innerhalb der Rhetorik des stalinistischen Regimes. Putin hat strittige Territorien an China abgetreten, er treibt das Projekt mit der westlichen Gasleitung voran, und sogenannte „Gas-Hamsterer“ werden beschuldigt, ganz ähnliche Pläne auszuhecken. Oder ist die Bedienung Chinas, womit sich das Putinsche Regime befasst, weniger beschämend als die Bedienung des Westens? Und wieso hören wir eigentlich immer nur anti-westliche Rhetorik, wo ist denn die, welche sich gegen China richtet? Unter Putin wurden Bände voll Papier darüber unterzeichnet, wie man es geschickter anstellen kann, zum Nutzen Chinas über Sibirien zu verfügen. Und nicht nur unterzeichnet! Die Fertigstellung des Bogutschaner Wasserkraftwerks wurde in den 1990er Jahren ausgerechnet von den Chinesen befürwortet, sie wollten sogar den Bau einer Eisenbahnlinie nach Nischnij Priangar finanziell unterstützen (sie brauchen dort den Wald, das Holz), aber der russische Staat nahm diese Ausgaben auf sich.

Ausgehend vom Jahr 1937 – ist das denn etwa keine Grundlage für einen Schuldspruch?

… In einer kürzlich stattgefundenen Museumsnacht ergänzten junge Männer und Mädchen Marjasows Exposition: während sie Gebete murmelten, stellten sie sich zu den lebensgroßen Fotografien. Genau wie jene - mit dem Gesicht zur Wand. Manche Leute blieben im Halbdunkel lange Zeit hinter ihren Rücken stehen, dort, wo es ganz mies ist sich hinzustellen. Für andere war es – normal. Und einige empfanden sogar einen Anflug von Enthusiasmus.

Aleksej Tarasow.

„Neue Zeitung, 28.11.2012


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