Hier gibt es hunderte von Familiennamen sämtlicher Anfangsbuchstaben. Alleinstehende und Menschen mit vielen Kindern, Einzelbauern und Kolchosarbeiter, Rotarmisten und Geistliche, Feldscher und Zimmerleute, Russen, Adygen, Deutsche, Letten. „A“ – Abarinow, Kusma, Filzwalker aus dem Bauernstand. Pawel, mit demselben Nachnamen – Gehilfe eines Viehtreibers, also Viehhirte. Abakomow, Stepan – Funker; Abankina, Anastasia – aus dem Bauernstand, kaum lese- und rechtschreibfähig; Abaras, Kasis – Litauer, Oberst. Gegenüber der einzelnen Familiennamen, lakonisch geschrieben – ausgesiedelt, Entzug der bürgerlichen Rechte, erschossen. An dem Buch über die Schicksale politisch verfolgter Landsleute schreiben Vertreter der Krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft bereits seit einem viertel Jahrhundert. Die Unterschiede zwischen Staat und Heimat, Bekämpfung des Bösen und Volksgedenken wollen wir mit seinem Vorsitzenden, Aleksej Babij, erörtern.
- Aleksej, sogar die Internetseite von „Memorial“ mit seinen Erschießungslisten liest sich mit schwerem Herzen. Ich kann mir gut vorstellen, wie bedrückend es sein muss, in alle Einzelheiten dieses Themas vorzudringen und sich damit auseinander zu setzen. Wie war das alles am Anfang und wie hat das jahrelange Erforschen der dunklen Vergangenheit des Landes Ihre Persönlichkeit verändert?
- Natürlich bin ich nicht so ein empfindlicher Mensch, dass ich nach dem Studium der Akten nachts nicht mehr schlafen könnte. Spurlos geht nichts an einem vorüber, aber deswegen habe ich nach meinem Eintritt in die „Memorial“-Organisation trotzdem nicht angefangen mit düsterem Blick auf das Leben zu schauen. Es begann alles damit, dass ich Lücken in der Geschichte meiner eigenen Familie fand, meine Großmutter und mein Großvater wurden ebenfalls erschossen. Ich wollte wissen, wie alles gewesen war, fuhr von einem Archiv zum anderen, suchte nach Dokumenten. Ich wurde fündig. Später dachte ich, dass es gut wäre, wenn man die Namen aller politisch verfolgten Personen in der Region Krasnojarsk ins Gedächtnis zurückholen. Ich schloss mich den Leuten bei „Memorial“ an und ging in deren Arbeit mit auf. 25 Jahre danach gibt es bei uns eine Datenbase, die 100.000 Personen umfasst, 11 Bände des Buches der Erinnerung. Oft bin ich Leuten begegnet, habe ihre ungeschriebenen Tragödien erfahren, denn zu Beginn unserer Aktivitäten waren viele Repressionsopfer noch am Leben. Mit jeder Geschichte ergeben sich immer klarer definierbare Gefühle und Gedanken im Hinblick auf das Verhältnis zum Staat.
- Fällt es einem schwer, eine solche Heimat zu lieben?
- Im Gegenteil – die Heimat, die so viel Leid gebracht hat, liebe ich jetzt noch viel mehr, aber sie ist ja auch nicht – der Staat. Ich halte die Besatzungsmacht für den Staat, der während der Zeit der politischen Verfolgungen existierte. Und diese Staatsmacht war nicht imstande mit anderen Mitteln als dem Terror zu agieren, denn sie wurde mit Gewehren und viel Blutvergießen eingenommen. Deswegen wurde sie mit Terror unterdrückt. Und heute ist das teilweise auch noch so. Und es wird so bleiben, bis wir begriffen haben, dass es sich bei der Staatsmacht um einen Service handelt, um eingestellte Manager – und nicht um Führer, vor denen man kriechen muss.
- Wie sollen wir denn gegen diese Liebedienerei, diese Kriecherei ankämpfen?
- Das ist ganz einfach. Sollen mich die Linken und die Rechten ruhig auspfeifen, ich b in trotzdem von Einem überzeugt: der äußere Kampf ist nicht das Entscheidende. Die Leute müssen wie freie Menschen leben, die unsinnigen Forderungen ignorieren, welche die Staatsmacht aufstellt. Man muss die Unfreiheit aus sich selbst heraus beseitigen, sich selber verbessern. Und erst dann kann man alles um sich herum besser machen, einen neuen Staat aufbauen, mit unabhängigen Richtern, einem demokratischen Wahlsystem und anderen guten Sachen. Wenn das jetzige System einstürzt (und die Landeslenkung wird zweifellos dazu führen), dann werden die innerlich unfreien Bürger dies aber nicht umsetzen können.
- Aleksej, heute empfinden viele unserer Mitbürger immer noch eine gewisse Nostalgie gegenüber der Stalinzeit. Was meinen Sie – warum ist das so?
- Sie haben einfach nur schlechte Kenntnisse darüber, wie es wirklich war. Als Chruschtschow auf dem 20. Parteitag Stalin anprangerte, beklagte er, dass man die Elite politisch verfolgt hatte, offenkundige Militärchefs, Parteileute, Akteure der Volkswirtschaft. Bei den einfachen Leuten herrschte damals die Meinung, dass der Führer hauptsächlich die Elite einsperren ließ, schlechte Vorgesetzte, die häufig gestohlen hatten. Mitunter überspannte er wohl den Bogen, aber im Großen und Ganzen machte er alles richtig; er war für das Volk.
Aber das ist ein Mythos. Es reicht aus, den richtungweisenden Befehl N° 00447 aufzuschlagen, auf dessen Grundlage das NKWD im Jahre 1937 agierte. Darin wurden Limits festgelegt, wie viele Menschen zu erschießen waren, und es wurden Kategorien bestimmt, die dem Terror ausgesetzt werden sollten. Die ersten drei Kategorien – enteignete Bauern, später lediglich Offiziere und sonstige. Danach wurden die Tschekisten immer eifriger und führten auch noch eine polnische und eine Charbiner Operation durch, aber zuallererst verhafteten sie ausnahmslos Bauern.
- Aber wieso ist denn ausgerechnet das Jahr 1937 so blutig verlaufen? Lag darin denn irgendeine Logik?
- Zweifellos. Aus politischen Beweggründen wurden in all den Jahren der sowjetmacht in unserer Region 50.000 Personen verhaftet. Ungefähr ein Drittel holten sie in den Jahren des Großen Terrors, mehr als die Hälfte der Erschießungen erfolgten im Jahr 1937. Es war nämlich so, dass die Dokumente vorschrieben, die Operation habe innerhalb von vier Monaten beendet zu werden, also zwischen August und Dezember 1937. Denn im Dezember 1937 sollten die Wahlen in den neuen Obersten Sowjet nach der Stalinistischen Konstitution stattfinden, nach der Bürgern, denen die Rechte entzogen word3en waren, erneut die Wahlrechte erwerben konnten. Die Spitze erkannte, dass diese Leute, denen man den Besitz weggenommen, deren Familien während der Deportation ums Leben gekommen waren, wohl kaum loyal wählen würden. Und so beschloss man sich abzusichern, indem man das unzuverlässige Elektorat einfach physisch vernichtete. Alle, die eventuell Probleme hätten machen können – wurden erschossen oder eingesperrt. Die übrigen wurden dermaßen eingeschüchtert, dass wir uns noch bis heute fürchten.
- Haben Sie auch Angst?
- Ab und an – ja. Aber ich komme damit zurecht. Die Menschen, die zur damaligen Zeit lebten, hatten eine viel schrecklichere Angst. Einmal bat ich die Jungs mich in einer Zelle der fast vollständig erhalten geblieben Strafbaracke des Kraslag einzuschließen. Ich blieb dort mehrere Stunden.
- War Ihnen bange zumute?
. Noch schlimmer. Es war schrecklich. Obwohl ich ja wusste, dass das nicht echt wahr.
- Aleksej, welchen Eindruck haben Sie – waren die Mitarbeiter, die das Volk einsperrten und die Erschießungsdokumente unterschrieben, sich nicht bewusst, was sie da taten?
- Ich glaube schon, dass sie sich darüber im Klaren waren. Aber jeder von ihnen hätte die Wahl gehabt, nicht an diesen bösen Taten mitzuwirken. Es gibt den bekannten Fall, bei dem Tschekisten einen Unschuldigen nicht ins Gefängnis stecken wollten – sie beschlossen, bei dem Spiel nicht mehr mit zu machen. Natürlich wurde diese Art von Mitarbeitern an die Wand gestellt. Aber manchmal ist der Tod besser als das Mitmachen. Aber es gab auch andere. Vor ein paar Jahren erinnerte sich eine Tschekistin, die bereits 96 Jahre alt war, in einem Interview der Lokalzeitung daran, wie sie einen Klassenkameraden – ihrem Verständnis nach mit Recht – wegen antisowjetischen Verhaltens als Feind hingestellt hatte. Ohne sich zu schämen nannte sie sogar seinen Nachnamen. Ich überprüfte das anhand unserer Datenbase: dieser Mann war 1964 rehabilitiert worden, und man hatte nicht einmal einen Straftatbestand gefunden! Im selben Moment verspürte ich großes Verlangen die Oma vor Gericht zu bringen, aber ich tat es nicht. Die Alte hätte vor lauter Aufregung sterben können, und ich wollte nachher nicht ihren Tod auf dem Gewissen haben. Nebenbei bemerkt, Opfer von Repressionen, mit denen ich Kontakt hatte, äußerten nicht nur einmal den Wunsch sich zu rächen. Aber sie wollten und wollen schon wissen, wer sie eingesperrt hat.
Ich bin ebenfalls der Meinung, dass die Nachnamen derer, die an den politischen Verfolgungen beteiligt waren, genannt werden sollten – damit Leute heutzutage, wenn auch nicht in einem derartigen Umfang, nicht das Gleiche tun und womöglich meinen, dass niemand sie dafür zur Verantwortung ziehen wird.
- Im Laufe von 25 Jahren haben sie viele Schicksale berührt. Welche Geschichten sind Ihnen dabei ganz besonders zu Herzen gegangen?
- Es gab viel Entsetzliches, aber besonderen Eindruck haben ganz einfache Situationen gemacht. Auf der Kolyma saß eine Frau im Sonderlager, wo sie alles Mögliche durchmachen musste: Karzer, schwerer Prügel. In den Sonderlagern wurden den Häftlingen drei Nummern aufgenäht – auf die Mütze, auf die Wattejacke auf das Knie des Hosenbeins. Nach dem Ukas, der es gestattete, diese Nummern von der Kleidung zu entfernen, machten sich alle Gefangenen daran, sie eifrig mit heißem Dampf zu behandeln. „Wir erhitzten die Aufnäher, dann rissen wir sie herunter, - erinnerte sich die Frau, - die Nummer war entfernt, aber es blieb eine schwarze Spur zurück – ein Rechteck auf dem verblichenen Stoff. Das ist ein schwarzes Mal in der Seele eines jeden Verfolgten. Und man kann es einfach niemals entfernen“.
Vor drei Jahren befragte ich einmal eine alte Frau, eine Deutsche, die in das Gebiet Tjumen deportiert worden war. All ihre Erzählungen über das Leben handelten – vom Essen. Sie hatte den Hunger im Wolgagebiet erlebt, danach zwei Jahre im Lager verbracht; man hatte sie eingesperrt, weil sie im Winter einzelne Ähren vom Kolchosfeld aufgesammelt hatte. Nach der Lagerhaft geriet sie in eine Sowchos in unserer Region; sie berichtete, dass sie während der Erntezeit direkt auf dem Acker Rüben gegessen hätte und immer davon träumte, sich einmal richtig satt zu essen. Dafür wurde sie von den anderen Dorfbewohnern „dicke Lida“ genannt.
Im Augenblick erforsche ich gerade die Kulaken-Sache, da bekommt man eine Gänsehaut. Zwei benachbarte Familien wurden enteignet, weil sie angeblich Tagelöhner beschäftigten. In Wirklichkeit halfen die einen Nachbarn den anderen bei der Heumahd, später waren die anderen dann bei der Getreideernte behilflich. Trotzdem wurden sie alle enteignet und verschleppt.
- Aleksej, die heutige Jugend verwechselt häufig Lenin mit Stalin und Berija mit Jelzin. Leisten sie unter den jungen Leuten eigentlich Aufklärungsarbeit?
- Das tun wir mit Hilfe unserer Internetseite – dieses Format ist für die Jugendlichen annehmbar. Viele von ihnen schreiben uns, möchten mehr über das Schicksal ihrer politisch verfolgten Großväter und Urgroßväter erfahren. Wir nehmen auch am allrussischen Wettbewerb Der Mensch in der Geschichte . Russland – 20. Jahrhundert“ teil. Dazu muss man uns einen Bericht über die Geschichte seiner Familie schreiben, die mit dem Schicksal des Landes in Zusammenhang steht. In den Wettbewerb fließen hunderte von Arbeiten aus unserer Region ein – und bis zu dreitausend aus ganz Russland. Manchmal graben die Kinder äußerst interessante Geschichten aus. So war im Atschinsker Bezirk seinerzeit ein sehr populärer Vierzeiler über Berija im Umlauf, alle kennen ihn: „Berija – Berija, das Vertrauen ganz verletzte, und Genosse Malenkow einen Fußtritt ihm versetzte“. Ausgehend von diesem Lied erfuhren die Schüler, dass die gesamte Familie Berija nach Sibirien verschleppt wurde und ein Neffe Lawrentij Palytschs sogar in ihr Dorf. Nachdem Dascha Schewtschenko, ein Mädchen aus Turuchansk, das Schicksal ihres Urgroßvaters geklärt hatte, der an dieser Stelle erschossen wurde, fand sie noch Informationen über viele heraus, die gemeinsam mit ihrem Großvater erschossen worden waren und ermittelte den Begräbnisplatz. Jetzt wird an dieser Stelle eine Kapelle errichtet.
- Was werden Sie machen, wenn „Memorial“ das Thema eines Tages gänzlich ausgeschöpft hat?
- Nach unseren Einschätzungen beträgt die Zahl der politisch Verfolgten, die mit der Region Krasnojarsk in Verbindung zu bringen sind, - eine Million. Diese Ziffer ist nicht aus der Luft gegriffen, denn allein die Zahl der rehabilitierten Sondersiedler beträgt bei uns schon 500.000. In 25 Jahren Arbeit haben wir die Schicksale von 100.000 Menschen ins Gedächtnis zurückgerufen und ihr Leben auf unterschiedlichen Niveau erforscht. Um über alle alles zu erfahren, werden wir noch 200 Jahre benötigen.
Jelena Esaulowa
Foto: Boris Barmin
Stadt-Neuigkeiten, 01.02.2013