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Ein Schritt ins freie Leben

Norilsk in der Geschichte. Geschichte in Norilsk

Zu Beginn des Baus des Norilsker Kombinats im Jahre 1935 besaß der GULAG – die Hauptverwaltung der Lager und Haftverbüßungsorte – hinreichende Erfahrung mit der Arbeit von Gefangenen auf den Großbaustellen Sibiriens und des Fernen Ostens. Das wichtigste Bauprojekt in jenem Jahr war der Weißmeer-Ostsee-Kanal, wo auch das System der Zwangsarbeit ins Rollen gebracht und geschaut wurde, wie sie funktionierte. Übrigens die Abkürzung z/k (zakljutschonny (Häftling); Anm. d. Übers.), die in vielen Dokumenten verwendet wurde, kam gerade 1935 auf, und man entschlüsselte sie als „Häftling der Kanalbau-Armee“.

Der Einsatz kostenloser und rechtloser Arbeitskräfte ergab beispiellose Resultate in Maßstäben, die das gesamte Land betrafen. In der berühmten Anordnung des Rates der Volkskommissare vom 23. Juni 1935 heißt es direkt: „…den Bau des Norilsker Nickelkombinats als wichtig und eilig anzusehen und in die Verantwortung der Hauptverwaltung der Lager des NKWD zu übertragen, wobei diese dazu verpflichtet wird, zu diesem Zweck ein Sonderlager zu organisieren“. Zwei Tage später unterzeichnete der Volkskommissar für innere Angelegenheiten Genrich Jagoda den geheimen Befehl N° 00239 „Über die Organisierung des Baus des Norilsker Nickel-Kombinats“. Darin waren die wichtigsten Aufgaben des Erziehungs-/Arbeitslagers präzisiert, zu denen die „Erschließung des Standortgeländes für das Kombinat und seine Unternehmen“ gehörte.

Ein wichtiges Arbeitswerkzeug

Im Sommer desselben Jahres (1935) trafen in Norilsk die ersten Gefangenen ein. Sie hausten in Zelten und errichteten sich selber Baracken, die sie mit Stacheldraht einzäunten. So entstanden die ersten Norilsker Lagerzonen. Das Norillag ging mit der Männer-Lagerabteilung N° 1 in Betrieb, die in einer Felsschlucht des Ugolnij-Baches errichtet wurde, ganz in der Nähe des heutigen Verwaltungs- und Wohnblocks der Mine „Sapoljarjyj“. Unweit, am Hang des Schmidticha, gab es bald darauf eine zweite Lagerabteilung – das Frauenlager. Zum Jahr 1938 umfasste die Bevölkerung von Norilsk etwas zehntausend Menschen, darunter ungefähr eintausend Häftlinge. Mit den Händen dieser Menschen wurden die allerersten Objekte des Kombinats erbaut.

Man muss sagen, dass Norilsk erst mit dem Eintreffen von Abraam Sawenjagin zum echten Großlager wurde. Erstens führten sie auf dem Territorium das Lager-Regime ein, was es praktisch unter dem ersten Leiter Wladimir Matwejew nicht gegeben hatte. Dieser Umstand wurde einer der Punkte für seine Anklage wegen Schädlingstätigkeit. Unter Matwejew hatten sich die Häftlinge einigermaßen frei auf dem Gelände bewegen können und unterschieden sich nur wenig von den freien Bauarbeitern.

Zweitens wurde 1939 der Betrieb eines der schrecklichsten Stalinistischen Lager – Solowezkij – eingestellt. All diese Gefangenen wurden in zwei Etappen nach Norilsk geschafft, wodurch die Bevölkerungszahl in der Siedlung sogleich auf zehntausend Menschen anstieg (einigen Angaben zufolge sollen es sogar 19.000 gewesen sein). Die Solowezker Gefangenen brachten die traditionellen Regeln, die in der Verbrecherwelt herrschen, mit, nach denen das Norillag noch weitere Jahrzehnte lebte.

Entgegen der etablierten Meinung, muss gesagt werden, dass die Norilsker Lager nicht die schlimmsten im System des GULAG waren. Die Häftlinge in Norilsk wurden stets als wichtige Arbeitswerkzeuge angesehen, ein Mittel zur Erfüllung des Plans. Daher wurden in den Norilsker Lagern bestmögliche Bedingungen für die Arbeit des „Kontingents“ in der Produktion geschaffen. Jeder, der die Norm erfüllte, bekam Sonderkleidung, Werkzeug, einen Platz in der Baracke, medizinische Hilfe. Als Anreiz konnten die Gefangenen den Verkaufsstand mit defizitären Lebensmitteln nutzen oder sogar mit Urlaubsschein einen Kurzurlaub antreten. Einige besaßen den Status nicht von Wachen begleiteter Häftlinge und lebten mit gewöhnlichen Norilsker Bürgern zusammen.

Doch denjenigen, die die Arbeit verweigerten, die ihnen gestellten Aufgaben nicht erfüllten, Sabotage verübten, hatten nichts zu lachen: die Zuwiderhandelnden erwartete eine harte Strafe – sie reichte von Einsperren im Strafisolator bis zum Tod durch Erschießen.

Bei der Lagerverwaltung gab es stets Mittel zur Einflussnahme auch auf die Hauptmasse der Unfreien. So wurden beispielsweise Disziplin und Fleiß bei den „Politischen“, den klassenfremden Gefangenen, welche die Mehrheit ausmachten, mit Hilfe der Kriminellen, den der Behörde „sozial nahestehenden“ Häftlingen unterstützt.

Dem Norilsker Bauprojekt mangelte es erheblich an technischer Intelligenz. Aus diesem Grund bemühte man sich, für talentierte Gefangene schonende Bedingungen zu schaffen. Man kann wohl sagen, dass der Erstendecker der Norilkser Fundstätten von Kupfer-Nickel-Bergwerken, Nikolai Urwanzew, der ebenfalls Häftling des Norillag war, vergleichsweise komfortabel lebte und arbeitete. Unter anderen bedeutsamen Norilsker Inhaftierten befanden sich die besten Architekten des Landes – Geworg Kotscharjan, Mikael Masmanjan und Jekab-Olgert Truschinsch, das Bau-Genie Jerochim Epstein, Professor Nikola Fjodorowskij. Doch sie alle lebten in Unfreiheit!

1948 wurde in Norilsk das Sonderlager Gornyj oder Gorlag organisiert (das Staatliche Lager mit besonderer Haftordnung). Beide Bezeichnungen waren offiziell im Gebrauch. Die Häftlinge des Gorlag verrichteten schwere körperliche Arbeiten in den Bergbau-Unternehmen des Norilsker Kombinats, Erdarbeiten beim Bau von Straßen, der Kupfer- und Maschinenfabriken sowie der Stadt Norilsk selbst. Der Status eines Sonder-Straflagers gestattete es der Kombinatsleitung seine Gefangenen unter Bedingungen einzusetzen, die häufig mit Lebensgefahr verbunden waren. Dabei wurde bei den meisten Häftlingen Gehorsam durch Gesetzlosigkeit und Willkür der Wachmannschaften und der Berufsverbrecher erreicht. Die Strafgefangenen waren vollkommen rechtlos. Die Zahl der im Lager Inhaftierten betrug nicht weniger als 15.000 Mann im Jahre 1948 und 25.000 Gefangene, in ihrer überwiegenden Mehrheit Politische, im Jahre 1953 – der Zeit, in der in den Abteilungen des Gorlag der berühmte Häftlingsaufstand stattfand.

Schwarze Fahnen

Im Jahre 1953 war das Norillag eine der größten Inseln des Lagersystems der UdSSR. Darin befanden sich 34 Lager-Abteilungen, 10 Lager-Punkte sowie eine große Anzahl Lager-Außenstellen. Die Gesamtzahl der Gefangenen lag bei annähernd 68.000.

Ende März, nach Stalins Tod, wurden die Häftlinge des ganzen Landes amnestiert. Doch die Amnestie betraf lediglich Kriminelle und Gefangene mit geringer Haftdauer. Zehntausende hartgesottener Gewohnheitsverbrecher, die ihre Straffreiheit spüren ließen, gingen in die Freiheit. Eine Welle von Verbrechen peitsche durch das ganze Land; besonders schwer hatten es die Bewohner der lagernahen Siedlungen und Ortschaften, zu denen auch Norilsk gehörte. Die Ereignisse jener Zeit werden meisterlich in Aleksander Proschkins Film „Der kalte Sommer des Jahres 1953“ widergespiegelt.

Die politischen Gefangenen des Gorlag blieben hinter Stacheldraht. Außerdem waren die Strafgefangenen des Gornij-Lagers, die unter unmenschlichen Bedingungen lebten, der zusätzlichen Unterdrückung seitens der extra hierher gebrachten Kriminellen ausgesetzt. So wurden beispielsweise auf Befehl General Semjonows bewaffnete Banditen in die zweite und dritte Lagerabteilung eingeschleust, die versuchten, technische Ausrüstungsgegenstände zu entwenden und denen es gelang, das Lager-Krankenhaus in Brand zu stecken. Die Politischen wirkten den Kriminellen so gut es ging entgegen, doch im Frühjahr 1953 nahm die Situation im Gorlag kritische Ausmaße an.

Es gibt Angaben, nach denen die Unterdrückung durch die Verbrecher und die Schaffung von Voraussetzungen für einen Aufstand von der Administration des Gornij-Lagers absichtlich provoziert wurden – und zwar im Auftrag der obersten Leitung. Die Organe der Staatssicherheit fürchteten nach Stalins Tod mit Recht eine Auflösung und sogar Vergeltung; daher waren sie bestrebt, ihre Notwendigkeit und Unersetzbarkeit unter Beweis zu stellen, indem sie die von ihnen organisierten Revolten in verschiedenen Lagern des Landes enthüllten und niederwarfen. Eines von ihnen war das Norilsker Gorlag.

Als Datum für den Beginn des Aufstands gilt der 26. Mai 1953. An diesem Tag eröffnet der Leiter der Wachmannschaften, Sergeant Djakow, das Feuer auf eine Gruppe Gefangener, die nahe der Wohnzone der 5. Lagerabteilung standen. Er tötete und verwundete mehr als ein Dutzend Männer, was eine aktive Gegenreaktion seitens der Häftlinge nach sich zog. Die Mitarbeiter der Administration verließen im Laufschritt das Territorium, während die Strafgefangenen, nachdem sie die Zone eingenommen hatten, schwarze Flaggen hissten. Zum Zeichen der Solidarität verkündeten die vierte und sechste (Frauen-) Lagerabteilung den Streik, und am 5. Juni streikten bereits sämtliche Lager-Abteilungen. Der Aufstand wurde von Komitees gelenkt, welche aus Vertretern der Brigaden, Baracken und nationalen Gruppen gewählt worden waren.

Die Menschen wurden über die reale Lage im Lande nicht aufgeklärt; sie waren der Überzeugung, dass die Arbeitslage ein Ergebnis der Eigenmächtigkeit und Willkür vor Ort waren, und hofften auf Hilfe durch die Sowjetmacht im Zentrum. Die Rebellen forderten: die Entsendung einer Regierungskommission aus Moskau zur Überprüfung ihrer Fälle, die Bestrafung derer, die an Anarchie, Chaos und den Erschießungen schuld waren, die Abschaffung von Fußfesseln und Folter (Eis-Karzer, Mücken und ähnliches), die Abschaffung des Tragens von Häftlingsnummern, die Entfernung der Gitter und Schlösser von den Baracken und die Achtung der Menschenrechte.

Die Aufständischen schufen Selbstwehr-Abteilungen und Selbstschutz-Trupps, die den Wachdienst vornahmen. Sie bewachten auch die Vertreter der Administration, sofern diese in der Lagerzone auftauchten.

Die aus Moskau eingeflogene Kommission mit dem Leiter der Gefängnisbehörde des MWD der UdSSR, Oberst Kusnezow, an der Spitze, konnte vor Ort keine Entscheidungen treffen; sie bewilligte den Strafgefangenen lediglich einige Lockerungen, indem sie das Entfernen der Nummern von der Kleidung sowie der Gitter vor den Fenstern erlaubte und ihnen versprach, dass sie Briefe und Besuche von ihren Angehörigen erhalten dürften.

Am 9. Juli ertönte im Radio die Mitteilung über die Verhaftung des NKWD-Oberhauptes Lawrentij Berija. Mit einer abgeschossenen Luftschlange verteilten die Aufständischen Flugblätter. Hier der Text eines der Flugblätter von vielen: „Berija wird auf immer und ewig von uns und unseren Familien verflucht sein! Wir glauben daran, dass die Sowjetregierung die Folgen der verbrecherischen Aktivitäten, deren Opfer wir sind, vollständig liquidiert. Die Insassen des Gorlag“. Die Mitglieder des Komitees begannen an alle Instanzen Briefe zu schreiben: von der Regierung des Landes und der Leitung der Kommunistischen Partei der UdSSR bis hin zu persönlichen, an Woroschilow, Malenkow und andere gerichteten. Diese Briefe, die aus Norilsk nicht abgeschickt wurden, wurden später den bereits vorhandenen Materialien in den Ermittlungsakten hinzugefügt.


Norillag-Häftling

Die Vergeltung

Kusnezows Kommission wurde zurückbeordert, und eine neue Kommission traf für sehr lange Zeit nicht ein. Die Situation geriet in eine Sackgasse. Die Gefangenen forderten entweder ein gerechtes Untersuchungsverfahren oder ihre Erschießung. Ein derartiges Ersuchen an das Zentralkomitee der Partei unterzeichneten mehr als 3.600 Personen.

Die Lagerverwaltung wartete richtungsweisende Instruktionen nicht großartig ab, sondern beschloss, die Revolte gewaltsam zu unterdrücken. Zum Sturmangriff trafen zwei bewaffnete Regimenter des MWD ein, außerdem wurden Kommunisten und Komsomolzen mobilisiert. Der Generalbevollmächtigte Jegorow organisierte eine Gruppe inhaftierter Krimineller. Sie wurden zur Verfügung des Leiters des Zentral-Gefängnisses „Kalargon“, Leutnant Schirjajew, einem Mörder und Sadisten, abkommandiert. Die Gruppe erhielt die Aufgabe, im Verlauf der Niederschlagung des Aufstands an den Arrestanten Selbstjustiz und Vergeltung zu verüben. Aus Krasnojark flog der Leiter der regionalen MWD-Behörde, General Pawljutschek, ein, um die Vernichtungsaktion persönlich zu leiten.

In der Nacht auf den 4. August, um 23.45 Uhr, drangen in voller Fahrt zehn Fahrzeuge mit Sturmgewehren ins Lager ein. Es gab nur geringen Widerstand, der auch schnell gebrochen wurde. Während des Sturmangriffs wurden etwa 100 Mann getötet und mehr als 200 verletzt. Die am Leben gebliebenen Anführer der Meuterei und Personen, die sich an der Lager-Selbstverwaltung beteiligt hatten, wurden ins Zentralgefängnis verbracht und den Händen der Kriminellen ausgeliefert. Alle aktiven Teilnehmer am Aufstand erhielten zusätzliche Haftstrafen und wurden auf verschiedene Lager und Gefängnisse des Landes der Sowjets verteilt.

Insgesamt waren am Aufstand des Jahres 1953 sechs Straflager-Abteilungen des Gorlag und neun Abteilungen Norilsker Erziehungs-/Arbeitslager beteiligt. Einige Geschichtsforscher sind der Ansicht, dass dies die erste und größte Bewegung von Ungehorsam innerhalb des sowjetischen Zwangsarbeiter-Systems war. Informationen über den Aufstand im Gorlag wurden nirgends veröffentlicht, nicht einmal die Norilkser Zeitung „Stalinist“ erwähnte ihn; auch das Blatt „Produktionsbulletin“ hüllte sich dazu in Schweigen, obwohl alle Norilsker Bauten, seine Fabriken, Schachtanlagen und Bergwerke praktisch mehrere Monate nicht arbeiteten. Der Norilsker Aufstand rief ein erhebliches Echo in der ganzen Welt hervor und wurde zum ersten Schritt in ein freies Leben in der Stadt.

Offiziell endete die Existenz des Norillag 1956, als Norilsk bereits drei Jahre den Status einer Stadt besaß. Insgesamt durchliefen in den Jahren der Existenz des Norilsker Erziehungs-/Arbeitslagers 400.000 Gefangene unterschiedlicher Nationalität seine Lagerabteilungen. Wie viele von ihnen ums Leben kamen, ist nicht bekannt, doch zur Erinnerung an die Opfer der stalinistischen Repressionen wurde am Fuße des Schmidticha-Berges, an der Stelle des alten Friedhofs, ein Gedenk-Komplex geschaffen – das „Norilsker Golgatha“.


Die Lagerzone unterhalb des Schmidticha-Berges

Beim Schreiben des Artikels wurden Materialien aus den Archiven des Kombinats und der Stadt, des Instituts „Norilsk-Projekt“, des Museums des Norilsker Industrie-Gebiets sowie andere Quellen verwendet.

Stanislaw Strjutschkow
„Polar-Bote“, 6. Februar 2013


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