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Der Schatten des Tyrannen im tiefsten Sibirien

Zum 60. Todestag Stalins und dem 75. Jahrestag seines angebrannten Museums


P.P. Sokolow-Skalja “Stalin 1916 in Turuchansker Verbannung (1949)

Der 5. März 1953 war für die meisten Einwohner der Sowjetunion der Tage einer großen Tragödie. Trauer erfasste die meisten Menschen, die im Land der Sowjets lebten. Sogar jene, die unschuldig unter dem Terror-System zu leiden hatten, fielen in einen Zustand der Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit.

Es gelang mir vor kurzem, Kontakt mit Amalia Alexandrowna Jakowlewa aufzunehmen, die im Oktober 1942, zusammen mit anderen Wolgadeutschen, in den Bezirk Igarka verschleppt wurde. An einem unbewohnten Ort namens Agapitowo wurden über 400 Menschen ohne Lebensmittel, ohne geeignete Kleidung am Ufer abgesetzt. Sie hausten in Zelten, jeder bekam 300 g Mehl ausgehändigt. Vor Amalia Alexandrownas Augen starben ihre beiden Brüder: zuerst der Kleinste, er war ein Jahr und 3 Monate alt, später auch der Ältere – er war 3. Im ersten Winter gab es derart viele Tote, dass niemand sie begrub; die gefrorenen Leichen lagen bis zum Frühling in einem separaten Zelt. Ich höre diese Geschichte nicht zum ersten Mal, aber erst heute vernehme ich das Bekenntnis: „Ja, wir haben alle am 5. März 1953 geweint; wir dachten, dass alle jetzt noch unglücklicher würden, das wir einfach nicht weiter leben könnten, denn wir hatten schließlich den wichtigsten Mann verloren“.


Stalin vor der Verbannung

Es war auch ein schwerer Tag für Lidia Platonowna Pereprygina, die zu der Zeit unweit von Amalia Alexandrowna wohnte, in der Proletarskaja-Straße. Für die Einwohner von Kureika und Igarka war es kein Geheimnis, dass sie den Sohn großgezogen hatte, der von Josef Dschugaschwili gezeugt worden war, - Aleksander Dawydow (seinen Nachnamen hatte Lidia Platonownas Ehemann ihm gegeben). L.P. Pereprygina hatte ihre Verbindung mit dem verbannten Stalin in Kureika nie zur Schau gestellt, aber sie schämte sich dessen auch nicht. An dem Tag, als Josef Dschugaschwili starb, weinte sie bitterlich.

Doch dieser Märztag brachte manch einem auch unverhohlene Freude. Nicht alle, die aus politischen Motiven heraus unschuldig zu leiden hatten und ihre Strafe in Gefängnissen und Lagern verbüßten, hatten die Kraft der Überzeugung und den Glauben daran verloren, dass irgendwann die Ze8it des Gerichts über den Tyrannen kommen würde. In dieser Hinsicht ist die Zeugenaussage des ehemaligen politischen Häftlings Aleksander Albertowitsch Snowskij bezeichnend, der im März 1953 gerade 24 Jahre alt war und von denen er 4 bereits in den Lagern von Igarka und Jermakowo verbracht hatte: „Ich gehörte bereits zu denen, die auf der Trasse von Jermakowo, im 31. Lagerpunkt des Bauprojekts N° 503, nicht mehr von Wachen begleitet wurden. Ich erinnere mich, es war ein sonniger Tag, bereits März. Ich befinde mich auf dem Dach der letzten Baracke: hier ist die Lagerzone zu Ende, danach kommt schon die Bahnlinie. Mein Brigadier, der Fuhrmann Aron Nemzow, fliegt auf dem Schlitten an mir vorbei und ruft mir zu: „Sanka, der Schnauzbart ist verreckt!“ Was da im Lager los war! Die einen schreien „Hurra!“, andere werfen ihren Hut in die Luft. In der Lagerzone wurde es still, Aufseher und Lagerleitung liefen wie verloren umher.

Es ist bekannt, dass ab diesem Augenblick im Lande alles nach einen anderen, „nichtstalinistischen“ Szenario ablief. Man hört einfach auf, die Bahnlinie Salechard – Igarka (eben dieses Objekt N° 503) weiter zu bauen, und im Oktober 1953 wurde sie komplett stillgelegt. Somit wurde sie nie fertiggestellt. Die Arbeit von zehntausenden Gefangenen wurde nicht mehr benötigt und geriet in Vergessenheit. Dasselbe Los des vergessen Werdens ereilte auch eine weitere „Schöpfung“ des Stalinismus – das Stalin-Museum in Kureika.

Die Geschichte seiner Entstehung und Zerstörung ist ebenso interessant und bezeichnend, wie die Geschichte des Baus der Eisenbahnlinie. Doch wenn über letztere nicht wenig geschrieben wurde (von einem Igarsker Museum allein drei Bücher), so gibt es über das „Pantheon“ nicht so viel. Nichtsdestoweniger macht es gerade in diesem Jahr Sinn, sich an diese Seite der Geschichte zu erinnern – sowohl im Zusammenhang mit dem Jubiläumsjahr von Stalins Tod, als auch im Hinblick auf 75 Jahre seit der Gründung des Museums in Kureika, wo der Führer von 1914-1916 seine Verbannungsstrafe verbüßte.

Am 7. November 1938 wurden die Bauarbeiten in dem Häuschen beendet, in dem Dschugaschwili in Kureika wohnte. Die Geschichte dieses Baus kann man heute nur anhand der Zeitung „Der Bolschewik im Polargebiet“ rekonstruieren, welche in Igarka herausgegeben wurde, sowie aufgrund einer Aktennotiz des Direktors des Häuschens in Kureika – Michail Paramonowitsch Judin, die von L.A. Birjukow im Archiv unserer Zeitung entdeckt wurde. M.P. Judins Bericht war an das W.I.Lenin-Zentral-Museum gerichtet. Als Anlass für die Aufzeichnungen diente nach Meinung des Autors der Tatbestand, dass man in Igarka die politische Bedeutung des Museums-Häuschens unterschätzte. Der Direktor bittet darum,
„dem Zentralkomitee der WKP (B) die Frage vorzulegen, ob Stalins Häuschen in Kureika an das Budget des ZK der WKP (B) übertragen und der unmittelbaren Leitung des W.I. Lenein-Zentralmuseums unterstellt werden kann“.

Für Historiker ist ein derartiges Dokument ein echtes Fundstück. Denn gerade darin ist eine exakte Beschreibung darüber enthalten, wie das Museums-Häuschen arbeitete. Offiziell eröffnet wurde es am 7. November 1938. Bis 1922 befand sich in dem Häuschen ein Laden, später – 1922 bis 1923 – wohnten hier Verbannte. Über einen langen Zeitraum (1925-1934) stand das Häuschen gänzlich leer. Von 1934 bis 1936 waren hier der Kolchos-Vorstand und das rote Eckchen untergebracht.

Versuche, ab dem 7. November 1938 in Stalins Häuschen Museumsaktivitäten zu organisieren, blieben erfolglos. Vom Augenblick der offiziellen Eröffnung bis zum März 1940 lösten sich vier Direktoren ab. Während dieser Zeit fand niemand Zeit und Muße, die genauen Daten der Ankunft Stalins in und seiner Abreise aus Kureika zu ermitteln. Auf der Gedenkplatte wurde beispielsweise vermerkt, dass in diesem Häuschen ab August 1913 Stalin wohnte. Wie M.P. Judin bestätigt, wurden von ihm die genauen Zeiträume festgelegt: Ankunft – 27. März 1914, Abreise – 19. Dezember 1916. Dem neuen Museumsdirektor gelang es, darauf zu bestehen, dass alle Passagierschiffe des Jenisseisker Beckens in Kureika anlegten. Und bereits 1940 besuchten 4698 Menschen das Museum (1939 waren es 732). In dem Bericht stehen auch Bewertungen darüber, in welchem Zustand sich das Häuschen selbst befand – in einem beklagenswerten.

Doch in der Nachkriegsperiode nahm das Museum eine ganz andere Entwicklung.

Wenn in den dreißiger Jahren der Versuch unternommenen wurde, das Gedenkhaus „zum Schutz vor dem Verfall in ein hölzernes Futteral“ zu stecken (aus diesem „Etui“ erwuchs sogar eine zweite Etage, wodurch sich dieser Bau vor dem Hintergrund er Kureisker Holzhütten stark hervorhob), so entstand in den vierziger Jahren ein grandioses Projekt – ein neuer Museumspavillon. Die Arbeiten wurden im Sommer 1943 begonnen, die Bauarbeiter waren Häftlinge (ungefähr 200 Mann). Der Krasnojarsker Architektur-Professor, A.W. Slabucha, ist wohl der einzige Autor, der uns ganz detailliert, unter Verwendung von Archiv-Daten, die wahrheitsgetreue Geschichte darüber erzählt, wie es tatsächlich war. Im Winter 1944-1945 wurde ein nichtöffentlicher Wettbewerb für ein Skizzen-Projekt des Stalin- Museumshäuschens in Kureika durchgeführt. 30 Projekte wurden vorgestellt, und es nahmen sogar Häftlinge daran teil. Als bestes wurde das Projekt des in einem freien Arbeitsverhältnis stehenden S.K. Chorunschij angesehen.

1949 wurde der Beschluss verabschiedet, mit dem Bau des Museumspavillons zu beginnen. Und wieder wurde eine Partie Gefangener nach Kureika geschickt. Es waren erfahrene Bauarbeiter, und bereits 1952 beendeten sie ihre Arbeiten. Grundlage des Baus war ein Metall-Skelett, es blieb sogar erhalten, nachdem das ganze Gebäude abgebrannt war. An den Ecken sieht man auch noch Überreste von Ziegelsteinen. Doch das wichtigste Baumaterial ist trotz allem – Holz. Die Wände sind aus dicken Lärchenholz-Platten, im Fundament befinden sich 200 Pfähle aus Lärchenholz. Die hohen Fenster-Öffnungen nehmen einen großen Teil des Gebäudes ein; daher schienen immer die Sonnenstrahlen in den Raum hinein. Wie A.W. Slabucha anmerkt, wurden zum Bauen für die damalige Zeit äußerst fortschrittliche Technologien und Materialien verwendet: Grundlage des Fundaments – eine einheitliche Schicht aus Eisenbeton sowie Belüftungsschächte für die Schaffung eines Schutzsystems vor dem ewigen Frost. Die Fenster bestanden aus drei Schichten Glas; dazwischen zirkulierte erwärmte Luft, so dass sie sich nicht mit Eis überzogen. Im Großen und Ganzen verstand sich das Gebäude als riesiger durchgehender Bogen (Eingangs- und gegenüberliegende Wand waren gleich). Daher entstand auch die Analogie zu den römischen Triumphbögen, die zu Ehren der Imperatoren oder Staatsmänner errichtet wurden. Es ist nicht verwunderlich, dass gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts der Begriff „Stalin-Pantheon“ gebräuchlich wurde. Außerdem entstand der Mythus, dass es aus Marmor erbaut worden war, ebenso wie die auf einem Beton-Fundament errichtete zehn Meter hohe Skulptur (in Wirklichkeit war sie aus Gips; im Dezember 1961 wurde sie auf Beschluss des Büros des Stadtkomitees der Partei in Igarka niedergerissen und die Trümmerbrocken im Jenissei versenkt). Den imposanten Eindruck verlieh dem Gebäude die geschickte Vollendung. Die Wände waren so verputzt worden, dass sie wie roter Granit aussahen… In Kureika versank damals nur das „Pantheon“ in einer Flut luxuriöser Beleuchtung – dafür war extra ein spezielles Kraftwerk gebaut worden.

In dem Museum stand eine kleine Kate; an einem Tag mit schönem Wetter leuchtete die Sonne ihre Silhouette aus, und natürlich sah dieses „Haus-im Haus“ ungewöhnlich aus. Im Dezember 1961 wurde das Häuschen, wie auch die Staue, abgerissen. Von dem Augenblick an hörte das Museum endgültig auf zu existieren. Wenngleich bekannt ist, dass der Besuch des Museums auf ausdrücklichen „Befehl“ bereits 1953 eingestellt wurde. Denn damit die Leute dorthin kamen, war es unumgänglich, dass dort Schiffe festmachen konnten und mein das Verlassen des Schiffes vernünftig organisierte. Eine andere Möglichkeit Besucher an diesen Ort zu schaffen, gab es einfach nicht. Und jegliche Versuche, einen Zugang von Touristen hierher zu organisieren, stoßen sogar in unserer Zeit auf das Problem des Transports. Auf der anderen Seite bestätigen Augenzeugen – ehemalige politische Häftlinge –dass nicht nur im Sommer 1953, sondern auch 1954 und 1955, als sie schon nicht mehr im Lager, sondern angesiedelt waren, sie sich öfters einen Spaziergang gönnten und von Jermakowo eine Exkursion nach Kureika unternahmen. Damit aber noch nicht genug – fast alle Freigelassenen besuchten vor ihrer Abreise auch das „Pantheon“, und natürlich nicht mit einem Gefühl der Ehrfurcht, sondern mit einem ganz anderen: sie kamen dorthin, um sich den Ort anzusehen, an dem einst der ihnen so verhasste „Schnauzbart“ seine Verbannungszeit verbüßt und wohin er auch sie verbannt hatte.

In den 1990er Jahren bot das „Pantheon“ schon einen besonders bedauernswerten Anblick. Zerbrochene Fensterscheiben, abgeblätterter Putz, zerlegtes Parkett… Die Wände von freiwilligen Besuchern vollgeschrieben. Einer beklagt sich: „Mit seinem Namen sind wir gestorben…“. andere verhängen das Urteil: „Eine Lehre für den Tyrann“. Vor dem zerstörten „Pantheon“ sieht der Sockel, auf dem die Figur des Führers stand, aus, als ob er in den Boden hineingewachsen wäre. Die Blumenbeete sind verschwunden. Und nur die kanadischen Tannen, die eigens hierher gebracht wurden, haben sich für lange Zeit hier niedergelassen und sind längst über das „Pantheon“ hinaus gewachsen. Ihre dunklen Äste schufen um das Museum einen unheilverkündenden Vorhang. Einen besonders bedrückenden, schwer lastenden Eindruck bekam man, wenn man das „Pantheon“ aus der Ferne sah, vom Jenissei aus. Selbst bei schönem Wetter sah die Silhouette des dunklen Gebäudes, umgeben von dem blassen nordischen Grün der Bäume, - ziemlich exotisch aus für ein an den Ufern des Jenissei errichtetes Bauwerk.

1993 führte unser Museum eine Expedition in den Bezirk des „Pantheons“ durch. Buchstäblich zwei Jahre später begriffen wir, wie rechtzeitig diese Fahrt stattgefunden hatte. Die Überreste des „Pantheons“ waren von irgendjemandem niedergebrannt worden. Man konnte unterschiedliche Versionen hören, doch keine von ihnen erklärt die Barbarei und Grausamkeit gegenüber denjenigen, welche das Gebäude errichteten. Der Wandalismus triumphierte: die Geschichte oder die Persönlichkeit oder die Einstellung der Zeitgenossen ihr gegenüber gefällt nicht – also bedeutet das, sie müssen der Vernichtung anheimfallen. Das Resultat ließ nicht lange auf sich warten – die erfundene Geschichte vom „Pantheon“ verbreitete sich. Sogar in den Lehrbüchern für Geschichte schrieben sie über die Marmor- (oder auch Bronze-) Statue und jene Treppe, die vom Ufer zum Museum hinaufführte. Es gab Gerede, dass Interessenten die Statue vom Grund des Jenissei heben wollten.

Und zu Beginn des neuen Jahrhunderts gab es sogar Versuche, die Arbeit des Stalin-Museums in Kureika wieder aufzunehmen, daneben eine Lokomotive auf der nicht fertig gestellten Bahnstrecke aufzustellen. Im Jahre 2006 fand sich ein Unternehmer, der beschloss eine Reiseroute für Touristen ins „Stalinland“ zu organisieren; er bestellte eine Skulptur des Führers und versuchte sie aufzustellen. Doch der gesunde Menschenverstand gewann die Oberhand, und die zweifelhaften Projekte lösten sich in Nichts auf. Die Skulptur wurde noch am selben Tag, an dem man sie aufgestellt hatte, wieder entfernt. So wurde das Standbild des Führers erneut am Ort seiner Verbannung niedergerissen. So erreichte Stalins Ruhm in Sibirien auch nicht seinen Höhepunkt. Alles geschah irgendwie nicht „bis zu Ende“, ohne besonderes Zittern und Enthusiasmus. Für das Museum tat es ihnen nur um das Geld leid: es war aus Holz, alles übrige – Imitate. Die Eisenbahnlinie wurde in einzelnen Abschnitten gebaut, und sie blieb sie auch sofort nach dem 5. März 1953 einsam und verlassen zurück, und vermodert bis heute inmitten der überfluteten Flächen und Sümpfe mit ihren gruseligen Dekorationen. Nur die Leben, die sie mit sich davon trug, waren keine Attrappen, sie waren echt.

Ich hatte viele Male die Gelegenheit, mich in Kureika und an den Objekten der ehemaligen Todesstrecke aufzuhalten. Es gibt kein Bedauern darüber, dass die Erinnerung an die schreckliche Erscheinung – den Stalinismus – nicht verewigt wurde. Es gibt kein professionelles Bedauern darüber, dass das Stalin-Museum nicht erhalten geblieben ist. Ich habe immer das Gefühl, dass die Gestalt des Führers im eigenen Schatten in unseren sibirischen Träumen aufging. Wenn ich durch die verlassene Siedlung Jermakowo streife, aus der von Barbaren nicht nur die Lokomotiven fortgeschafft wurden, sondern auch sämtliche Anlagen und Einrichtungen (für manch einen ist das eben nur „Metall-Schrott“), fühle ich einfach physisch die Anwesenheit von Menschen. Sie schauen aus den wegen der wild wuchernden Bäume eingestürzten Gebäuden heraus, die inzwischen auch die Friedhöfe vollständig verdeckt haben.

Und immer noch verlässt mich die hoffnungslose Bitterkeit nicht, für die es keine Erklärung gibt – die Bitterkeit von der menschlichen Gleichgültigkeit gegenüber dem, was mit den Menschen geschah, die das Stalin-Museum und die Bahnlinie bauten, und gegenüber der Tatsache, dass die Erinnerung an die hier unschuldig Leidenden und Umgekommenen bis heute nicht verewigt wurde. Mitunter keimt der Gedanke darüber auf, dass in jedem von uns nach wie vor die Angst vor einem neuen Tyrannen sitzt, wir sind gegenwärtig noch nicht frei davon, egal, wieviel wir darüber auch reden mögen…

Es macht keine Sinn, im trüben Wasser zu fischen. Genauso verhält es sich auch mit unserer Geschichte: wie sehr die Anhänger des Stalinismus sich auch bemühen, das Ideal in ihrer Führergestalt zu sehen, als erstes kommt trotzdem die Tragik der Epoche heraus, die unbegründete Grausamkeit und der Massenterror gegen das eigene Volk. Das Problem liegt allein darin, dass der Tyrann kein Titan ist; er hat all das nicht allein zustande gebracht, und all seine Helfershelfer (es sind Millionen) haben das Böse ebenfalls nicht aus aufrichtigen ideologischen Impulsen heraus gesät. Unsere Elter, selbst diejenigen, die Stalin nicht bedauern, können (und konnten) ihn niemals aus ihrem Leben streichen, denn er – ist einfach auch ein großer Teil ihres eigenen Lebens. Und wir, „die Aufgeklärten und Fortschrittlichen“, die Stalin weder angenommenen, noch geleugnet haben – was haben wir unseren Kindern gegeben, und was werden wir unseren Enkeln bringen? Wem, welchen Göttern werden wir jetzt Pantheons bauen?

Maria Mischetschkina
Direktorin des Museums des ewigen Forsts
Igarka

„Neue Zeitung“, 06.03.2013


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