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Stalins Enkelkinder

Die Woche begann mit einem heftigen Schneesturm und endete mit frühlingshaftem Tauwetter. Und genau das ist die Bedeutung des jäh wechselnden Kontinentalklimas!

Es scheint, als ob erst gestern der Schneesturm alle Straßen und Wege zugeweht hätte, und heute scheint klar und hell die Sonne, und die Bären im „Rojew Rutschej“-Park erwachten aus ihrem Winterschlaf und auch das sibirische Volk fasste wieder Mut, blühte auf und bereitet sich nun auf neue Arbeitsheldentaten vor. So verbrachten beispielsweise mein Nachbar und ich eine Nacht auf dem Balkon, schauten durch das Fernglas einen über der Erde vorüberfliegenden Kometen an … Das heißt – es war irgendwie so, als ob wir Wachdienst hätten, auf unserem Posten ständen und in Ruhe unsere Landsleute und die Erdbewohner überhaupt bewachten. Zum Glück ist er davon gekommen – der Komet flog vorüber!

Was war noch interessant gewesen? Das gesamte Lateinamerika beweinte den dahingeschiedenen Führer Venezuelas, Hugo Chavez, die Kardinäle im Vatikan wählten einen neuen römischen Papst, australische Wissenschaftler verkündeten, dass sie bereit wären einen neuen Wunder-Grippeimpfstoff zu entwickeln … Na ja, und bei uns, in Russland? „Da klauen sie“, - kann man ganz kühn mit den Worten Nikolaj Karamsins antworten. “Sie haben die Angst vollkommen verloren!“ – kommentiert meine betagte Schwiegermutter die Situation mit begeistert und zugleich ein wenig erschrocken – meine Schwiegermutter, die nicht einmal mit dem Fernglas den Kometen hätte sehen können, aber unser Erdenleben, das sieht sie auch ohne Brille, ohne dabei auch nur einen Schritt aus dem Haus zu gehen.

Aber hier braucht man sich auch gar nicht erst nach draußen zu begeben – es reicht vollkommen aus, den Fernseher einzuschalten und die Zeitung durchzublättern, um sich davon zu überzeugen, dass Karamsin und meine Schwiegermutter absolut recht haben. Sie klauen – und wie! Hunderttausende und Millionen gestohlene Rubel beeindrucken schon niemanden mehr; inzwischen kann man uns höchstens noch mit Milliardensummen beeindrucken. Bei diesen Jungs, so scheint es, findet ein kapitalistischer Wettbewerb statt – wer am meisten zusammenklaut. Die Diebesbande aus dem Verteidigungsministerium gibt den Akteuren der kommunalen Wohnungspolitik ein Beispiel, an denen sich wiederum die Sachkundigen aus dem Gesundheitsministerium messen, und dort stehen auch andere Stachanow-Arbeiter auf diesem Gebiet in nichts zurück.

Nun,. Und auch wir in Krasnojarsk haben hier unsere Bestarbeiter im kapitalistischen Wettkampf. Die Einen treiben unermüdlich die Preise für Benzin in die Höhe (wobei sie gleichzeitig dessen Qualität verschlechtern), andere bereichern sich an armen Mamas, indem sie ihr Vorrücken in der Warteschlange auf den Erhalt eines Kindergartenplatzes „beschleunigen“, und Dritte wiederum füttern uns mit minderwertigen Lebensmitteln. Wie sich diese Woche herausstellte, entsprechen sechzig Prozent aller Würste, gefüllter Teigtaschen und anderer Fleischwaren, die in Krasnojarsk verkauft werden, nicht den erforderlichen Standards. Noch ist nicht der Skandal um das regionale Krankenhaus zur Ruhe gekommen, wo die Konsumgüter-Aufsicht nicht nur die gerade erst renovierte Poliklinik geschlossen hat, in der bereits kurz nach Abschluss der Arbeiten eine fünffache Erhöhung von Schadstoff-Zusammensetzungen in den Bau- und Besatzmaterialien aufgedeckt wurde. Mit den Ermittlungen in dieser Sache, bei der es um die Summe von einer halben Million Rubel geht, befasst sich jetzt das Untersuchungskomitee der Russischen Föderation in der Region Krasnojarsk.

Der totale und unaufhaltsame Hang zum Diebstahl tritt auch bei einfachen Wesen. Gewöhnlichen Bürgern in Erscheinung. So wurde dieser Tage ein flinker Krasnojarsker festgenommen, der über einen längeren Zeitraum immer wieder Cognac in Supermärkten gestohlen hatte. Er schlug den Rekord in dieser Art von Kriminaldelikten – es war bereits das fünfzehnte Mal, dass man ihn verhaftete!

Was soll man tun und wer ist schuld? Ist ein demokratischer Staat wirklich machtlos im Kampf gegen die Korruption? Und wo ist die bürgerliche Gesellschaft, über die so viel geredet und geschrieben wird? Und wieso hüllt sich die Gesellschaft, genau wie zu Puschkins Zeiten, in Schweigen und muckt nicht auf? Und haben wirklich diejenigen recht, die finster vom neuen Stalin träumen und davon überzeugt sind, dass nur ein Diktator im Land wieder Ordnung herbeiführen kann? Wenn sie Recht haben, dann schäme ich mich für uns alle. Denn viele, sehr viele träumen heute von einer starken Hand!

Wenn ich mir die heutige Wiederbelebung des Stalin-Kults und all diese Nostalgie für die ruhmreiche Vergangenheit anschaue, dann erinnere ich mich daran, dass es in meiner Kindheit eine ziemlich populäre Radiosendung gab – „Stalins Enkelkinder“. Sechzig Jahre sind seit dem Tod Josif Wissarionowitschs vergangen, und doch ist er auch heute noch für viele der Lebendigste aller Lebendigen. In unserer Zeitung erschien kürzlich ein Artikel mit dem Titel „Für Stalin, für die Heimat!“ Ich stelle mir vor, welche Empfindungen wohl die Kinder der Repressionsopfer, von denen es in unserer Region nicht wenige gibt, gehabt haben mögen, als sie diesen Artikel lasen….

Wir sind alle Stalins Enkel, allzu ausgelassen in der Freiheit ohne strenge Aufsicht. Linke und Rechte, Liberale und Patrioten, und sogar diejenigen, die überhaupt nicht über Politik nachdenken. So hat uns das System, die Epoche, das Land erzogen. Und es gibt hier absolut nichts, auf das man stolz sein könnte. Wie unser Landsmann Viktor Petrowitsch Astafjew über seine Generation (in einem Brief an Wjatscheslaw Kondratew) schrieb: „Wir alle, all unsere Gene, Knöchelchen, unser Blut, sogar unsere Sch … wurden genährt von der Zeit und der Luft genährt, die Stalin geschaffen hat….“ Und kann muss man sich mit Erstaunen vergewissern, dass nicht nur alte Menschen, sondern auch Jugendliche für die Stalin-Nostalgie anfällig sind. Vielleicht liegt es daran, dass die Menschen einfach nur vor Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Ordnung vergehen?

Wäre Sergej Michalkow am Leben, dessen 100. Geburtstag man diese Woche feierte, hätte er ganz bestimmt ein Gedicht über Onkel Stjopa verfasst – den Kämpfer gegen die Korruption. Er reagierte immer auf das Böse des Tages, und sowohl Stalin als auch Putin schätzten ihn.

Diejenigen, die am Ruder stehen, halten die Nase in den Wind. Auf der offiziellen Seite der herrschenden Partei „Vereintes Russland“ erschien sogar ein sehr ehrenvoller Text von Andrej Isajew, gewidmet dem 60. Todestag des Führers, in dem die Rede vom „folgerichtigen Staatsmann“ ist, der „einen mächtigen ökonomischen Ruck“ vollzogen hat usw. Ganz nebenbei werden auch die „blutigen Repressionen“ erwähnt. Da kann man mal sehen, mit welcher Korrektheit und Feinfühligkeit sie danach streben, gleichzeitig Stalin und auch den Opfern des Stalinismus genehm zu sein.

Auch im Schriftsteller-Milieu gibt es nicht wenige offenkundige und geheime Anhänger des „großen Managers“. Unlängst veröffentlichte der junge, populäre Prosaiker Sachar Prilepin einen provozierenden und im Wesen antisemitischen „Brief an Stalin“, angeblich von einem Liberalen geschrieben, und danach rechtfertigte er sich: dann hätten sie ihn wohl nicht richtig verstanden. Natürlich sei Stalin ein blutiger Tyrann, aber schließlich auch ein großartiger Heerführer, oder etwa nicht? Eine merkwürdige Logik. Dschingiskan, Tamerlan, Napoleon – waren auch alles große Heerführer, aber behüte uns Gott vor solchen Führern …

Übrigens gab und gibt es in Russland auch andere Schriftsteller. In dieser Woche verstarb Boris Wasiljew, Autor der Romane „Die Sonnenaufgänge sind hier leise …“, „Nichts stand in den Listen“ und anderen bemerkenswerten Werken über den Großen Vaterländischen Krieg. Als ehemaliger Frontsoldat war Wasiljew der Meinung, dass eine Idealisierung des Krieges unmoralisch sei und dass man den Sieg über den Faschismus niemals zur Rechtfertigung des Stalinismus benutzen dürfe. In einem der letzten Interviews sagte er folgendes: „Wir haben mehr als anderen im Krieg verloren. Stalin ließ am Vorabend des Krieges, verdammt nochmal, alle talentierten Menschen erschießen. Und häufig waren es Hauptmänner, welche die Divisionen kommandierten. Daher solche Verluste“.

Ein halbes Jahrhundert zuvor veröffentlichte Jewgenij Jewtuschenko das Gedicht „Stalins Erben“, das auch heute noch nicht an Aktualität verloren hat. Und schon zu unserer Zeit schreibt Aleksander Gorodnizkij darüber, dass „der Stalin-Mythos wie Hefe aufgeht“. Und wieder die Erinnerung an den Brief Astafjews an Wjatscheslaw Kondratew: „Wir sind auch heute noch in vielerlei Hinsicht seine Kinder, obwohl man sich sogar sich selber gegenüber schämen muss dies einzugestehen. Gott sei Dank, dass wir schon keine Angst mehr haben, sondern uns nur noch schämen“.

Oh je, wenn Viktor Petrowitsch in unser heutiges Internet schauen würde – da würde er sehen, um wie viele Menschen sich die Zahl der jungen Neo-Stalinisten vermehrt hat. Sie rügen sogar Prilepin wegen seiner überflüssigen Nachgiebigkeit und Feinfühligkeit. Die ruhmreiche Saat wächst kämpfend heran. Sie schämen sich schon vor nichts mehr und fürchten sich auch nicht. Sie knurren und beißen, die Stalinschen Wolfswelpen. Das heißt, endlich – ich wollte sagen – Enkelkinder.

… Und mit der Korruption muss man wohl doch irgendwie auch ohne Stalin fertig werden. Das ist natürlich schwierig. So gut wie unmöglich … Aber es muss sein!

Eduard Rusakow
„Krasnojarsker Arbeiter“, 16.03.2013


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