Aleksej Andrejewitsch Babij ist Vorstandsmitglied der Russischen Internationalen Gesellschaft „Memorial“ und Vorsitzender der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation. Die Gesellschaft richtet ihre Arbeit auf drei Bereiche aus – die Arbeit mit Repressionsopfern und ihren Angehörigen, Aktivitäten zur geschichtlichen Aufklärung, Verewigung des Gedenkens an die Opfer politischer Verfolgungen.
Am Vorabend des 25-jährigen Bestehens der krasnojarsker „Memorial“-Organisation baten wir Aleksej Andrejewitsch, uns über sich, aber auch über die besonderen Aufgabenbereiche seiner öffentlichen Organisation in der Region Sibirien zu erzählen.
Aleksej Babij. Das Foto wurde uns von A.Babij
zur Verfügung gestellt.
- Wie sind Sie zum krasnojarsker „Memorial“ gekommen?
A.B: Völlig unerwartet. Es fing damit an, dass mich Wolodja Birger zur Unterschriftensammlung für ein Denkmal für die Opfer politischer Repressionen in Moskau heranzog.
Damals wurden im ganzen Land Unterschriften gesammelt, und Gedenk-Organisationen (darunter auch unsere) entstanden ganz von selbst aus solchen „Unterschriften“-Aktivisten. Ich hatte seit den Sowjetzeiten keine Art von Organisationen gemocht. Gott sei Dank war ich nie in der Partei und trat aus dem Komsomol aus, als ich 20 war. Aber die Idee einer Organisation zur Rekonstruktion des Schicksals verfolgter Menschen gefiel mir. Ich begab mich zu Wolodja Sirotinin. Irina Poluschkina war auch mit dabei. Zu dritt versammelten wir uns bei Sirotinin – Wolodja Birger, Irina und ich. Sirotinin wurde Vorsitzender, und das blieb er bis 2003.
Wir begannen sogleich mit der Arbeit – beschafften Lochkarten und fingen an, darauf die Namen uns bekannter Repressionsopfer zu schreiben, wobei wir auf diese Weise den Grundstein für unser Archiv legten. Das war am 9. März 1988. Die Unmenge an Daten, die heute auf der Webseite von „Memorial“ zu sehen sind, ist aus eben diesem Lochkarten-Archiv entstanden. Beide Wolodjas – Birger und Sirotinin – leisteten eine gigantische Arbeit. Bereits seit vielen Jahren durchforsten und digitalisieren wir ihre Archive, und es ist noch kein Ende abzusehen. Und das war nicht nur Forschungsarbeit: Wolodja Birger ist es zu verdanken, dass tausende (und das ist tatsächlich so!) Repressionsopfer ihre Rehabilitationsbescheinigung erhielten – er half ihnen dabei, die notwendigen Dokumente zusammen zu bekommen, Nachforschungsanträge ans Gericht zu schreiben usw.
Wladimir Sirotinin.
Das Foto wurde uns von A. Babij zur Verfügung gestellt.
- Wann erhielt die Organisation juristischen Status?
A.B.: Die Satzung verabschiedeten wir am 23. Mai 1991, im Jahr des Niedergangs der UdSSR. Aber registriert haben sie uns erst 1995! Mit unserer Arbeit haben wir bereits 1988 begonnen – am 9. März vor 25 Jahren. Deswegen gilt für uns auch der 9. März als Gründungstag unserer Organisation.
- Womit haben die Memorial-Mitglieder damals ihr Geld verdient, wovon haben sie ihre Familien ernährt?
A.B.: Rentner unter den aktiven Memorial-Mitgliedern gab es damals noch nicht. Heute sind fast alle in Rente, und auch ich werde in einem Jahr dazu gehören. Mit den Angelegenheiten von „Memorial“ haben wir uns ohne Loslösung von unserer eigentlichen beruflichen Tätigkeit beschäftigt – abends und an freien Tagen. Ich trat 1988 einer Kooperative bei, und in dieser Kooperative gab es genügend Geld, um Memorial zu unterstützen. Das waren goldene Zeiten für die unternehmungslustigen Leute. Die Kooperative, an deren Organisierung ich ganz besonders aktiv mitwirkte, befasste sich mit der Ausbildung zur Arbeit am Computer.
Heute gibt es die Kooperative schon nicht mehr. An ihrer Stelle entstand, nach einer Reihe von Veränderungen, eine hinreichend stabile Firma. Daher war die finanzielle Unterstützung der Aktivitäten von „Memorial“ stets realisierbar. Beispielsweise haben ich und eine andere Mitarbeiterin, Marina Paramej, 1990 zusammengelegt und vollständig eine Expedition, bestehend aus 10 Personen, zur Laptew-See, in die Bucht von Nordwik bezahlt, um vor Ort Informationen über die dort zur Stalin-Zeit befindlichen nördlichen Lager zu sammeln.
Finanzen entscheiden vieles – aber nicht alles. In zahlreichen Städten Russlands stellte die Finanzierung von Gedenk-Organisationen immer ein äußerst großes Problem dar. Bei uns wurden die laufenden Kosten (Räumlichkeiten, Internet, Bürobedarf u.a.) auf Kosten der Firma gedeckt; um Stipendium bemühten wir uns nur bei ganz konkreten Projekten – zum Beispiel bei der Herausgabe des Buches der Erinnerung. Die Ausgabe kann Dank er vollständigen Finanzierung durch die Regionsverwaltung verwirklicht werden. Aus eigener Kraft hätten wir es nicht geschafft, das Buch der Erinnerung aus dem Nichts herbeizuziehen – 700,000 Rubel sind dafür jedes Jahr nötig. Dank einer derartigen Unterstützung wurden, beginnend mit dem Jahr 2003, bereits 11 Bände des Buches der Erinnerung herausgebracht.
Welche Projekte gibt es noch?
A.B.: Zurückgegebene Namen – das ist die einzige Datenbank aller Repressionsopfer der Sowjetunion. Die wichtigste Koordinierungsorganisation ist das Nischnetagiler Pädagogische Institut. Wir haben die koordinierende Rolle im Rahmen der Gewährleistung einer Programmierung des Projekts auf uns genommen, aber auch die Zusammenarbeit beim Sammeln von Informationen im Bereich Sibirien und Fernost.
Dafür braucht man natürlich eine große Menge Geld, aber auch politischen Willen, aber das ist bereits eine andere Frage. Ich erwähne auch das Wettbewerbsprojekt „Der Mensch in der Geschichte. Russland – 20. Jahrhundert“. Es wird von der internationalen „Memorial“-Gesellschaft durchgeführt. Wir treten als Koordinatoren für die Region Krasnojarsk und Chakassien in Erscheinung. Das Projekt wird von den Moskauern finanziert, die lediglich den Koordinatoren in den Regionen ein Gehalt zahlen. Insgesamt sind wir 17 Leute, von denen 6 Invaliden sind und praktisch das Haus nicht verlassen, nur vier sind noch nicht im Rentenalter – ich gehöre auch dazu. Mit der Zeit schrumpfen wir immer mehr, nur die Arbeit wird nicht weniger. Daher muss man die Richtungen auswählen, die ohne uns niemand einschlagen würde.
- Wie ist die Arbeit der Internationalen „Memorial“-Gesellschaft aufgebaut? Wie ist das Krasnojarsker „Memorial“ in ihre Aktivitäten eingebunden? Gibt es ein gemeinsames Konzept?
A.B.: Ja, ein gemeinsames Rahmenkonzept. Aber das Krasnojarsker „Memorial“ ist eine absolut selbständige juristische Person; wir sind einer der Begründer der Internationalen „Memorial“-Gesellschaft. Deswegen kann es prinzipiell keine vom Zentrum ausgehenden Direktiven geben. Das Zentrum erfüllt eine koordinierende Funktion. Außerdem kann es sich Programme ausdenken und dafür nach Finanzierungsmöglichkeiten suchen.
Das heißt, Aufgabe der Dachorganisation „Memorial“ ist das Organisieren von Netzwerk-Projekten zu unserer Thematik, welche dann die Arbeit der regionalen Filialen aktivieren; sie organisieren ihre Tätigkeiten in eine bestimmte Richtung und helfen gelegentlich auch bei der Finanzierung. Aber niemand kann das Krasnojarkser „Memorial“ zwingen irgendetwas zu tun. Doch wenn wir etwas tun, das dem Geist von „Memorial“ widerspricht, dann wird man uns aus der Internationalen Gesellschaft ausschließen, deren allgemeinen Prinzipien und Strategien in ihrer Satzung vorgeschrieben sind.
- Ich hatte eine Begegnung mit dem Vorsitzenden des Tomsker „Memorial“ Wasilij Chanewitsch und war auch in dessen Museum der Repressionsopfer, das in den ehemaligen Kerkerräumen des NKWD eingerichtet wurde. Der Besuch eines derartigen Museums hinterlässt natürlich keine Gleichgültigkeit. Welche Besonderheiten in den Aktivitäten des Krasnojarsker „Memorial“ unterscheiden es von anderen regionalen Filialen?
A.B.: Bei aller Gemeinsamkeit der Ziele und Aufgaben sind die regionalen „Memorials“ doch sehr unterschiedlich. Die Einen haben sich eher auf das Eine versteift, die anderen können etwas anderes besser. Unser Trumpf ist, dass wir die Informationstechnologie nutzen. In diesem Punkt kommen die anderen nicht mehr mit. Aber dafür haben die Tomsker in hervorragender Weise die Museumsarbeit organisiert. Wir sind aus eigener Kraft nicht in der Lage unser eigenes Museum zu schaffen.
Allerdings ist es uns gelungen, eine Kooperation mit dem Krasnojarsker Museumszentrum zustande zu bringen; wir führen seit vielen Jahren themenbezogene Ausstellungen. So gab es beispielsweise 2011 die Ausstellung „Politische Verfolgte Stolbysten“. Denn der Geist der Freunde des Krasnojarsker Nationalparks Stolby war äußerst freiheitsliebend, wodurch auch die besonderen Grenzen der Stolbysten-Repressionen definiert wurden, welche ein großartiges Beispiel an Mut und Standhaftigkeit offenbarten. Sehr interessant war auch die Ausstellung „Retuschierte Fotografien“, wo man beobachten konnte, wie Menschen plötzlich von Fotos verschwanden – je nach dem, ob man sie als Volksfeinde eingestuft hatte oder nicht. Viele äußerst interessante Ausstellungen hat es schon gegeben, und über jede von ihnen könnte man stundenlang erzählen.
Wenn wir die ersten Ausstellungen im Krasnojarsker Museumszentrum noch ganz allein bewerkstelligten, so sind die uns zur Seite stehenden Museumsmitarbeiter inzwischen von der Thematik so durchdrungen, dass wir nur noch in minimaler Weise mitwirken müssen. Die letzte Ausstellung unter der Überschrift „Das Sich-nicht-wiedersetzen“ wurde von ihnen völlig selbständig vorbereitet. Der Designer Marjasow dachte sich etwas ganz Geniales aus, was meine volle Unterstützung fand, denn es entsprach genau den historischen Realien. Er verwirklichte die Inszenierung einer Erschießung, wobei Menschen sich entkleideten, aber das war so meisterlich arrangiert, überhaupt nicht vulgär, sondern zutiefst tragisch. Sogleich wird man an den Film „Der Tschekist“ erinnert, in dem es dem Regisseur ebenfalls gelang, den Grad der historischen Wahrheit und Ethik aufrecht zu erhalten. Übrigens zogen sich auch Faschisten vor der Erschießung aus. Hier verbirgt sich eine gewisse Psychologie der Unterdrückung des Menschen, seines Willens. Für den Nackten ist es schwieriger Widerstand zu leisten.
- Von wo können die Aktivitäten des „Memorial“ noch Unterstützung erhalten?
A.B.: Vor allem von Seiten des Bildungssystems, wenn das bereits erwähnte Projekt „Der Mensch in der Geschichte. Russland – 20. Jahrhundert“ verwirklicht wird. Aber je weiter es hier voran geht, umso mehr Probleme entstehen. Das Bildungsprogramm an sich ist träge, außerdem schlägt hier die Parteipolitik zur anderen Seite um. Infolgedessen beginnt die Schulleitung sogar die Durchführung unseres Wettbewerbs abzulehnen: es gibt bereits Fälle, in denen man den Lehrkräften verbietet daran teilzunehmen, weil das angeblich kein patriotisches Verhalten sei. Die Schüler, so sagen sie, sollen doch lieber über den Zweiten Weltkrieg schreiben.
- Wieso ist das denn nicht patriotisch? Das verstehe ich nicht.
Na wie denn auch! „Patriotismus ist die Liebe zur Heimat, die mit Siegesfarben ausgemalt wird, und Sie blättern hier ständig ihre schwarzen Seiten auf“, - meinen sie.
- Kommen denn jetzt in der Schule solche Tendenzen auf?
A.B.: Ja, die Lehrkräfte berichten, dass man Druck auf sie ausübt. Es kommt vor, dass die Arbeit eines Schülers zu unserem Thema in der Schule überhaupt nicht hervorgehoben wird, während sie von uns mit einem Preis ausgezeichnet wird. Auch in der Bildung gibt es unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichem Niveau. Aber im Großen und Ganzen gilt es den Widerstand des Bildungssystems zu bewältigen.
Man braucht nicht weit zu gehen: einer unserer Memorialer begab sich vor eineinhalb Jahren in die städtische Verwaltung für Bildung, um dort die Erlaubnis zur Durchführung einer Diskussion zum Thema Toleranz an den Schulen einzuholen. Man fing an, ihn an den Schulen zurückzuweisen – man sagte ihm: Tschetschenien, nationale Fragen, das seien zu heikle Themen. Jetzt werden ihm praktisch alle Diskussionsmöglichkeiten verwehrt, obgleich er früher ungefähr zwei Lektionen pro Tag abhielt.
Das Material, über das er verfügt ist wohlgeordnet. Zuerst gestaltet er eine Einleitung in das Problem, in dem er fragt: „Welche Wörter verbindet ihr mit Tschetschenen, welche mit Russen?“ Als Ergebnis erscheinen zur Erörterung und Widerlegung einige Mythen: auf der einen Seite die Worte „Terrorismus“, „Extremismus“ usw., auf der anderen werden ausschließlich positive Begriffe angeführt.
Eine sehr nützliche Mission erfüllte ein Mann, der zudem sehr gut die Sitten und Gebräuche im Kaukasus kannte und auch am tschetschenischen Krieg teilgenommen hatte. Ich bin mit ihm in dem Punkt solidarisch, dass der nächste Totalitarismus in Russland sich nicht al sozial, sondern rassistisch erweisen wird. Es muss unbedingt alles, was nur irgend möglich ist, getan werden, um ihn aufzuhalten. Und unsere Memorialer haben bis zu einem bestimmten Zeitpunkt alles getan, was sie nur konnten – sie gingen in die Schulen, versuchten zu überzeugen, dass wir doch alle Menschen sind und wir den Feind nicht dort sehen müssen, wo es ihn überhaupt nicht gibt.
So also sieht die Situation im Bereich der Bildung aus. Wenngleich trotzdem die Hoffnung bleibt, dass man irgendwann einmal nicht mehr den Widerstand überwinden muss.
- Kommen wir auf Ihr Jubiläumsdatum zurück. Was machte vor 25 Jahren die wichtigste Arbeit von „Memorial“ aus? Wie hat sich seitdem die Hauptrichtung innerhalb der Arbeit verändert?
A.B.: Damals zog die Tätigkeit von „Memorial“ die Aufmerksamkeit einer Unmenge Leute auf sich. Die Redaktion der Zeitschrift „Krasnojarsker Komsomolze“ stellte uns einen Raum zur Verfügung, damit wir einen Abend in der Woche dort Sprechstunden abhalten konnten. Die Schriftsteller-Vereinigung stellte uns ebenfalls die Möglichkeit in Aussicht, in ihren Räumen unsere Versammlungen stattfinden zu lassen.
Eine „Memorial“-Versammlung in der damaligen Zeit – das ist ein ganz besonderes Thema für eine Unterhaltung. Das Eine ist, wenn wir Sprechstunden abhalten, wie ich es bis heute jede Woche mache, das Andere ist – die Versammlung. Damals waren wir Leute wie Sand am Meer. Schließlich war „Memorial“ zu dem Zeitpunkt praktisch die einzige, sagen wir – nichtsowjetische, nichtstaatliche Organisation. Alternative Parteien gab es damals nicht, deswegen kamen die Leute zu uns. Man muss allerdings sagen, dass nur wenige irgendeine Arbeit leisteten. Gemeint ist das Sammeln von Material über die politischen Verfolgungen, dessen Aufarbeitung. So, wie sich damals einige wenige damit befassten, verhält es sich auch heute. In dieser Hinsicht hat sich nichts geändert.
- In der damaligen Zeit waren Personal-Computer noch nicht so weit verbreitet. Sie sprachen davon, dass Sie Eintragungen auf Lochkarten vorgenommen haben. Was für Einträge waren das? Womit haben Sie angefangen?
A.B: Zuerst haben wir damit begonnen, offene Informationen zu bearbeiten, Leute zu befragen und eine Liste der Repressionsopfer zu erstellen. Alles, was wir von den Menschen in Erfahrung brachten, notierten wir auf diesen Lochkarten. Wir fingen an Zeitungsausschnitte und Dokumente zu sammeln, Repressionsopfer zu befragen. Nach 1992 öffneten die Behörden-Archive und unsere Leute begaben sich dorthin, als ob sie zur Arbeit gingen. Gott sei Dank, dass damals manch einer ins Rentenalter kam und den ganten Arbeitstag lang im Archiv sitzen konnte.
Infolgedessen entstand nach und nach ein ordentlicher Haufen gewöhnlicher Schreibhefte, der dann auch die Grundlage für unser Martyrolog (Opferliste) bildete, das auf unserer Internetseite ausgestellt ist. Seine Ergänzung wird ununterbrochen fortgesetzt. Inzwischen sind wir bis zu den Erschießungslisten vorgedrungen. Bei NKWD gab es solche Erschießungslisten, mit allen Unterschriften, in denen es jede Menge Angaben gibt – wer, wo, wann. Jetzt werden diese Listen in den Computer eingepflegt und ins Internet gestellt.
Noch etwas sehr wichtiges war die Richtung unserer Arbeit. Vor gut zwanzig Jahren gab es noch sehr viele lebende GULAG-Häftlinge. Gegenwärtig gibt es praktisch keine noch lebenden GULAG-Insassen mehr. Heute kann man bestenfalls die Kinder von Sondersiedlern befragen, die sich kaum an irgendetwas erinnern. Aber vor 20 Jahren existierten viele noch, sie erzählten, und wir schrieben alles nieder. Inzwischen sind viele dieser Erzählungen auf unserer Webseite in der Rubrik „Zeugenberichte“ ausgestellt.
Manch einer zeichnete seine Erinnerung selbständig auf, auch sie haben wir gesammelt und in eine geordnete Form gebracht. Vieles von dem, was damals getan wurde, geschieht auch heute noch. Nur ist die ganze Arbeit mit der Zeit immer mehr digitalisiert worden. Besonders von dem Moment an, als wir 1998 unsere Webseite einrichteten. Sie entstand mit dem Ziel, die geleistete Arbeit einem breiten Publikum von Internet-Nutzern vorzustellen, damit das Material auch arbeiten konnte. Daher sind die Aktivitäten von „Memorial“ seit 1998 auf unserer Internetseite festgehalten. Unter anderem veröffentlichen wir dort auch die Arbeiten von Schülern.
Wolodja Birger. Foto zur Verfügung gestellt von A. Babij
- Veröffentlichen Sie alles, was Sie erarbeiten?
A.B.: Früher haben wir alles veröffentlicht. Aber je weiter es geht, desto rasanter sinkt die Qualität der Arbeiten. Heute müssen wir uns für viele Arbeiten einfach nur schämen. Viele reichen vom Bereich des direkten Plagiats bis zu äußerst schlampig dahingeworfenen Wortanhäufungen. Die Güte der Arbeiten hat extrem nachgelassen. Ich denke, das sind die unmittelbaren Folgen, dessen, was innerhalb unserer Bildung geschieht. Nach der Statistik sind unter den dutzenden von Materialien auf der Webseite immer 3-4 Arbeiten von Schülern täglich, die wir als lesenswert absehen können. So gibt es also einen gewissen Nutzen aus den Wettbewerbsarbeiten.
- Wie viele Besucher hat die Seite? Und welcher Anteil entfällt auf ausländische Besucher?
A.B.: Der Durchschnitt liegt bei 2500 Besuchern am Tag. Insgesamt sind es 4000-5000. Der Anteil ausländischer Besucher nimmt ab, allerdings zugunsten des russischen Besuchersegments. Und 1998, 1999 und 2000 stammten mehr als die Hälfte aller Besucher aus dem Ausland. Jetzt entspricht dieser Anteil ungefähr 30 Prozent.
- Welche Motive hatten diejenigen, die in den vergangenen Jahren die Seite besuchten?
A.B: Wenn man anhand der Briefe urteilt, dann suchen die Menschen ihre Wurzeln: „Ich habe hier meinen Großvater oder Urgroßvater gefunden, welche Informationen kann man über ihn noch in Erfahrung bringen?“ Übrigens geht uns heute ein Großteil der Informationen in digitalisierter Form zu.
- Welche Besonderheiten in der regionalen „Memorial“-Arbeit gibt es außerdem, in welchem Zusammenhang stehen sie mit den Besonderheiten der politischen Verfolgungen in unserer Region Sibirien. Also, Sie haben gesagt, dass Sie sich derzeit mit der Erforschung der Kulaken-Enteignungen beschäftigen.
A.B.: Wenn man von Repressionen spricht, dann meint man für gewöhnlich Erschießungen oder Lagerhaft. Obwohl in Wirklichkeit die Sonderansiedlung eine zahlenmäßig erheblich größere Erscheinung war. Dabei handelte es sich um enteignete Bauern, deportierte Bewohner aus den baltischen Ländern, Deutsche, Finnen, Griechen, Kalmücken. Viele kann man da aufzählen. Dazu kommen die befristete und die unbefristete Verbannung sowie die Verbannung nach der Lagerhaft. Die Region Krasnojarsk befindet sich in dieser Hinsicht unter den drei Führenden der UdSSR. Es ist nicht nur eine Region der Lager, sondern auch eine Region der Verbannten, in der es besonders viele Sonderumsiedler gab.
In diesem Zusammenhang möchte ich einige Zahlen anmerken, die kaum bekannt und auch nur wenig verständlich sind. 1991 tauchte das Gesetz der Russischen Föderation „Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen“ auf. Das Gesetz fing 1992 real an zu greifen. Laut Gesetz oblag es dem MWD sich mit der Rehabilitierung der Sonderumsiedler zu befassen. Doch bis zu dem Zeitpunkt waren Sonderumsiedler als Repressionsopfer überhaupt nicht anerkannt.
In den zwanzig Jahren ihrer Arbeit hat unser Krasnojarsker Filiale Sonderfonds der GUWD (Staatliche Verwaltung für innere Angelegenheiten; Anm. d. Übers.) etwa ein halbe Million Rehabilitationsbescheinigungen ausgegeben. Dabei erhielten nur die Leute so ein Dokument, die, erstens, noch am Leben waren und von ihrem Status wussten, zweitens, um eine Bescheinigung ersucht hatten und, drittens, über die man auch alle notwendigen Unterlagen gefunden hatte! Viele Dokumente sind verloren gegangen. So hat man beispielsweise von den enteigneten Bauern, die in den Sonderumsiedler-Status gerieten, 1959 alle Melde-Unterlagen vernichtet – und zwar nicht einmal aus böser Absicht, sondern weil die Aufbewahrungsfrist abgelaufen war. Schließlich hat damals doch niemand daran gedacht, dass die Rehabilitierung dieser Leute irgendwann einmal möglich sein würde. Daher spiegelt die riesige Anzahl - nämlich eine halbe Million – derer, die eine Rehabilitationsbescheinigung erhalten haben, lediglich einen unbedeutenden Teil der Gesamtzahl derer wider, die damals zu leiden hatten. Stellen Sie sich eine Bauernfamilie vor, die vollständig ausgeplündert und an einen anderen Ort gebracht wurde. Nehmen wir an, dass bis zum Jahr 2000 eines der Kinder dieser Familie, die damals vielleicht aus 10 Personen bestand, noch am Leben ist. Dann kann dieses überlebende Kind nur die Rehabilitationsbescheinigung für sich selber und für ein oder beide Elternteile erhalten, nicht jedoch für die anderen Familien-Mitglieder.
- Warum nicht?
A.B.: Weil sie, in der Regel, nur für sich selber die Bescheinigung beantragt haben. Inzwischen hat man schon damit begonnen, Rehabilitationsbescheinigungen für die ganze Familie auszustellen, wenn eine Auflistung aller Personen vorliegt, aber jetzt ist der Strom der Menschen, die wegen einer solchen Bescheinigung kommen, praktisch versiegt. Vor zwanzig Jahren erst kam das Gesetz heraus, in dem Vergünstigungen vereinbart wurden. Infolgedessen wollte damals auch eine enorme Anzahl Menschen gleichzeitig Rehabilitationsbescheinigungen haben.
Die Frauen in den Abteilungen für Sonderfonds arbeiteten ohne freie Tage und gaben 100 Bescheinigungen pro Tag aus! Dabei hatten sie noch nicht einmal eine Schreibmaschine zur Verfügung, sondern schrieben alles mit der Hand. Laut Gesetz hätten sie jede Anfrage innerhalb eines Monats bearbeiten sollen; daher gab man die Bescheinigungen auch nur an diejenigen heraus, die einen Antrag gestellt hatten. Jeweils eine separate Bescheinigung für jedes einzelne Familienmitglied ausstellen – das war einfach realitätsfremd.
Expedition ins Kraslag. Im Vordergrund Sirotinin, hinter ihm – Birger. Das
Foto wurde von A. Babij zur Verfügung gestellt
- Wie viele Sondersiedler gab es in der Region Krasnojarsk?
A.B.: Natürlich waren es nicht 500.000, sondern erheblich mehr. In drei bis vier Jahren, wenn wir das Buch der Erinnerung an die Entkulakisierung vervollständigt haben werden, womit wir uns bereits im dritten Jahr beschäftigen, werden wir ein deutlicheres Bild vor Augen haben. Es gab erheblich mehr Sonderumsiedler in der Region, als Leute, die nach §58 einsaßen, obwohl es auch von den letzteren jede Menge gab. Auch wenn man hier einige Legenden aus dem Weg räumen muss.
Bei uns im Internet und in Fernseh-Diskussionen schwirren nicht selten Millionen-Ziffern herum: „Millionen Menschen haben das Kolyma-Gebiet durchlaufen“. Es hat sich im Kopf des Spießbürgers festgesetzt, dass, wenn nicht Millionen Menschen politisch verfolgt worden wären, man die Repressionen mit irgendetwas hätte rechtfertigen können. Es ist unabdingbar, eine objektive Vorstellung von den Repressionen, von ihrem systematischen Charakter, wie ihn beispielsweise Schalamow enthüllt hat, unter anderem auch von der Anzahl der Repressionsopfer. Durch die Lager an der Kolyma gingen alles in allem in den 1930er bis 1950er Jahren 800.000 Häftlinge – Kriminelle, politische Gefangene und „Alltagsgauner“.
Ein anderes Beispiel – das Norillag: zusammen mit Vertretern des GUWD haben wir die Kartothek des Norillag erfasst und eine Datenbase geschaffen. Während des Arbeitsprozesses kristallisierte sich die Anzahl der Gefangenen des Norillag heraus. Auf dem Kärtchen ist die Nummer der Personenakte des Häftlings ausgewiesen. So sind wir nicht ein einziges Mal einer Akten-Nummer begegnet, welche die Zahl 300.000 überschritten hätte. Das bedeutet, dass nicht mehr als 300.000 Gefangene das Norillag durchliefen, und schon gar nicht 500.000 – und erst recht nicht eine Million, wie man gelegentlich in der Lokalpresse lesen konnte.
Man kann auch sagen, dass etwa 35-40% der Menschen eine Haftstrafe nach §58 verbüßten, 35-40% machten Alltagskriminelle und nach einem Ukas Verurteilte aus. als o solche, die aufgrund des „3-Ähren“-Ukas, wegen Zuspätkommens zur Arbeit, wegen Veruntreuung von Staatsbesitz usw. zu leiden hatten sowie ungefähr 20% Diebe, Gewalttäter, Mörder etc. Konkret ergibt sich für das Norillag genau so ein Bild, zu anderen Lagern möchte ich mich nicht äußern. Und so kam es, dass im Norillag ungefähr 100.000 politische Gefangene einsaßen (aber die Rehabilitierten muss man davon noch abziehen).
Aber ich wiederhole noch einmal: für mich ist das Studium objektiver Informationen als Ganzes wichtig, damit man die Gründe für die Verfolgungen versteht und ein vielschichtiges Bild der Tragödie des Volkes entsteht, wo der Faktor der Anzahl der Leidtragenden nicht das Wesentliche darstellt. Ebenso verhält es sich auch mit den Entkulakisierten. Die Zahl der enteigneten Bauern am Schluss der Erforschung dieser stattgefundenen Repressionen wird sich nicht auf 20.000 belaufen, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach 1050 Familien, was nichts am allgemeinen Verständnis der negativen Mechanismen dieses Repressionssystems ändert, welches in den Jahren der Stalin-Herrschaft in Betrieb war. Überall lässt sich, wenn du die Dokumente und Zeugenberichte studierst, ein- und derselbe Enteignungsmechanismus beobachten. Sie haben alle ausgeraubt, die auch nur die kleinste gesunde Hofwirtschaft besaßen, weil von oben hohe Limits vorgeschrieben waren.
Vertrieben wurden diejenigen, die normal arbeiten konnten. Gerade damals wurde der Grundstein für die tiefste Krise der Landwirtschaft gelegt, die sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Für viele, viele Jahre ist die positive Einstellung zur Arbeit bei den Menschen, und nicht nur bei den Bauern, „abgetötet“ worden. Ich leite seit vielen Jahren eine Firma. Und es gab immer das Problem guter Mitarbeiter zu finden, besonders Manager. Es gibt sie ganz einfach nicht. Es gibt auch nur wenige Ausführende, ganz zu schweigen von Mitarbeitern, die in der Lage sind, Initiative zu ergreifen. Im Bewusstsein der Menschen ist die vom Sowjetsystem geschaffene Einstellung zur Arbeit tief verwurzelt: „Ich tu so, als ob ich arbeite, und Sie tun so, als ob Sie mir meinen Lohn zahlen“.
Für diese sowjetische Tufta (Fälschung von Zahlen und Statistiken, um auf dem Papier das Plansoll zu erreichen; Normbetrug; Anm. d. Übers.) wurde der Grundstein gerade in den stalinistischen Jahren, beginnend mit dem Bau des Weißmeer-Kanals, gelegt, und sie blüht bis heute. Die Leute sahen – wer gut arbeitet, den enteignen sie, und die Aktivsten, das Salz russischen Bodens, vernichten sie ganz einfach. Viele Jahre wurden mit ganz 7unterschiedlichen Mitteln sowohl Initiativgeist als auch Unternehmerlust mit den Füßen zerstampft. Infolgedessen wird sich, so lange die neue Generation noch nicht herangewachsen ist, ein starkes Defizit am aktiven, passionierten Teil der Gesellschaft bemerkbar machen.
Expedition 1990 ins Polargebiet, nach Nordwik, um Überreste der nördlichen
Lager zu suchen. Das Foto wurde von A. Babij zur Verfügung gestellt.
- Die Region Sibirien – ist eine Ort der Verbannungen. Und wohin hat man diejenigen umgsiedelt, die unmittelbar in Sibirien enteignet wurden?
A.B.: Unsere sibirischen Bauern-Sondersiedler konnten laut internen Befehlen nicht in dem gleichen Bezirk bleiben, wo sie enteignet worden waren. Aus dem westlichen Teil der Region Krasnojarsk, wie beispielsweise den Bezirken Atschinsk, Nasarowo, Biriljussy, schickte man die Bauern in das heutige Gebiet Tomsk. Aus dem Uschursker Bezirk wurden praktisch alle nach Chakassien verschickt.
Und aus Chakassien – ins Gebiet Tomsk. Aus den südlichen und zentralen Bezirken – dem Kuraginsker, Idrinsker, Jermakowsker, Minusinsker Rayon – vertrieben sie die Leute hauptsächlich in den Artjomowsker Bezirk, zu den Goldminen. Aus den östlichen Territorien – dem Sajansker Bezirk, damals Atschinsker Bezirk, dem Nischneingaschsker Bezirk und anderen, welche zu der damaligen Zeit die Region Ost-Sibirien ausmachten, siedelte man die Bauern in das heutige Gebiet Irkustk, die Baikal-Region oder den Keschemsker und Bogutschansker Bezirk um. Die Umsiedler-Ströme aus den Bezirken Keschma und Bogutschany kamen einander nicht selten entgegen. Das heißt – die Behörden versuchten die Verluste beim Transport zu minimieren.
- Wo wurden die Sonderumsiedler beschäftigt?
A.B.: Hauptsächlich in der Holzbeschaffung, beim Bau, in Schachtanlagen und Erzgruben. Man kann viele Orte mit schwierigsten Produktionsbedingungen aufzählen – das Saralinsker Bergwerk in Chakassien, Igarka, Norilsk.
- Was können Sie über die Widerstandsbewegung der Bauernenteignung sagen?
A.B.: Widerstände gab es natürlich, und das ist auch vollkommen erklärlich und natürlich. Anfangs traten sie noch nicht offen zutage. Um o mehr, als auch die Behörden mit großer List vorgingen und nicht alle auf einmal festnahmen und abtransportierten. Zunächst einmal wurden ihnen individuelle Steuern auferlegt und man entzog ihnen das Recht zu wählen und gewählt zu werden. Natürlich fingen die Bauern an Briefe zu schreiben, dass man sie mit unrichtigen Individualsteuern belegt und ihnen Rechte entzogen hätte. Aber wer schrieb? Die Mehrheit der Bauern waren Analphabeten, und so schrieben ihre wenigen Vertreter, die wenigstens halbwegs schreibkundig waren.
Und so schrieben diese wenigen Lese- und Rechtschreib-Kundigen im Namen konkreter Personen an die Wahlkommission, das Exekutiv-Komitee, an den Genossen Kalinin usw. Und im Allgemeinen gelang es als Ergebnis dieser Beschwerden gelegentlich eine gewisse Gerechtigkeit zu erlangen, den einen oder anderen Behörden-Beschluss für ungültig zu erklären – man bekam seine Rechte, den konfiszierten Besitz zurück und wurde wieder von der Einzelsteuer befreit. Was hatte sich die Staatsmacht da ausgedacht? Die Behörden waren der Meinung, dass diejenigen, die eine Beschwerden verfassten, sich im Untergrund mit Rechtsanwaltstätigkeiten beschäftigten, und so wurden sie mit einer Individualsteuer, ausgehend von einem Jahreseinkommen in Höhe von 750 Rubel, belegt. Zum Vergleich – wenn sie den Besitz einer so genannten Kulaken-Familie konfiszierten, inklusive Haus und Hofgebäude, so konnte man nach deren Verkauf 500 oder 1000 Rubel aushändigen.
Wenn also diese „Untergrund-Advokaten“ ihre Steuern nicht zahlten, wurde ihr gesamter Besitz als Steuerersatz konfisziert. So nahm man auch den Lese- und Rechtschreibkundigen die Lust anderen behilflich zu sein und sich, um es mit heutigem Wortschatz auszudrücken, mit Menschenrechtsaktivitäten zu befassen. Dementsprechend auch der Mythos darüber, dass die Entkulakisierung ein Ausrücken der armen Bauernschaft gegen die wohlhabenden Bauern war. Tatsächlich wählten die Behörden speziell aus der verarmten Bauernschaft einige Aktivisten aus, die dann auch später das Schicksal des Dorfes lenkten – sie entzogen Wahlrechte und bezeichneten verschiedene Hofwirtschaften als Kulaken-Höfe.
Die sogenannte Öffentlichkeit oder auch Bauerngemeinde besaß damals noch den
Status eines Trägers der Volkswillensäußerung in den dörflichen Gegenden. Im
Namen der Gemeinde konnten damals Gutachten und Bittgesuche zum Schutz der
Enteigneten geschrieben werden.
Derartige Schreiben wurden von anderen Dorfbewohnern unterschrieben und besaß
damals Rechtsgültigkeit. Dabei war die Verfahrensweise so: es unterschrieben
jeweils – ein armer Bauer und ein Mittelbauer. Sogar Analphabeten konnten das
jeweilige Schriftstück unterzeichnen. Manchmal kam es vor, dass die Leute den
konfiszierten Besitz zurück erhielten; es gab sogar Fälle, in denen Die Familien
aus der Verbannung zurückkehrten. Allerdings geschah das nur sehr selten. In der
Regel wurde der den Behörden angenehme Beschluss nicht geändert.
- Wer traf die Entscheidung? Waren es diese wenigen Schützlinge aus den Reihen der armen Bauernschaft?
A.B.: Ja. Später wurde natürlich seitens der Bezirksverwaltung, des Bezirksexekutivkomitees die Wahl der Vertreter in den ländlichen Gebieten bestätigt. Diese Bestätigungen erfolgten formell – man achtete einfach darauf, ob es genügend Dokumente gab – und das war’s. Um einen Menschen enteignen zu können, war eine Bescheinigung erforderlich, die besagte, dass er irgendeinen Knecht oder Landarbeiter bei sich beschäftigt hatte.
Es reichte aus, wenn irgendjemand in schriftlicher Form bekräftigte: „Hiermit bestätige ich, dass ich bei Soundso Knechte gesehen habe“. In den Dörfern tauchten Leute auf, die ähnliche Bescheinigungen gleichzeitig über viele Personen ausstellten. Lag eine solche Bescheinigung nicht vor und der Enteignete reichte Beschwerde ein, dann verlangten damals die Bezirksbehörden die entsprechenden Dokumente fertigzustellen. Es gab ein Bauernkontingent, gegenüber denen die Behörden eine Richtlinie herausgaben, nach der man diese Leute nicht anzurühren hatte. Das waren diejenigen, die im Bürgerkrieg auf Seiten der Roten Armee mitgemacht hatten. Doch auch sie wurden nicht selten enteignet – schließlich musste man ja das Plansoll erfüllen!
- Wie war es möglich, dass die Behörden das beschriebene System überhaupt errichten konnten? Das ist ja nicht an einem Tag getan. Vermutlich muss man erst Leute suchen, die solche Bescheinigungen ausstellen, zumindest ein paar ausfindig machen, die entschlossen waren, das Schicksal der anderen Dorfbewohner in die Hand zu nehmen…
A.B.: Die Sache ist sehr einfach. Man zog dazu Faulenzer, Drückeberger, Nichtstuer heran, die nicht arbeiten wollten und von Arbeit auch nichts verstanden, wofür man sie im Dorf zutiefst verachtete. Stellen Sie sich vor, wie es ist, wenn man einer solchen Person plötzlich die Möglichkeit anbietet, die Geschicke der anderen in die Hand zu nehmen, es denjenigen heimzuzahlen, von denen sie ausgelacht und verachtet wurden. Die Dorfmitbewohner begriffen nicht gleich, wie groß die Macht solcher Abtrünnigen war, die infolgedessen in großem Umfang die Konfiszierung von Besitz und die Umsiedlung ganzer Familien sicherstellten.
Konnte dem einen normalen Menschen, dem Oberhaupt einer gesunden Bauernwirtschaft, der einen Haufen Kinder und vielleicht auch Enkel besaß, der Gedanke in den Kopf kommen, dass irgendein im Dorf nicht geachteter Nachbar anfangen könnte, gegen ihn so etwas in Gang zu setzen? Aber diese Nichtgeachtete stellte ein Papierchen aus, aufgrund dessen dann ein Familienhaupt seinen gesamten Besitz verlor und mit seinen Mitbewohnern an die Angara geschickt wurde. In der ersten Zeit war das für die Leute völlig undenkbar.
- Welche Formen des Widerstands gab es noch außer dem, sagen wir, „weichen“ Widerstand der Beschwerdebriefe und Briefe an die Behörden?
A.B.: Als man damit begann, die Bauern zu verhaften, besonders im Jahr 1930, kam es zu härteren Maßnahmen des Widerstands. Die Behörden gingen folgendermaßen vor: sie verhafteten in der Regel das Familienoberhaupt; während dieses im Kerker saß, wurde die Familie enteignet. Andernfalls hätte es ja auch zum Gewehr greifen können. All das war in den Instruktionen festgeschrieben. Und nachdem sie dann der Familie alles weggenommen und verladen hatten, zum Beispiel auf einen Zug, gesellte sich auch das Familienoberhaupt wieder zu ihnen.
- Wohin kam denn eigentlich das ganze beschlagnahmte Eigentum?
A.B.: Es ging an die Kolchose. Kleinigkeiten wurden von den Bewohnern geraubt, aber das Haus, die Anbauten, Wirtschaftsgebäude sowie das Vieh gingen in den Besitz der Kolchose über. So kam es, dass die Bauern anfingen zu fliehen. Sowohl Familienoberhäupter als auch vollständige Familien ergriffen die Flucht. Sie flüchteten an Orte, in denen man sie nicht kannte, oder zu Verwandten in einem benachbarten Bezirk. Wenn sie wegliefen, bevor sie enteignet wurden, so machte das häufig Sinn. Aber wenn sie flohen, als sie bereits Sondersiedler waren, dann verfuhr man mit ihnen äußerst streng, und es war sehr schwierig, sich den Kontrollorganen zu entziehen. Als die Enteignung der Großbauern in den 1930er Jahren Massen-Charakter annahm, holten die Menschen ihre Gewehre hervor. Die deutlichste Geschichte bei uns steht im Zusammenhang mit den Tasejewsker Partisanen, die zu Koltschaks Zeiten ein großes Territorium zurück gewannen, und dort gab es keine Weißen (die sogenannte Tajewsker Republik).
Als die Macht der Bolschewiken Gestalt annahm, stiegen viele von ihnen zu ziemlich hohen Posten auf – Buda, Jakowlew usw. Jakowlew war eine Zeit lang Volkskommissar für Landwirtschaft. 1930 also entstand die Tajewsker Republik neu. Und für eine gewisse Zeit gab es im Tajewsker Bezirk sowie den angrenzenden Territorien überhaupt keine Sowjetmacht. Später wurden sie sehr lange und grausam niedergeworfen.
Es gab eine ganze Menge Bauernaufstände. Doch der Maßstab dieser Aufstände ist immer noch unzureichend eingeschätzt und auch nicht bekannt. Offiziell bezeichnete man sie als Banden. Aber warum tauchten diese Banden 1930 auf? So lange die Menschen eine Hofwirtschaft hatten, hegten sie die Hoffnung, dass Briefe helfen würden. Aber als sie den Menschen alles wegnahmen, da „trieben sie den Feind in die Enge“ – wie es so schön heißt. Er hat nichts verbrochen, er hat nichts zu verlieren. Und so nimmt er seine Heugabel, sein Gewehr. Deswegen begannen die Aufstände – die Menschen hatten alles verloren. Leider habe ich mich nicht umfassend mit der Thematik der Aufstände befasst.
Sie verlangt ein tiefgründiges Studium. Ich merke nur eines an. Warum habe ich den Tasejewsker Bezirk hervorgehoben? Aufstände in großem Maßstab gab es in verschiedenen Regionen. An den Tasejewsker Bezirk erinnerten sich die Bauern, wie sie als Partisanen kämpften, sie hatten Erfahrung bei der Organisierung militärischen Widerstands, einschließlich der Lieferung von Waffen, Lebensmitteln und Handlungstaktiken.
In den andren Regionen gab es eine ähnlich geartete Erfahrung nicht. Demzufolge vermuten wir, dass sie kamen, um die Vertreter der Macht zu enteignen, wo bei sie sie im Eifer des Gefechts auch töteten. Wohin sollten sie danach gehen? Ein paar Leute taten sich zusammen und wichen in den Wald zurück. Kann sein, dass sie sich irgendwie organisierten und ein paar Abstecher unternahmen. Aber dann kamen sie heraus und ergaben sich, denn lange kannst du nicht im Wald sitzen bleiben; es kommt die Erkenntnis, dass du mit der Peitsche keinen Beilrücken durchschlagen kannst.
Nichtsdestoweniger gab es zahlreiche Ausbrüche des Widerstands, und sie sind mir aus menschlicher Sicht nur allzu verständlich. Ich sitze jetzt beispielsweise in einer Firma, dessen Inhaber ich gemeinsam mit anderen Aktionären bin. Wenn jemand kommt und sie beschlagnahmen will, dann kann ich, obwohl ich Tolstoi-Anhänger und Pazifist bin, doch zum Gewehr greifen. Und dabei geht es gar nicht darum, dass mir der Betrieb sehr viel bedeutet, sondern dass er mich einfach viel Blut und Schweiß gekostet hat – weshalb sollte ich ihn also an einen anderen abgeben?
Für den Hausherrn ist das ganz einfach eine Kränkung und Beleidigung. Die Sache gereicht auch gar nicht zum Vorteil, besonders wenn Nichtstuer daher kommen, die selber nicht in der Lage sind auch nur irgendetwas zu tun. So war es auch bei der Entkulakisierung – man enteignete diejenigen, die früher, anstatt zu arbeiten, maßlos tranken und sich nicht sonderlich abmühten. Ihnen sollte man den Besitz übertragen? Das Motiv für einen Aufstand ist also verständlich, aber die Bauernschaft war zu schwach organisiert.
- Sind Sie auf Zeugnisse gestoßen, die bekunden, dass es innerhalb des GULAG Laboratorien gab, in denen medizinische Versuche an Menschen vorgenommen wurden? Es heißt, dass sie existierten, aber alle Informationen darüber sollen sorgfältig geheim gehalten und „gesäubert“ worden sein.
A.B.: Über solche Einrichtungen in der Region Krasnojarsk ist mir nichts bekannt. Unsere Region war keineswegs eine wissenschaftliche, sondern viel mehr eine industrielle Zone, die das Land mit Holz, Nickel und anderen Bodenschätzen versorgte. Als Ausnahme kann man die 1950er Jahre nennen, als das Land Uran-Vorkommen benötigte, und das Uranmusste dann auch verarbeitet werden. Man hat bei uns entsprechende Nachforschungen angestellt. Es entstand die „Scharaschka“ (geheimes Forschungs- und Entwicklungslabor; Anm. d. Übers.), das sogenannte OTB-1 (technisches Sonderbüro N° 1 – M.K.), die sich an der Stelle befand, wo sich heute die juristische Fakultät der Sibirischen Föderalen Universität befindet – in der Majertschak-Straße 6, genauer gesagt, sie war nahe der Kreuzung Robespierre-Straße gelegen, wo sich in dem heute noch erhaltenen zweistöckigen Gebäude auch die Wissenschaftler aufhielten, für die man dort Räume eingerichtet hatte.
Und in der Pruschinskaja-Straße, wo heute die Sibirische Buntmetall-Fabrik des Norilsker Industrie-Instituts steht, befand sich das Kontor. Auf dem gesamten Territorium dazwischen befanden sich Fabrik, Werkshalle und Laboratorien. Es handelte sich um ein Gefängnis, in dem man extra Geologen, Chemiker und andere Wissenschaftler einsperrte, damit sie sich in erster Linie mit dem Abbau und der Suche nach Uran befassten. In Begleitung von Bewachern reisten die Wissenschaftler aktiv durch Chakassien, die gesamte Krasnojarsker Region, andere Regionen. Von anderen GULAG-Institutionen in der Region Krasnojarsk ist mir nichts bekannt, einschließlich solcher, die auf medizinische Versuche an Menschen spezialisiert gewesen wären.
Tatsächlich sieht es mit der Geschichte der Repressionen, soweit es „heiße“ Fakten betrifft, ziemlich spärlich aus; wir versuchen aber unermüdlich sie aufzudecken. Zum Beispiel die Sache mit den in böser Absicht versenkten, mit Häftlingen beladenen Lastkähnen, die Erschießung von Minderjährigen durch die Bolschewiken. Die noch nicht Volljährigen kamen auch ohne Erschießungen ums Leben; es starben während der Umsiedlung, unter Bedingungen höchster Not, Kälte und Krankheiten, ganze Bauernfamilien aus.
Wozu sollte man da extra einen Lastkahn versenken? Die Barken sanken aufgrund fehlerhafter Schiffsführung. Wozu ein Schiff mit Menschen willentlich versenken, anstatt sie zu erschießen – das war doch damals gar kein Problem. Das Lastschiff selbsthatte doch auch einen gewissen Wert, warum hätte man es so kompliziert machen sollen? Die Gefangenen des Norillag kamen den Staat schon teuer genug zu stehen, zumindest in Bezug auf die Schwierigkeiten bei der Anlieferung der Arbeitskräfte in diese nördliche Region. Im Norillag bangte man nicht um die Häftlinge: dort starben sehr viele Menschen aufgrund der beispiellos schlechten Verpflegung, der ausgesprochen schlechten Arbeitsorganisation und den allgemeinen Bedingungen des Hohen Nordens. Es gab im Norillag Erschießungen, aber keine besonderen Absichten der Vernichtung von Menschen.
- Die schlechte Arbeitsorganisation zu stalinistischen Zeiten lässt sich heute nicht mehr so einfach anzweifeln, im Gegenteil, sie wird heute sogar als Beispiel hingestellt…
A.B.: Eine derartige Misswirtschaft, wie sie zu Stalins Zeiten herrschte, hat es niemals gegeben. Wenn die Leute sagen, dass bei Stalin Ordnung herrschte, dann kann ich nur lachen, denn ringsumher war grauenhaftes Chaos. Wenn du die Erzählungen von Leuten hörst oder ihre Erinnerungen darüber liest, wie irgendwelche technologischen Prozesse realisiert wurden, dann hinterlässt das einen Eindruck „stillen Entsetzens“. Das trifft in vollem Umfang auch auf die Norilsker Industrie zu.
Und nehmen wir einmal die Bahnlinie „Salechard – Igarka“! Anfangs wollte man den Schienenstrang von Salechard bis zum Ob-Busen verlegen. Lager wurden organisiert, man verlegte durch die Tundra eine Strecke bis zum Ob-Busen, und das alles ohne Planung, ohne Projektierung. Und als sie mitten im Bau waren, das stellte sich heraus, dass der Ob-Busen viel zu klein und unbedeutend war – einen Hafen würde man dort niemals bauen. Dann beschloss man, die Strecke nach Igarka voranzutreiben. Das taten sie denn auch; sie fingen an zu bauen – und wieder alles ohne Plan.
- Wie ist Ihre Meinung gegenüber den Argumenten der Stalinisten, dass Dank Stalin die ganze Industrie, die bis heute in Betrieb ist, entstanden ist?
A.B.: Auf diese Weise haben die Kommunisten zuerst alles zerstört und dann versucht mit wilden Methoden fertigzustellen: „Hurra, hurra, vorwärts! Wenn du nicht anpackst, erschießen wir dich!“ Ohne „Tufta“ (Fälschung von Arbeitszahlen und Statistiken; Anm. der Übers.) und Ammoniumnitrat (Sprengstoff; Anm. d. Übers.) hätten sie keine Kanäle gebaut“ usw. Über eben diesen Weißmeer-Kanal, mit dem immer so geprahlt wird, hat irgendein Schlaukopf in den 1980er Jahren eine Dokumentation verfasst und anhand von Rechenschaftsberichten die Menge des ausgehobenen Erdreichs berechnet. Anhand der Zahlen ergab sich, dass man mehrere Weißmeer-Kanäle hätte ausheben können, das heißt – es waren unglaublich viele Kubikmeter hinzugeschrieben worden. Seit langem ist bekannt, dass die Ausnutzung von Zwangsarbeit wenig effektiv ist. Ein unterdrückter Mensch strebt nach Normfälschung. Und dieses System existiert bis heute; all diese hinzugefügten Zahlen dienen nur als „Schmiergeld“. Klar, wenn jemand dir zusätzliche „Häkchen“ verschafft, dann musst du ihn auch mit irgendetwas „schmieren“.
Zweitens – sie haben den Weißmeer-Kanal mit Holz gebaut; drittens – er war extrem flach. Der Weißmeer-Kanal funktioniert praktisch bis heute nicht, nur ganz kleine Schiffe können ihn befahren. Und wohin sind die riesigen Geldmittel geflossen? Wozu hat man so viele Menschenleben zugrunde gerichtet? Wohin der Blick auch fällt, überall das gleiche Bild – mit Schreien, Wehklagen und Repressionen haben sie etwas zur Normfälschung erhoben. Es gibt eine Vielzahl von Beispielen, in denen mit völlig anderen Methoden, ohne Menschenopfer, keinen geringeren, sondern viel bedeutendere Erfolge erzielt wurden.
All das braucht man – nur keine talentierten Leute zugrunde richten. Sie prahlen damit, dass sie eine Rakete in den Kosmos geschossen haben, aber darüber, dass sie Koroljow von der Kolyma weggeschleppt haben, als er seine Grenzen bereits erreicht hatte – darüber reden sie nicht. Noch ein paar Tage und Koroljow wäre gestorben, und auch Gagarin und den Sputnik hätte es dann nicht gegeben. Aber wie viele andere Koroljows sind umgekommen! Langemak, der die „Katjuscha“ erfand, was ist aus ihm geworden? Er wurde 1938 erschossen!
- Heißt das, er hat die “Katjuscha” bereits in den 1930er Jahren erfunden?
A.B.: Ja. Und wenn sie Langemak die Möglichkeit gegeben hätten normal zu arbeiten! Und dem Erfinder des Fernsehers Sworykin! Er war gezwungen die UdSSR verlassen, und das Fernsehen erfand er dann in Amerika – er hätte es auch bei uns tun können. Und Sikorskij, der Begründer des Hubschrauberbaus. Warum verließ er die UdSSR? Weil man ihn nicht arbeiten ließ; er hätte sein Leben gänzlich verlieren können, wenn er nicht ausgereist wäre. Infolgedessen begann der Hubschrauberbau in Amerika und nicht bei uns.
Das sind nur die Beispiele, die man vom Hörensagen kennt. Es gab eine Menge fähiger Leute, die ohne Mützewerfen, Händewinken, Repressionen und anderes ausgekommen wären, um die Produktion zu regeln. Und die Landwirtschaft? Dasselbe. Während der Neuen Ökonomischen Politik gab man den Menschen ein wenig Zeit, so ungefähr bis 1928. Und das Land, das in Ruinen gelegen hatte, als die Hungersnot herrschte, begann innerhalb von zwei-drei Jahren Lebensmittel zu exportieren! Dabei hatten sie vorher, zur Zeit des Kriegskommunismus vor lauter Hunger an Ödemen gelitten.
Man gab ihnen etwas Freiheit, welche von der Bauernschaft sogleich wahrgenommen wurde – sie überschüttete die Ladentische mit Getreide. Kein Erdöl –Getreide war damals der Wichtigste Exportposten. Während der NÖP begannen sich kleine Betriebe rasant zu entwickeln, mit denen sie einem damals die Möglichkeit einer Existenz gaben. Selbst eine derart große Nachsicht gegenüber Menschen mit Initiative stellte die Wirtschaft des Landes besser dar. Hätten sie die Entwicklung der NEP weiter vorangetrieben, dann wäre Russland schnell nach oben gekommen. Ich will gar nicht erst von der Tatsache der völligen Zerstörung der Industrie während der Revolution reden, die sich in gigantischem Tempo entwickelt hatte.
Russland war zu Beginn des letzten Jahrhunderts eines der führenden Industrieländer. Die Kommunisten zerstörten zuerst die Fabriken, vertrieben dann alle Besitzer von Unternehmen, welche diese organisiert hatten und sich auskannten; schließlich vertrieben und vernichteten sie alle anderen Spezialisten und fingen damit an, die Fabriken auszubauen. Das taten sie, und ich wiederhole es noch einmal, mit wilden Methoden; sie rissen die Bauernschaft von ihren Ländereien fort, ruinierten die Landwirtschaft, vernichteten eine Vielzahl von Menschen.
- Es sieht so aus, dass das Land sich ganz anders entwickelt hätte, wenn die Neue Ökonomische Politik nicht wieder aufgehoben worden wäre?
A.B.: Hier gibt es einen prinzipiellen Moment. Die Fortsetzung der NÖP bedeutete das Ende der Macht der Bolschewiken. Weswegen waren die Großbauern Repressionen ausgesetzt? Die Bauern waren doch unabhängige Menschen, denn sie waren in der Lage sich selber zu ernähren. Und landwirtschaftliche Produkte kaufen oder verkaufen, zu welchem Preis verkaufen – das war für den Bauern eine zweitrangige Frage, die nicht mit seinem Überleben zusammenhing. Für die Bolschewiken war die Bauernschaft als Kraft, die sich dem Staat nur wenig unterordnete, nicht tragbar. Unter den Bauern gab es praktisch keine Dissidenten, die Bauern waren einfach selbstzufriedene Menschen. Genauso verhielt es sich auch mit den während der NÖP in Erscheinung tretenden Industriellen. Heute hat er einen Produktionsbetrieb – und morgen fängt er an irgendeine Zeitung zu finanzieren. Und wenn er noch größer wurde, dann würde er womöglich auch noch eine Partei finanzieren.
Irina Moisejewa hält mit Schülerinnen des Pädagogischen College Jenisejsk ein
Interview mit einer einst verfolgten Frau. Das Foto wurde von A. Babij zur
Verfügung gestellt.
Ja, man muss nicht weit ausholen! Die Firma, in der wir uns jetzt befinden, die in den 1990er Jahren aus einer Kooperative entstand, unterstützt schon seit all diesen Jahren die laufende, wichtige Arbeit von „Memorial“. Und wenn wir sowjetische Ingenieure geblieben wären, dann hätten wir jetzt nicht diese Möglichkeit.
- Die Arbeit von „Memorial“ – das ist vor allem die Arbeit mit Archiven, historische Forschungstätigkeit. Aber die Vergangenheit bestimmt die Gegenwart. Deswegen fangen wir wohl oder übel an vom heutigen Tage zu sprechen. Was hat sich im Land im Vergleich zur Stalinzeit geändert? Es ist doch so, dass die während der Stalin-Ära zustande gekommene Psychologie der Menschen sich bis heute erhalten hat… Die heutige Staatsmacht tut einerseits etwas für das Erscheinen von Menschen mit Initiative, denn anders kann das Land nicht überleben. Auf der anderen Seite hat die Staatsmacht Angst für Menschen, die Initiative zeigen, weil sie fürchtet, ihnen damit zu viel Freiheit zu geben.
A.B,: In der Tat, unfreie Leute werden niemals ein freies Land aufbauen. Es handelt sich um ein sehr tiefgründiges Problem. Ernüchternd war es 1994, als, wenn Sie sich erinnern, bei den ersten freien Wahlen die Partei Schirinowskijs siegte. Damals wurde klar, dass es bei uns, selbst wenn es ein hinreichen demokratisches System und freie Wahlen gibt, die Menschen selbst noch gar nicht für diese Freiheit bereit sind, auch nicht zu wirtschaftlicher Freiheit, sehr kompliziert ist, auf eine Entwicklung zu hoffen.
Das Beispiel mit der Kooperative. Als ich anfing sie in den 1990er Jahren zu organisieren, da kannte ich das Milieu am Institut sehr gut, denn ich war selber wissenschaftlicher Mitarbeiter und hielt Vorlesungen. Die Leute der Wissenschaft fühlten sich damals in hinreichendem Maße ungebunden, die meisten strengten sich nicht sonderlich an.
Natürlich gibt es eine Kategorie von Wissenschaftlern, die unabhängig davon schuftet, ob über ihnen jemand mit dem Stock steht oder nicht. Aber insgesamt gesehen war das Lehrer und Institutsmilieu ziemlich frei. Ich sagte zu meinen Bekannten: „Bald kommt der Kapitalismus. Und hier habt dann alle keine Beschäftigung mehr“. Sie winkten alle nur ab. Als der Kapitalismus einsetzte, da hatte ich bereits Erfahrung mit kommerzieller Tätigkeit, eine Firma, Betriebsbesitz, ungeachtet aller Störungen. Daher waren die 1990er Jahre für mich keineswegs unheilvoll.
- Jahre des Werdens, des Entstehens?
A.B.: Das Entstehen vollzog sich bereits 1989-1991. Und in den 1990er Jahren entwickelten wir uns bereits ganz gut. Umso mehr, als wir damals noch keine Konkurrenz hatten. Das heißt in den 1990er Jahren geschah mit mir nicht das, was mit vielen passierte, die zusammen am Institut Tee tranken und anschließend mit großen Augen in der Gegen umherliefen weil sie nicht wussten, was sie machen sollten. Das Institut wurde geschlossen, sie hatten keinen Beruf, den sie ausüben konnten, niemand stellte sie ein. Solche Leute waren dann auch die ersten, die in den vordersten Reihen mit roten Fetzen und der Losung „Gebt uns die UdSSR zurück“ in Erscheinung traten. Sie waren einfach nicht bereit, obwohl sie Zeit gehabt hätten, um sich vorzubereiten.
- Das heißt, sie waren es gewohnt, ohne Anweisungen von oben zu erhalten?
A.B.: Es zeigte sich, dass die Menschen weder auf die Freiheit, noch auf freie Aktivitäten Unternehmertum, Konkurrenzmilieu vorbereitet waren. Sie waren es gewohnt, auf Bissen zu warten, die man ihnen hinwerfen würde. Tritt dies nicht ein, dann fangen sie an sich zu beschweren. Sie erhielten ein paar Krümelchen von oben, vom herrschaftlichen Tisch, beruhigten sich wieder und waren zufrieden. Paternalismus ist in der russischen Gesellschaft stark ausgeprägt. Deswegen bin ich sehr skeptisch, dass bei uns nur politisch etwas entscheiden kann. Stellen wir uns einmal vor, dass die existierende Staatsmacht irgendwohin verschwindet – aber deswegen ändern sich doch die Menschen nicht gleich. Deswegen freue ich mich über die Weißbändler (Teilnehmer einer Protest-Bewegung gegen Putin; Anm. d. Übers.), wenngleich ich mit ihnen nicht in allem übereinstimme, und ich gehe auch nicht gern auf Versammlungen. Die Menschen fangen zumindest ein wenig, wenn auch krumm und schief, an, sich als selbst als selbständige Einheit zu begreifen, ihre innere Freiheit erwacht. Obwohl auch in ihren Köpfen ein Haufen Mythen festsitzt, wodurch sie aus einer Unfreiheit in die nächste geraten. Aber das ist ein anderes Thema. Bei allen Aufwendungen ist der Prozess deswegen gut, weil Menschen eine gewisse Verantwortung auf sich nehmen und anfangen allein Entscheidungen zu treffen. Das ist kein Marsch der Kochtöpfe, bei dem die Frauen daher gingen, auf ihre Kochtöpfe schlugen und schrien „Erhöht unsere Rente“. Es ist etwas ganz anderes. Die Losungen sind anders: „Gebt uns ehrliche Wahlen!“ Obwohl hier sogleich verschiedene Politiker von der Seite kommen und versuchen die Decke über sich zu ziehen, was hinreichend abstoßend wirkt. Wenn man sieht, wie die Staatsmacht diesen Prozessen gegenüber Widerstand leistet, dann wird völlig klar, dass wir in eine Sackgasse gehen, genau dorthin, wo wir vor zwanzig Jahren nur mit Mühe herausgekommen sind. Das ist ganz offensichtlich. Immer wieder werden von den Behörden die alten Methoden benutzt. Und damit meine ich nicht nur Verhaftungen. Einfach das Leben als solches wird zunehmend sowjetischer. Die Beschränkungen, Unterdrückungen, Mechanismen, die der Sowjetmacht zu Eigen waren, kommen wieder.
- Wobei diese Mechanismen zum Gesetz gemacht werden…
A.B.: Ja. Und hier ist eine Tendenz bezeichnend. „Memorial“ befragt, solange es existiert, ständig Opfer der damaligen Repressionen. Anfangs hatten sie Angst etwas zu erzählen. Später, in den 1990er Jahren, war genau das Gegenteil der Fall, so begannen zu reden. Es kam ein Gesetz, sie erhielten Vergünstigungen, am 30. Oktober traten sie vor Schülern auf, zu denen man früher höchstens Veteranen des Zeiten Weltkriegs gelassen hatte. Die Repressionsopfer zeigten sich sogar gekränkt, wenn sie nicht befragt wurden. Und dann, etwa ab 2006, verweigerten die Leute plötzlich derartige Interviews. Mit großer Verwunderung fragten wir uns: „Wie kommt das?“ – Und als Antwort bekamen wir zu hören: „Nachher tun sie mir oder meinen Kindern etwas an…“.
- Das heißt, bis 2006 erzählten die Menschen noch gern über ihr Leben, wie sie Repressionen ausgesetzt waren, und dann bekamen sie es mit der Angst zu tun?
A.B.: Ja, genau so. Repressierte spüren so einen Lufthauch, so einen Wind, welche der Spießbürger nicht sofort wahrnimmt. Sie haben für Abkühlung einen besonderen Geruchssinn, einen unglaublichen feinen Spürsinn. Sie sagen: „ Wir fürchten uns schon ein bisschen, wir brauchen kein Interview, damit bloß nichts herauskommt“. Der erste derartige Fall ereignete sich 2006, und jetzt lehnen mindestens 10 Prozent es ab, aus den genannten Gründen ein Interview zu geben. Das zeugt davon, dass sich die Atmosphäre in der Gesellschaft selbst zur sowjetischen Seite verändert hat. Es begann übrigens schon mit der Hymne. Weiter – mehr. Anstelle der Ideologie der KPdSU – die orthodoxe Kirche, anstelle der KPdSU selbst – das „Vereinte Russland“ usw.
- Welchen Ausweg gibt es aus der entstandenen Situation?
A.B. Es gibt nur einen Ausweg – innerlich frei bleiben, sich als freier Mensch benehmen, auch wenn es nur für einen selber ist. Ich denke übrigens in diesem Zusammenhang immer an Herzen. Er sagt: „Wenn die Menschen anstatt die Welt, sich selber retten, anstatt die Menschheit, sich selber befreien wollten – wie viel könnten sie dann zur Rettung der Welt und Befreiung der Menschheit tun“. Das heißt – Versuche äußerliche Veränderungen zu bewirken, haben wenig Perspektive. Man muss in größtmöglichem Umfang selber frei werden. Für eine derartige Antwort stoße ich regelmäßig auf Unverständnis von Seiten radikal gestimmter Leute: „Warum nimmt „Memorial“ nicht an den Wahlen teil und schiebt seine Leute an die Macht vor“. In unserem „Memorial“ werden es immer weniger Mitglieder, aber die Arbeit nimmt nicht ab. Es bleibt die Aufgabe wenigstens die Dinge zu bearbeiten und in Ordnung zu bringen, die sich angesammelt haben, indem wir sie ins Internet stellen oder ins Archiv geben. Das ist wohl eine nicht gerade ambitionierte Aufgabe im Vergleich zu politischen Streitigkeiten.
- Ich kenne Sie nun schon ziemlich lange. Sie haben es immer vermieden, Äußerungen über ihre politischen Neigungen zu machen oder jedenfalls mit äußerster Vorsicht jemanden unterstützt. Ich erinnere mich da besonders an einen 30. Oktober, den Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen, als sie sehr schroff das Bestreben einer Reihe politischer Bewegungen unterbanden, sich mit der Thematik der stalinistischen Repressionen ein paar politische Dividenden zu verdienen. Was können Sie dazu sagen?
A.B.: „Memorial“ ist eine hinreichend bemerkenswerte Organisation, und viele versuchen sie für ihre Zwecke zu nutzen. Solche Bestrebungen gefallen uns gar nicht. Ich nehme beispielsweise mit Schaudern die sich nähernden Wahlen wahr, denn mit unserer Hilfe fangen sie an, die Kommunisten „anzufeuchten“. Auch wenn das niemand offen ausspricht. Ausgerechnet in dieser Zeit laden sie uns in Fernsehsendungen ein, damit wir von den Verbrechen der Kommunisten erzählen.
Aber ich habe auch die sogenannte Opposition verfolgt. Sie denken wahrscheinlich an den Tag der Erinnerung des Jahres 2007. Sie kamen mit etwa 10 Personen, mit Fahnen der SPS (Union der rechten Kräfte; Anm. d. Übers.) in der Hand, am Tag der Opfer politischer Repressionen zur Gedenkzeremonie, und stellten sich um den Gedenkstein auf, der sich am Krasnojarsker Museumszentrum befindet. Ich sagte ihnen, sie sollten ohne Flaggen hierherkommen, wenn sie an der Gedenkveranstaltung teilnehmen wollten. Obwohl gerade die SPS es war, die – sowohl finanziell, als auch organisatorisch - dabei geholfen hat, diesen Stein aufzustellen – aber es kann nicht sein, dass sie eine Trauerfeier in eine PR-Aktion verwandeln! Ich habe immer zu ihnen gesagt: „Zu jeder anderen Zeit könnt ihr hierherkommen und die Fotos machen, die ihr benötigt“. Fehlt nur noch, dass auch die Kommunisten hier mit ihren Fahnen auftauchen!
- Die Kommunisten haben die Protestbewegung wieder angekurbelt. Wie schon früher rufen sie zum „Wegnehmen und Teilen“ auf. Genau wie früher bringen sie es fertig, wirklich gute junge Leute mit Bereitschaft zur Initiative zu sich heran zu ziehen…
A.B.: Für die Jugendlichen ist das Romantik. Die jungen Leute müssen sich immer quer stellen. Einige junge Stalinisten halten sich für solche, weil man ihnen in der Schule vorgeleiert hat, dass der Kommunismus schlecht sei. Und wenn das so ist, dann muss alles umgekehrt sein. Einmal haben sie in der Schule gesagt, dass Stalin ein Henker wäre, dass er viele Menschen umgebracht habe – und schon befand man, das sei alles erlogen. Wenn man die jungen Menschen aufklärt, wenn man sie sich aufklären lässt, dann werden sie diese Schale sehr bald von sich abwerfen. Das heißt, Stalinismus bedeutet für sie Fronde; sie meinen, dass die heutige Staatsmacht gegen Stalin ist.
Wenn sie begreifen, dass die heutige Staatsmacht ebenfalls Stalinisten sind, dann werden sie meiner Meinung nach ihre Ansicht ändern. Sie nehmen das Leben einfach nur als Jugendliche wahr. Im Hinblick auf die Aufklärbarkeit erzähle ich einen Fall, an den ich mich ziemlich oft erinnere. In der Firma, in der ich arbeite, gab es eine junge Mitarbeiterin namens Lena, die neben der Erledigung ihrer dienstlichen Aufgaben auch noch Material für „Memorial“ digitalisierte. Sie war kein Mitglied von „Memorial“, aber sie war für uns tätig. Ein gutes, herzliches, aufrichtiges Mädchen, absolut unpolitisch. Durch dieses Digitalisieren von Materialien muss Lena dann wohl auch, wohl oder übel, ein bisschen darin gelesen haben. Ich beobachtete, wie man in ihrer Anwesenheit anfing für den Kommunismus zu reden. Die Haare standen ihr zu Berge – und dabei hatte sie doch nur ein paar der Texte durchgelesen.
- Halten Sie nicht die Gegenüberstellung von Kapitalismus und Sozialismus für den nächsten Mythos, zumindest in der heutigen Weltwirtschaftsrealität? Vielleicht gibt es einfach einen normalen, evolutionären, menschlichen Weg der Entwicklung? Wie sieht er im Falle Russlands aus? Als sogenannter kapitalistischer, sozialistischer oder irgendein anderer Weg?
A.B.: Die fortschreitende Entwicklung hängt nicht mit irgendwelchen existierenden Experimenten mit den Gesetzen der Evolution zusammen. Wenn du vor dir eine heiße Herdplatte hast und den dritten Weg suchst, indem du deine Hand auf die heiße Herdplatte legst, verbrennst du dich in jedem Fall und weißt nicht wohin.
Wenn sich vor dir ein Abgrund befindet und du versuchst, ihn mit zwei Sprüngen zu überwinden, dann wird dir das nicht gelingen Weil es Gesetze gibt. Kann sein, dass es Variationen gibt, aber des gibt einen Weg, auf dem die gesamte Menschheit geht. Und auf dem müssen wir voranschreiten. Wir dürfen uns nicht in den Vordergrund drängen, dass wir irgendetwas Besonderes, in irgendeiner speziellen Mission unterwegs sind. Es ist eines der gefährlichsten Mythen zu glauben, dass wir eine besondere Mission hätten und irgendetwas irgendwohin bringen müssten. Sobald wir begreifen, dass unsere Mission eine ganz normale ist, die uns über den menschlichen Weg führt, dann wird sich vielleicht auch etwas zum Besseren wenden.
- Worauf sollten der geistige Nenner gebaut sein, um nicht erneut auf den verlustreichen Weg der Entwicklung zu geraten? Genau wie Sie akzeptiere auch ich den Kommunismus nicht, weil ich ihn als Ideologie der Intoleranz, des Klassenkampfes und der sogenannten Gleichheit verstehe, die von der Position „Ich bin der Zar und Gott auf Erden“ diktiert werden. Von daher kommt das ganze Unglück, das Festhalten der Macht um jeden beliebigen Preis, die Existenz auf Kosten eines momentanen Vorteils. Allerdings darf sich die Entwicklung nicht allein auf die Ablehnung irgendeiner Sache stützen, selbst wenn es sich dabei tatsächlich um etwas sehr Schlechts handelt. Auf was soll sich die Entwicklung also noch stützen?
A.B.: In der Tat ist es nicht die heutige Situation. Viele Jahrhunderte ist sie schon dieselbe, und sie wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Für den Menschen ist doch die wichtigste Frage – wie er sein Leben richtig leben soll. Jeder beliebige Mensch, der anfängt, aus diesem Anlass nachzudenken, kommt unweigerlich auf die eine oder andere Art zur Religion, zu der einen oder anderen. Natürlich denke ich hier nicht an islamischen oder orthodoxen Fundamentalismus. Alle Welt-Religionen sind in ihrer Wurzel gleichartig.
Wenn man die religiösen Formen weglässt, sich dem Wesen der Veränderungen des Menschen zuwendet, dann it es schwierig, Unterschiede zwischen Islam, Christentum und Buddhismus zu finden. Es gibt Gottes Wort, das auf unterschiedliche Art dargestellt wird. Je näher an den Wurzeln, umso reiner ist es. Deswegen ist das Wort Religion auch nicht sehr passend; auch das Wort Glauben ist unpassend, denn die Leute glauben auch an Wunder, während sie Gott entweder kennen oder nicht: entweder weißt du, dass es ihn gibt – oder du weißt es nicht.
Wenn du weißt, dass es Gott gibt, dann bist du ein freier Mensch, weil du anfängst bestimmte Dinge zu begreifen, und du wirst frei von vielen Vorurteilen, von zahlreichen menschlichen Qualen. Ich will ein einfaches Beispiel nennen.
Wenn gleich ein Angriff auf mich losgeht, man mich aller erdenklichen Todsünden beschuldigt, werde ich aus einem einzigen, ganz einfachen Grund ganz ruhig sein – ich weiß, wie es war, und Gott weiß es auch. Und wenn da noch irgendwer etwas denkt, dann ist das sein Problem, denn nicht sie sind es, die entscheiden, sondern ER. Er weiß, ob sie dich zu Recht anklagen. Demzufolge bist du frei vom Gerede der Leute. Frei, weil es deine einzige Aufgabe ist, nicht das zu tun, was du nicht tun sollst.
Nebenbei bemerkt, die Kunden im Lager, welche die meisten Probleme aufwarfen, waren aufrichtig gläubige Menschen. Dabei war es unwichtig, an welche Religion sie sich klammerten, ob es Moslems, Christen oder andere waren. Man konnte sie beispielsweise nicht dazu zwingen, „anzuklopfen“ (andere zu denunzieren; Anm. d. Übers.), also etwas zu tun, was sie nicht für notwendig hielten. Nehmen wir an, heute wäre Ostern, und man würde sie zur Arbeit rufen. „Das ist unmöglich. Das ist unmöglich – und basta! In den Karzer? Gut, dann ist das eben so – was kann man da schon machen?” Sie haben ein sehr klares Verständnis von den Dingen, die sie nicht tun dürfen. Wer weiß, was hier geschieht. Sie wissen, dass alles, was auch geschehen mag, für sie zur Schicksalsherausforderung wird – entweder überschreiten sie die Schwelle oder sie tun es nicht. Sie sollen, dürfen die Schwelle nicht überschreiten. Und das ist in Wirklichkeit Freiheit. Weil Freiheit nicht die Möglichkeit ist, etwas zu tun, was du möchtest, sondern wenn niemand dich dazu zwingen kann, etwas zu tun, was di für unrichtig hältst. Genau das ist Freiheit.
- Vielen Dank für das interessante Interview. Herzlichen Glückwunsch Ihnen und all Ihren Kollegen zum Jubiläum!
Maksim Kotschetkow.
Große Epoche (The Epoch Times), 19.03.2013