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Die Hoffnung des Lew Netto

Er heißt Lew Aleksandrowitsch Netto. Sein Vater war „lettischer Schütze“; bekannt gemacht hat die Familie der jüngere Bruder Igor – der legendäre „Spartakus“-Fußballspieler, ab 1954 Kapitän der Auswahlmannschaft der UdSSR. Doch über das Leben Lew Nettos selber kann man einen ganzen Film drehen. Wie er vor dem Krieg in eine spezielle Artillerie-Schule kam, wie er 1942 im Alter von 17 Jahren als MG-Schütze an die Front gelangte. Wie er an der Geheimdienst-Schule lernte, wie er mit einer Gruppe sowjetischer Diversanten im von den Deutschen besetzen Estland landete und inmitten der feindlich gesinnten Bevölkerung umherirrte, wie er nach einem Kampf, in dem seine Gruppe vernichtet wurde, in faschistische Gefangenschaft geriet. Wie er in Frankfurt an der Oder in ein Kriegsgefangenen-Lager kam, wie er versuchte zu fliehen und aufgegriffen wurde, wie er sich im Mai 1945, zwei Monate nach seiner Befreiung, entgegen allen Warnungen weigerte, weiter in der amerikanischen Besatzungszone zu bleiben und sich freiwillig auf das Territorium begab, welches von sowjetischen Truppen kontrolliert wurde. Wie sich für ihn anfangs alles gar nicht so schlecht gestaltete und man ihn einfach nur zur Ableistung seines befristeten Dienstes in die West-Ukraine schickte…

Am 22. Februar 1948, zwei Wochen vor der Demobilisierung, wurde er von der Hauptverwaltung für Gegenspionage des Volkskommissariats für Verteidigung der UdSSR verhaftet. Sie erhoben Anklage gegen ihn, weil er sich von den Amerikanern hatte anwerben lassen. Der kalte Krieg herrschte bereits seit zwei Jahren, und die Verbündeten, die ihn gerettet hatten, waren zu Feinden geworden. Die Denunzierung über Lew Netto schrieb ein Freund und Waffenbruder, der aufmerksam seinen Erzählungen über die fröhlichen, dunkelhäutigen Soldaten gelauscht hatte, die stürmisch mit ihren Jeeps durch die Gegend jagten, alle Russen „Bruder“ nannten und menschliches Leben für wertvoller hielten, als ihre Maschinengewehre.

Zwei Monate weigerte Lew Netto sich, ein Geständnis zu unterschreiben. Der Gefangene durfte tagsüber nicht schlafen, und nachts holten sie ihn zum Verhör. Er wurde gefoltert. Schließlich brachen sie seinen Widerstand, indem sie damit drohten, seine Eltern aus Moskau herbeizuschaffen: „Da können sie sich den Vaterlandsverräter anschauen!“

Die Familie bedeutete ihm alles. Die Hoffnung auf ein Wiedersehen, eine Wiedervereinigung halfen ihm nicht nur einmal zu überleben.

„Ich erklärte mich einverstanden, meine Unterschrift unter jede beliebige Anklageschrift zu setzen, wenn sie dafür nur meine alten Herrschaften in Ruhe ließen“, erinnert sich Netto.
Das Urteil des Kriegstribunals lautet – 25 Jahre Lager plus 5 Jahre Entzug der Rechte. Aus Rowno, wo er verurteilt worden war, stand ihm nun eine lange Reise mit einer Häftlingsetappe zum Strafverbüßungsort in der Region Krasnojarsk bevor; die Fahrt führte über Moskau. In Moskau hatten Vater, Mutter und Bruder schon ein halbes Jahr nichts mehr von ihm gehört.

Der August 1948 nähert sich seinem Ende. Lew Netto, der einen Stück Papier und einen Bleistift aufgetrieben hat, schreibt seinen Angehörigen einen Brief, den er mühevoll mit allerlei naiven Zeichnungen in der Art einer Ansichtskarte schmückt.
Die rechte Hand wurde ihm beim Verhör verstümmelt, doch seine Schrift sieht akkurat, ruhig und schön aus. „Guten Tag, meine Lieben! Nehmt meine wärmsten Grüße und alle guten Wünsche entgegen. Nach sechs Monaten schicke ich euch eine kleine Nachricht. Ich teile euch mit, dass ich gesund und am Leben bin, mich gut fühle. Meine einzige Sorge gilt euch! Mein Weg ist klar umrissen, und deswegen bitte ich euch, meinetwegen nicht beunruhigt zu sein. Das gilt besonders für dich, mein liebes Mamachen!! Wir werden uns bald wiedersehen. Das Schicksal zögert es ein wenig hinaus, aber zu Neujahr werden wir uns wiedersehen – auf eine andere Art als bisher. Ich wünsche allen Gesundheit, Kraft und alles Gute für eine helle Zukunft. Fest, ganz fest umarme und küsse ich euch. Wartet auf mich, wartet, wartet! Bald wird die langersehnte Stunde kommen. Grüße an alle Bekannten“.

Keine Unterschrift, keine Rückanschrift.

Der 23-jährige junge Mann tritt seine 25-jährige Strafe im Arbeitslager an.


Foto aus dem Archiv des Sacharow-Zentrums

Netto faltet einen Brief, schreibt eine Moskauer Adresse darauf und steckt ihn durch eine Ritze im Waggon – das kleine, weiße Dreieck flattert auf die Gleise.
Mit den gleichen Erfolgsaussichten hätte ein unglücklicher Mensch, der Schiffbruch erlitten hatte und schließlich auf einer unbewohnten Insel umgekommen war, auch eine Flaschenpost in den abgrundtiefen Ozean werfen können. Der Ozean der Außenwelt hinter den Wänden des Waggons verschlang das zerbrechliche Stückchen Papier. Doch dieser lebendige Ozean war voller Menschen, für die Mitleid und Furchtlosigkeit keine Fremdwörter waren. An sie, und nicht an die Denunzianten und Henker, dachte Lew Netto, in sie legte er seine ganze unsinnige Hoffnung – und sollte sich nicht irren.

Am 27. August gelangt der Brief, der keine Rückadresse enthält, zum Postamt in Kiew, am 30. Erreicht er Moskau. Wer hob ihn auf? Wer entfaltete ihn, las, was darin geschrieben stand, stellte eine Vermutung an und erfüllte stillschweigend, ohne etwas von sich hinzuzufügen, seine Pflicht – die Pflicht des Menschen vor dem Menschen?...
In Berichten von GULAG-Gefangenen findet man mitunter eine ähnliche Geschichte. Das Volk, das jahrhundertelang sein Mitleid gegenüber den „Unglücklichen“ bewahrt hatte, konnte sich nicht plötzlich in der Stunde Stalins ändern. Die Barmherzigkeit war einfach dem Heroismus gleichgestellt.
Nachdem die Mutter den Brief erhalten hatte, begriff sie alles. Anhand des Absende-Stempels aus Kiew erriet sie, dass man den Sohn zum Kiewer Bahnhof bringt, und sogleich stürzt sie zum nahegelegenen Durchgangsgefängnis – in die Krasnaja-Presnaja-Straße. Lew befand sich tatsächlich dort. Sehen durften sie sich nicht, doch in diesen zwei Tagen, die Netto in Moskau verbrachte, bevor es für ihn weiter auf Etappe ging, gelang es ihm, mehrere Pakete von Zuhause zu erhalten.

Anschließend trat das Gorlag in sein Leben, die Lagerzone mit besonderem Regime, wo die Gefangenen anstelle von Namen Nummern erhielten, der Beitritt in die politische Untergrund-Organisation „Demokratische Partei Russlands“ und die Teilnahme am Norilsker Aufstand 1953 – ein erstaunlicher Akt des gewaltlosen Widerstands von zehntausenden verbannten, tapferen Menschen unter der Losung von Gesetzmäßigkeit, Gerechtigkeit und Achtung der Menschenrechte. Nachdem die Verwaltung verjagt und die Kriminellen gebändigt worden waren, schufen die Aufständischen ihre Selbstverwaltung. Die demokratische Republik der Gefangenen währte mehr als zwei Monate. Dann wurde der Norilsker Aufstand niedergeschlagen, seine Aktivisten erschossen, doch es gab zu dem Zeitpunkt schon keinen Stalin, keinen Berija und kein GULAG mehr, als ob sie in einer letzten wütenden Anstrengung zusammengebrochen waren. Im Jahre 1956 geht Lew Netto aufgrund einer Amnestie in die Freiheit hinaus. 1959 wird er vollständig rehabilitiert und kehrt nach Moskau zurück.

Er ist jetzt vierunddreißig Jahre alt. Ausbildung, Heirat, Arbeit.

Leben.

Der Brief, den er seinerzeit aus dem Stolypin-Waggon warf, wird heute im Bestand des Museums des Sacharow-Zentrums verwahrt.

Lew Aleksandrowitsch ist 88 Jahre alt. Er ist mit uns, und das bedeutet, dass alles, was er durchgemacht hat, auch ein Teil unseres heutigen Lebens ist.

Moskau
Sacharniza
Blog des Sacharow-Zentrums Moskau
17.04.2013, 14,30h


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