Norilsk in der Geschichte, Geschichte in Norilsk
(Für diejenigen, die sich nach der starken Hand Stalins sehnen)
Viele nicht volljährige Häftlinge des Norillag waren nach der Strafsache „Über die Ähren“ verurteilt worden. Wegen einer Handvoll Getreide vom Kolchosfeld.
Am 1. Juni feierte man den Internationalen Tag des Kinderschutzes.
Wir sprachen wieder über Liebe zu Kindern und darüber, dass sie unbedingt unseren Schutz brauchen, den Schutz der Erwachsenen. Wieder einmal, und das mehrfach, wurde von unterschiedlichen Tribünen erklärt, dass in unserem Lande das Beste – den Kindern gilt.
Übrigens, die Losung „Das Beste – den Kindern“ tauchte in der UdSSR in den 1930er Jahren auf, als abscheulicher Hohn ertönte sie in den Jahren der Massenrepressionen. „Die Kinder sind für ihre Väter nicht verantwortlich“, - erklärte der Vater aller Völker Stalin, als zu dieser Zeit Väter erschossen, Mütter in Gefängnisse geworfen und die Kinder der „Volksfeinde“ in Schulheime und Lager geschickt wurden.
Gegen Ende der 1930er Jahre gab es im Lande ungefähr sieben Millionen obdachlose Kinder. Das Problem wurde auf einfache Weise gelöst – der GULAG.
Im Juni 1941 wurde der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets unterzeichnet, nach dem Kinder unter Anwendung aller Strafmaßnahmen verurteilt werden konnten – sogar für Verbrechen, die unbeabsichtigt aufgrund von Unvorsichtigkeit begangen wurden.
Im Norillag machten nicht volljährige Häftlinge oder, wie man sie auch noch nannte, Minderjährige, das Hauptkontingent aus, welches man in zwei Kategorien unterteilen konnte: Kinder von Verfolgten und junge Kriminelle. Häufig wurden sie wegen zehn entwendeten Ähren vom Kolchosfeld oder fünf verfaulten Kartoffeln zu Kriminellen abgestempelt.
Aus den Erinnerungen der Jefrossinia Kersnowskaja: „Ich schaue auf meine Gefährtinnen. Das sollen minderjährige Verbrecher sein? Nein, das sind ja noch Kinder. Mädchen – im Durchschnitt 13-14 Jahre alt. Sie sind bereit6s nach dem Gesetz „über die Ähren“ verurteilt worden, gerieten wegen einer oder zwei Handvoll Getreidekörnchen unter den Diebstahls-Paragraphen. Der Vater ist im Krieg, deine Mutter haben sie nicht mehr – oder man hat sie zur Arbeit getrieben. Die Kleinste – Manja Petrowa. Sie ist elf Jahre alt. Der Vater ermordet, die Mutter gestorben, den Bruder haben sie in die Armee geholt. Sie haben alle ein schweres Leben, wer braucht denn schon ein Waisenkind? Sie hat Lauch gepflückt. Noch nicht einmal eine Zwiebel, nur Lauch. Man hatte „Mitleid mit ihr“: wegen Plünderei bekam sie nicht zehn Jahre, sondern nur eins“.
Im Lager wurden Minderjährige in breitem Maße bei Bau- und Reparaturarbeiten eingesetzt. Deswegen wurden sie bei ihrer Ankunft im Lager zu Schlossern, Zimmerleuten und Drechslern ausgebildet.
Nicht jeder Erwachsene konnte die Etappen und Durchgangsgefängnisse ertragen, ganz zu schweigen von den Kindern, die in Norilsk nicht nur verängstigt und niedergeschlagen eintrafen, sondern auch physisch geschwächt. Außerdem hatte die Mehrheit von ihnen sich noch nie mit körperlicher Arbeit befasst, sie hatten noch keinen Beruf erlernt.
In einem der Befehle, die im Stadt Archiv erhalten geblieben sind, lesen wir: „Die eintreffenden Arbeitskräfte sind in ihrer Gesamtheit äußerst uneinheitlich; unter ihnen befindet sich eine erhebliche Anzahl Gefangener, die früher noch nie körperliche Arbeit geleistet oder zumindest über einen längeren Zeitraum ausgeführt haben. IN den Lagerpunkten und an den Streckenabschnitten wird vom ersten Tag des Ausgangs zur Arbeit an die volle 10-Stunden-Norm ausgegeben, und natürlich erfüllen sie sie nicht, weil sie keinerlei Ausdauer und keine Fertigkeiten in der Tätigkeit besitzen, was wiederum zu Beschwerden seitens anderer Arbeiter führt, weil sie die für sie eigentlich vorgesehene Verpflegungsmenge nun nicht erhalten“.
Als die Lagerleitung begriff, dass man die minderjährigen Sklavenarbeitskräfte für die Zukunft bewahren musste, legte sie für die jugendlichen Gefangenen im Alter zwischen 14 und 16 Jahren einen vierstündigen Arbeitstag mit 50-prozentiger Normzuteilung aus der Berechnung des Acht-Stunden-Arbeitstags für einen vollwertigen Arbeiter fest, und für Heranwachsende von 16 bis 17 Jahren einen Arbeitstag von 8 Stunden mit 80-prozentiger Essensnorm.
Bis 1940 lebten Kinder und Erwachsene des Norillag zusammen, aber im Februar 1940 erging der Befehl des Kombinatsleiters „Über die Isolierung der minderjährigen Häftlinge von den Erwachsenen und die Schaffung von für sie vollständig geeigneten Lebensbedingungen“.
Für die Minderjährigen wurde eine separate Baracke abgezweigt, die aus der ehemaligen Kantine umgebaut worden war, zur „Durchführung der Kultur- und Erziehungsarbeit“; es wurden Bücher, Plakate, Spielsteine, Schachspiele und Musikinstrumente ausgeteilt. Dem Leiter der Kultur- und Erziehungsabteilung des Lagers, Genosse Barsina, wurde vorgeschrieben entsprechende Kandidaten als Erzieher auszuwählen und zudem seine Ansichten für den Arbeitsansatz der Minderjährigen vorzustellen. In ihrer Freizeit, wenn sie also nicht arbeiteten, lernten sie nach dem Programm der allgemeinbildenden Schule (nicht weniger als drei Stunden pro Tag) und wurden auch in arbeitsbezogenen Berufen ausgebildet.
Für nichtvolljährige Gefangene wurden beim NKWD der UdSSR in Moskau auch Standard-Verpflegungsnormen berechnet. Pro Person und Tag waren 600 g Roggenbrot , 75 g Graupen oder Nudeln, 250 g Kartoffeln oder andere Wurzelgemüse, 70 g Fisch, 25 g Fleisch, 25 g Tier- oder Pflanzenfett, 2 g Surrogat-Tee sowie jeweils 15 g Salz und Zucker vorgesehen. Anstelle von Fleisch und Fisch war auch die Verwendung von F8isch- und Fleischprodukten minderer Qualität zulässig.
Zum Jahr 1943 nahm die Zahl der minderjährigen Lagerinsassen merklich zu. Im Befehl vom 13. August 1943 heißt es: „Beim Norilsker Kombinat des NKWD ist eine Norilsker Arbeitskolonne für Minderjährige zu organisieren, die unmittelbar der NKWD-Behörde im Kampf gegen die Kinder-Verwahrlosung und Kinder-Nichtbeaufsichtigung unterstellt ist“.
Im Januar 1944 wurden in der Kolonie 987 nicht volljährige Häftlinge festgehalten, die man in acht Trupps von jeweils 110-130 Mann eingeteilt hatte. In diesem Jahr, nach dem Aufstand der Minderjährigen, wurde sie dann auch aufgelöst. Wie sich Nina Chartschenko, ehemalige Erzieherin, erinnert, verlegte man einen Teil der Kinder ins Lager für Erwachsene, den anderen Teil brachte man nach Abakan. Die Gründe für die Rebellion waren ihrer Meinung nach erschreckend simple: „Die Baracken erinnerten an Viehhöfe … sie führten ein Hungerdasein“.
Übrigens befanden sich die Kinder nicht ausschließlich unmittelbar in Norilsk. Einige dutzend Kilometer von der Siedlung entfernt gab es den Straf-Isolator Kalargon (dort wurden auch Menschen erschossen). Der Lager-Leiter konnte einen Häftling für eine Dauer von bis zu sechs Monaten dorthin bestimmen. Länger konnte man ihn offensichtlich mit der Strafration nicht durchbringen – „dann schickten sie ihn an den Fuß des Schmidticha“, das heißt auf den Friedhof.
Diejenigen, die nach dem „Stachanow“-System arbeiteten, also die festgesetzte Norm zu 110 Prozent oder mehr schafften, die Disziplin einhielten und außerdem noch gute Noten im schulischen und betrieblichen Unterricht erbrachten, erhielten eine heraufgesetzte Essensnorm. Neben den Hauptnahrungsmitteln gab es zusätzlich Trockenobst, Kartoffelmehl und Mehl zum Binden, Surrogat-Kaffee und Milch – ein halbes Glas. Für diejenigen, welche die Norm zu mehr als 150% erfüllten, waren zusätzlich noch 100 g Brot pro Tag vorgesehen.
Aus der Speisekarte der Strafgefangenen (die die Disziplin verletzt oder die Arbeit verweigert hatten) wurden dagegen fast alle Lebensmittel, mit Ausnahme von Brot, ausgeschlossen, wovon si 400 g pro Tag erhielten, dazu je 30 g Fisch, Graupen und Kartoffeln.
Mit Befehl vom 20.Oktober 1943 bekam die Norilsker Kinder-Arbeitskolonie den Status einer der Lager-Nebenstellen des Kombinats. Der Planabteilung wurde befohlen, eine Aufstellung über die Alimentation der Kolonie zu machen, der Finanzabteilung – die Finanzierung der Kolonie auf der allgemein für alle Nebenstellen des Kombinats geltenden Grundlage zu gewährleisten. Di Kolonie arbeitete entsprechend eines Abkommens über gegenseitige Dienstleistungen. Allen Werks- und Lager-Nebenstellen-Leitern, welche die Arbeit der Kolonie in Anspruch nahmen, wurden verpflichtet, eine strenge Statistik über den tatsächlich von ihr geleisteten Arbeitsumfang aus Berechnungen der Lohntarife für nicht gefangene Arbeiter zu führen.
Es gab auch noch eine andere Kategorie Minderjähriger – die, die „notgedrungen“ zu Gefangenen wurden. Es handelte sich um Kinder bis zu drei Jahren, deren Mütter verurteilt worden waren. Für die Kinder freier Menschen baute man in Norilsk eine Kindergrippe und einen Kindergarten. Aber innerhalb der Lagerzone wurden die Kleinen in Kleinkinder-Heimen untergebracht, die sich bei der 7. und 8. Lagerabteilung befanden. Sie waren stets überfüllt; deswegen wurde 1946 ein weiteres Heim für Kleinkinder bei der 9. Lagerstelle organisiert.
Im August 1950 wurde mit dem Bau eines Kinderhauses für 200 Kleinkinder am Außenlager „Tajoschnij“ begonnen, im Gorstroi für 400 und in Frauen-Lagerpunkt Dudinka für 100 Kinder.
Haupt-Architekt Witold Nepokoitschizkij erarbeitete mit der Sanitätsabteilung des Lagers eine Vereinbarung über die Planung zweier zweigeschossigen Häuser im Gorstroi, die für den Aufenthalt von Kindern geeignet waren. Für die Mütter dieser Kleinen wurden auf dem Territorium der Norilsker Sowchose separate Baracken errichtet, die Küche erweitert und Geschirr hinzugekauft. In der Holzverarbeitungsfabrik bestellte man das notwendige Inventar – Betten und andere Kinder-Möbel. Der Bau wurde zum Objekt größter Priorität erklärt, und es war geplant, den Bau zu Beginn des Winters abgeschlossen zu haben. Während die Mütter arbeiteten, kümmerten sich in den Kinder-Häusern Kindermädchen und Krankenschwestern aus den Reihen der Gefangenen um die Kleinen. Zum Personalbestand gehörte auch ein Arzt. Neugeborene und Säuglinge bis zu drei Monaten befanden sich zusammen mit ihren Müttern in den Kleinkinder-Heimen.
Insgesamt befanden sich 1951 in diesen Häusern 534 Kinder. 1953, nach dem Norilsker Aufstand, wurden 50 Frauen mit ihren Kindern ins Oserlag geschickt.
Langeweile, schlechte Alltagsbedingungen führten dazu, dass die Kinder häufig krank wurden. Besonders schlimm verhielt es sich im Lager und in der Siedlung mit dem Problem der Prophylaxe gegen Darminfektionen. Nicht selten kam es zu Ruhr-epidemien. Deswegen wurden stillende Mütter mit ihren Neugeborenen sowie Frauen ab dem 6. Schwangerschaftsmonat in separaten, von der übrigen Zone isolierten Baracken mit ebenfalls getrennter Küche untergebracht. Die Wäsche aus den Kleinkinder-Heimen wurden in der Zentral-Wäscherei der Lager-Verwaltung zum Waschen gegeben, wo sie gewaschen und anschließend gebügelt wurde. Die Bäche, in die das Schmutzwasser abgegossen wurde, erhielten eine Stacheldraht-Einzäunung, um die Entnahme von Wasser aus denselben durch Häftlinge für deren eigenen Bedarf zu verhindern.
Bemerkenswert ist, dass im Befehl des Lagerleiters von der außergewöhnlichen Bedeutung aller oben genannten Maßnahmen für die Gesundheit der Kinder und ihrer Mütter die Rede ist. So sorgte sich der Staat um seine Kinder, die er selber hinter Stacheldraht gebracht hatte.
Vom Autor: besonderer Dank gilt dem Haupt-Spezialisten des Stadt-Archivs Jewgenij Sidoruk für das zur Verfügung gestellte Material.
Larissa Stezewitsch
„Polar-Bote“, 4. Juni 2013