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Der Norilsker Aufstand 1953. Dritte Überlieferung

Wladimir Tolz: 60 Jahre danach, nachdem wir die einst geheimen Dokumente des MWD und KGB der UdSSR darüber durchgeblättert, die Memoiren von Teilnehmern und Augenzeugen dieses Dramas und die Überlegungen der Historiker dazu gelesen haben, versuchen wir zu begreifen, was diese einst so sorgfältig vor dem Land und der Welt geheim gehaltene Erschütterung für die Geschichte des GULAG bedeutete – und infolgedessen auch für das gesamte Sowjet-System.

Ich erinnere daran: der Ende Mai im polaren Sonderlager N° 2, mit dem Namen Gorlag (Berglager; Anm. d. Übers.) begonnene Aufstand wurde in vielerlei Hinsicht von der mörderischen Grausamkeit der Wachen und der Lagerverwaltung provoziert, welche sowohl die möglichen Folgen ihrer Handlungsweisen, als auch die Fähigkeit der Gefangenen des Gorlag zum Widerstand völlig falsch eingeschätzt hatten. Die Haftbedingungen der Zuchthäusler (und das war die überwiegende Mehrheit im 2. Sonderlager) war um einiges unerträglicher, als in den anderen Norilsker Lagern. Sie kamen bei den schwersten Arbeiten zum Einsatz. Ihre Verpflegung war äußerst spärlich – häufig erhielten die Lagerinsassen anstelle der ihnen zustehenden 800 Gramm Brot nur 700. Außer Hefe gab es praktisch keinerlei Vitamine, und selbst dafür wurden aus der Verpflegungsnorm 50 Gramm Brot und 30 Rubel herausgerechnet. Unter den Bedingungen des langen Polar-Winters fehlte es in einem dramatischen Ausmaß an geeigneter Kleidung, und die Sachen, die man ihnen zur Verfügung stellte, reichte nicht einmal für eine Saison. All das führte zu einem Anstieg von Erkrankungen des Herz- und Gefäß-Systems, Marasmus (generelle Unterernährung wegen Mangel an Eiweißen, Fetten und Kohlenhydraten; Anm. d. Übers.) sowie Lungenentzündungen. Die Rechenschaftslegung des MWD offenbart auch den Anstieg der Anzahl von Arbeitsunfällen. Krankheiten und Verletzungen bildeten die Hauptgründe für den Tod der Häftlinge. Zudem konnte aber auch jeder beliebige Gefangene durch Schläge, Bisse von auf ihn gehetzten Hunden, oder die „fehlerhafte Anwendung von Waffen“ – all diese Methoden der Niederwerfung wandten Offiziere und Soldaten der Begleittruppen an. Daneben versuchte die Lager-Verwaltung ständig die für das GULAG traditionelle Aufwiegelungsmethode der Kriminellen gegen die „Politischen“ anzuwenden, das heißt gegen die nach § 58 des Strafgesetzes der RSFSR Verurteilten. Allerdings erweist sich diese Maßnahme 1953 im Sonderlager N° 2 für die Insassen als nicht sonderlich effektiv – die meisten der gefangenen Zwangsarbeiter waren „Politische“. Viele von ihnen trugen die Last der Kriegserfahrung auf ihren Schultern – kriegerische Handlungen in den Reihen der Sowjetarmee, der Wehrmacht, der ukrainischen Aufständischen-Armee, innerhalb der Truppen der „grünen Brüder“ sowie in anderen Partisanen-Formierungen. Sie alle waren zu etlichen Jahren Inhaftierung verurteilt worden, ein paar von ihnen sogar zu lebenslanger Haft.

Von den etwa 20.000 Gefangenen des Gorlags waren mehr als ein Fünftel zu 25 Jahren verurteilt worden, 2330 zu einer Strafe von 20 Jahren, 2586 zu einem Strafmaß zwischen 11 und 15 Jahren und 10358 zu 6 bis 10 Jahren Zwangsarbeit. All das hier Genannte löste in den Gefangenen des Gorlag eine verzweifelte, bisweilen selbstmörderische Bereitwilligkeit zu Handlungen aus, die zumindest in irgendeiner Form dien Unerträglichkeit ihrer gegenwärtigen Situation zu verändern vermochten. Zudem muss man hier anmerken, dass die Massenaktion des Widerstands der Häftlinge des Gorlag einen unbewaffneten und keineswegs gewalttätigen Charakter besaß. Und genau damit hängen die Zweifel einiger Geschichtsforscher an der Rechtmäßigkeit des bereits zur Tradition gewordenen Begriffs „Aufstand“ zusammen. Nichtsdestoweniger werden wir in diesem Jubiläumszyklus die traditionsgemäße Bezeichnung des Norilsker Massenauftritts der Häftlinge, nämlich das Wort verwenden, welches das Gerücht, trotz aller Maßnahmen im Rahmen der GULAG-Geheimhaltung, bereits in der ersten Hälfte der 1950er Jahre in der ganzen Welt verbreitete – „Aufstand“…

Wie ich bereits berichtete, begann der Aufstand Anfang Mai 1953 nach einem der regulären bestialischen Morde an zwei Häftlingen des Gorlags durch einen Wachmann. Als Antwort darauf traten sämtliche Gefangene der 6.Lagerabteilung in den Streik. Sie weigerten sich zur Arbeit zu gehen und verlangten das Eintreffen einer Kommission aus Moskau, welche die Ausschreitungen der Verwaltung und die grauenhaften Bedingungen ihres Zwangsarbeiterlebens überprüfen sollte. Versuche einer bewaffneten Niederschlagung dieses Streiks blieben zu diesem Zeitpunkt erfolglos. Einer der Anführer des Norilsker Aufstands, der wie es schien „ewige“ Häftling Danilo Lawrentewitsch Schumuk, - er hatte bereits (von 1935 bis 1939) in polnischen Konzentrationslagern gesessen, übrigens wegen kommunistischer Aktivitäten, später dann in einem deutschen KZ für sowjetische Kriegsgefangene, nach dem Kriege in sowjetischen (1945 verurteilte man ihn wegen Mitgliedschaft in der Ukrainischen Aufständischen Armee zum Tode, änderten jedoch das Urteil anschließend in 20 Jahre Haft ab; 1956 wurde er entlassen, 1957 jedoch erneut verhaftet – die Anklage lautete „Antisowjetische Propaganda und Agitation“ – Urteil 10 Jahre, 1972 folgte wieder eine Verhaftung – 10 Jahre Lagerhaft mit besonderem Regime + 5 Jahre Verbannung, und 1979 war er einer der Begründer der Ukrainischen Helsinki-Gruppe –also, Danilo Schumuk erinnerte sich an die Norilsker Tage des Jahres 1953 folgendermaßen:

Sprecher: Nach der ersten Erschießung – das war am 4. Juni 1953 – wurden bei uns 8 Mann getötet und 27 verwundet, sie lagen im Lazarett… Das war der Beginn des Streiks. Wir jagten die gesamte Verwaltung aus dem Lager, gründeten ein Streik-Komitee, erörterten die ganze Situation, erarbeiteten einen Plan, wie wir uns weiter verhalten sollten, und der Kampf begann – eben dieser Streik. Er vollzog sich auf einem wohlorganisierten, sehr kultiviertem Niveau. Wir stellten unsere Ordnung auf, brachten die Lagerzone in einen idealen Reinlichkeitszustand, und alles ging ganz kultiviert zu. Sogleich wurden auch Laienzirkel organisiert, im Klub inszenierte man ein oder zwei Theaterstücke. Man schuf nationale Chöre, welche abends ihre Volkslieder sangen – lettische, estnische, litauische. So dass wir in den zwei Monaten ein vollwertig kulturelles Leben, aber gleichzeitig auch einen unermüdlichen Kampf gegen jene Abteilung des MWD führten, die den Stacheldrahtzaun zerschnitten hatten, über uns hergefallen waren und uns niedergeschossen hatten. Das ging zwei Monate so.

Wladimir Tolz: Für die Streikleitung und die Koordinierung ihrer Aktionen schufen die Gefangenen ein Streik-Komitee. Und nicht nur eins. Das lag vor allem an dem multinationalen Häftlingsbestand und der Verschiedenartigkeit ihrer Vorstellungen von den Zielen, Möglichkeiten und der Taktik des Widerstands. Ein Vierteljahrhundert später erinnerte sich Danilo Schumuk:

Sprecher: In unserem Lager gab es ein Streik-Komitee. Der Personenkreis, aus dem er sich zusammensetzte wurde bekannt gegeben, die Verwaltung erfuhr davon. Unter anderem gehörten ihm auch zwei Ukrainer an. Hauptsächlich bestand es aber aus Russen. Bei der Mehrheit der Streikenden handelte es sich jedoch um Ukrainer. Daher gab es bei uns ein Untergrund-Komitee für gegenseitige Hilfe; das wurde streng geheim gehalten, niemand wusste davon… Und dieser Mann, welcher das Amt des stellvertretender Leiter des Streik-Komitees der Ukrainer inne hatte, Korol aus der Bukowina, setzte unsere Verfügung um, die wir im Namen des Untergrund-Komitees an ihn weiterleiteten. Er unterbreitete sie dem Komitee, dessen Personalbestand allen bekannt war, in Form von Vorschlägen – sie sagen, es soll so und so gemacht werden… Wenn diese Vorschläge nicht befolgt wurden, zwangen wir das Komitee dazu, indem wir das Problem auf einer allgemeinen Versammlung vorbrachten. Sie fand im Klub statt. Und dort wiesen wir vor allen Leuten nach, dass dieses Komitee es so und so machen musste, dass diese und jene Forderungen gestellt und ihre Realisierung erreicht werden musste… Dabei gaben wir zu verstehen, dass wir andernfalls das allgemeine Streik-Komitee nicht weiter unterstützen und seine Beschlüsse nicht in Kraft treten würden, denn es stützte sich auf uns. So also zwangen wir das öffentliche Streik-Komitee das zu tun, was wir mit unserer Untergrund-Organisation verlangten. Sie bildete die Hauptkraft, die im Lager alles kontrollierte, und deswegen musste das Streik-Komitee auch unseren Willen ausführen.

Wladimir Tolz: 1978 erinnerte sich Danilo Schumuk an die Punkte, welche Forderungen die streikenden Gefangenen vorbrachten, wie folgt:

Sprecher: Wir verlangten, dass sie die gesamte Verwaltung, die uns verhöhnte und demütigte, entfernen und verurteilen sollten. Wir bereiteten die Anklageschrift vor, zählten auf, was sie alles angerichtet hatten, wie viele Menschen sie umgebracht hatten, wie viele durch Hunger umgekommen waren und wie viele sie so weit gebracht hatten, dass eine ganze Baracke mit 450 Mann zu Krüppeln geworden waren – dem Einen fehlte ein Arm, dem Nächsten ein Bein und dem Dritten ein Auge!... Für all das musste die Verwaltung verurteilt werden! (Das war alles schon zu der Zeit geschehen, als sie in Moskau Berija erschossen).

Vladimir Tolz: Hier, und auch an einigen anderen Interview-Orten des Jahres 1978 verließ Danil Lawrentewitsch das Gedächtnis: gerade Berija war es, der die Moskauer Kommission ins Gorlag entsandte, gegenüber der die Häftlinge Anfang Juni ihre Forderungen vorbrachten. Berija wurde erst drei Wochen später verhaftet – am 26. Juni 1953. Und man erschoss ihn erst im Dezember … Aber zweifelsohne, und das habe ich bereits gesagt, verschob der Sturz des allmächtigen Berija, nachdem er in den Seelen seiner Untergebenen aus dem GULAG und in einigen höchsten Direktiven Verwirrung gestiftet und ein gewisses Durcheinander gestiftet hatte, die Gewaltanwendung an den rebellierenden Norilskern im Gorlag. Und ich glaube, es ist kein bloßer Zufall, dass am Tag nach Berijas Verhaftung der Haupt-Bevollmächtigte des Sonderlagers N° 2, Oberstleutnant Sawjalkin, von den Häftlingen eine Botschaft an die sowjetische Regierung entgegen nahm und die Echtheit dieses aufwieglerischen Dokuments beglaubigte, in dem auch von Fälschungen in den Ermittlungsverfahren, der Unsinnigkeit der Urteile, der unvorstellbaren Haftbedingungen und vielen anderen Dingen mehr die Rede war. Das Dokument endete mit folgendem Wortlaut:

Sprecher: Wir haben begriffen, dass wir einen bedeutenden Teil der Produktionskräfte in unserer sozial-ökonomischen Formation darstellen, und von da her haben wir das Recht, unsere gerechten Forderungen zu stellen, deren Erfüllung zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine historische Notwendigkeit ist. Wir wollen, dass es im Staat keine scharfen Gegensätze gibt, wir wollen, dass man mit uns nicht die Sprache der Pistolenkugeln spricht, sondern mit der Sprache von Vater und Sohn. Wir wollen, dass Väter und Mütter, Brüder und Schwestern, Ehefrauen und Kinder sich nicht gekränkt fühlen und keinen Groll gegen die Regierung hegen. Wir wollen vor einem möglichen Krieg, der Gefahr von außen die wahre Brüderlichkeit und Einheit des gesamten Volkes. Wir wollen, dass Millionen Beschwerden, Gesuche, Begnadigungsanträge und Petitionen um Überprüfung der Verfahren – sowohl seitens der Lager-Bevölkerung als auch von Angehörigen nicht wie ein Schrei in der Wüste verhallen. Wir wollen, dass hunderttausende Frauen, die von Millionen von Kindern beweint werden, nach Hause zurück geschickt werden. Wir wollen, dass Wir wollen, dass ausländische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr in die Heimat über die großartigen demokratischen Veränderungen in unserem Lande berichten. Wir wollen konkrete und ernstgemeinte Schritte sehen, die auf die Lösung der besonders ausgeprägten und akut gewordenen Probleme ausgerichtet sind – wobei sämtliche Akten, ohne jede Ausnahme, von einem neuen, humanen Standpunkt aus zu überprüfen sind. Wir wollen, dass alle Entscheidungen des Sonder-Kollegiums als ungesetzlich anerkannt werden, weil dieses Organ nicht verfassungsgemäß ist. Wir wollen alle Kränkungen, allen Kummer und Gram der Vergangenheit vergessen. Wir wollen Freiheit, Brüderlichkeit und die Einheit des gesamten sowjetischen Volkes. Wir vertrauen unserer Regierung, glauben an ihre aufrichtig friedliebenden, humanen Absichten. Wir bitten unsere Regierung, über alle Fragen, welche in dieser Botschaft dargelegt sind, in vernünftiger Weise zu entscheiden. Wir werden uns, trotz diverser Repressionsmaßnahmen seitens der Gorlag-Verwaltung, alle Mühe geben, uns bis zum Erhalt einer ausführlichen Antwort auf unser Anliegen zusammen zu nehmen. Unsere Arbeitskraft ist unser Eigentum und, egal in welche Lage man uns auch bringen wird, werden wir sie nicht eher hergeben, als bis wir eine Antwort auf unser Ansuchen bekommen haben. Unsere Regierung, davon sind wir überzeugt, weiß, dass wir Opfer des Krieges und der Weltkriegshysterie der Nachkriegsjahre sind, und keiner möchte so gern die Freiheit und eine friedliche Lösung aller Probleme wie wir. Wir wollen zu unseren Familien zurück, wir streben nach friedlicher, pflichtbewusster Arbeit zum Wohle unserer großartigen Heimat. Diese Botschaft wird von der gesamten Lagerbevölkerung des Gorlag gutgeheißen. Norilsk, 27. Juni 1953.

Wladimir Tolz: Worauf hofften diese rebellierenden, antisowjetisch eingestimmten Zwangsarbeiter, die sich als „bedeutender Teil der Produktionskräfte unserer (!) sozial-ökonomischen Formation“ verstanden“? Ein Vierteljahrhundert später sagte Danilo Schumuk dazu folgendes:

Sprecher: Unsere Hoffnungen waren sehr groß. Und diese Hoffnungen waren nicht nur deshalb entstanden, weil Stalin gestorben war und man Berija inMoskau bereits erschossen hatte, sondern weil wir gegen die schon vor jener Zeit existierende Ordnung und bereit waren, den Kampf bis zum Ende auszutragen. Unsere Hoffnung basierte auf unserer Kraft und Entschiedenheit. Wir hofften, dass dies die zentralen Organe in Moskau zwingen würde darüber nachzudenken, wie es nun weitergehen sollte. Denn so, wie es bis dahin gewesen war, konnte es auf keinen Fall weitergehen.

Wladimir Tolz: Ich erzählte bereits, dass die aus Moskau eingetroffene Kommission des MWD der UdSSR den Aufständischen in ziemlich unbestimmten, unklaren Formulierungen („die Bitten und Ersuchen der Häftlinge befinden sich im Stadium der Überprüfung“) versprach, sich mit den Schuldigen der ohne Urteil ermordeten Gefangenen auseinanderzusetzen, ihnen die Häftlingsnummern von der Kleidung entfernen zu lassen, ihnen die Erlaubnis zu geben, ihren Familien einmal im Monat einen Brief zu schicken und den Arbeitstag auf neun Stunden festzulegen. Es gelang der Kommission Anfang Juni, die Zusage der Gefangenen der 4., 5. Und 6. Lageraußenstelle die Arbeit wieder aufzunehmen. Zudem hielten die Moskauer Verhandlungsführer in ihrem Rechenschaftsbericht fest:

Sprecher: Ungeachtet der mit den Häftlingen der 3. Lagerabteilung geführten Unterredung, welche den ganzen Tag über dauerte und am folgenden Tag von dem in Norilsk befindlichen Stellvertreter der Staatsanwaltschaft der UdSSR, dem Genossen WAWILOW, fortgesetzt wurde, weigerten sich die Gefangenen dieser Lagerstelle auch weiterhin zur Arbeit zu gehen.

Wladimir Tolz: Die verbarrikadierten Häftlinge der 3. Lagerabteilung, eben jener, in der auch Danilo Schumuk einsaß, ließen weiter Luftschlangen aufsteigen, von denen im Bereich des Lagers Flugblätter abgeworfen wurden, in denen über den laufenden Streik informiert wurde. Hier zwei Beispiele, die bis in unsere heutige Zeit erhalten geblieben sind (diese Texte rekonstruierte Eugen Grizjak in seiner Erinnerung):

Sprecher: Sie erschießen uns und lassen uns durch Hunger ausmergeln.
Wir verlangen, dass eine Regierungskommission herkommt. Wir bitten die Sowjetbürger uns Hilfe zukommen zu lassen – indem sie der Regierung der UdSSR von der an den Häftlingen ausgelassenen Willkür Mitteilung machen.
Die Zwangsarbeiter der 3. Lagerabteilung

Sprecher: Soldaten der MWD-Truppen!“
Lasst kein brüderliches Blutvergießen zu!
Es lebe der Frieden, die Demokratie und die Freundschaft der Völker.
Die Zwangsarbeiter des Gorlag.

Wladimir Tolz: Aus einer geheimen Bescheinigung des stellvertretenden Leiters der Gefängnis-Verwaltung des MWD, Oberst Kleimenow.

Sprecher: Die Situation im Berglager am 15. Juni. In den Lagerabteilungen 1,2, 4, 5, 6, 7 ist die Lage normal. Die Einführung einiger Vergünstigungen wurde von den Insassen des Berglagers mit großer Begeisterung aufgenommen und fördert die Festigung der Haftordnung und der Disziplin unter den Gefangenen. In den letzten Tagen nach der Ankündigung über die Einführung dieser Vergünstigungen ist die Arbeitsproduktivität der Häftlinge merklich gestiegen. Wir beginnen mit den Verhaftungen der Anführer und Organisatoren der Bummelei. In der 3. Lagerabteilung befinden sich Zwangsarbeiter. Der Widerstand der Häftlinge ist bislang ungebrochen. Heute hat in dieser Lagerabteilung der eingetroffene Genosse Wawilow mit uns zusammen gearbeitet, der persönlich mit fast allen Insassen unmittelbar im Lager Gruppen-Gespräche führte. Die Häftlinge benahmen sich Wawilow gegenüber besonnen, es gab keinerlei Grobheiten, allerdings verlangte sie von ihm die Vorlage von Dokumenten – was er auch tat. Trotz dieser geführten Unterredungen hat sich die Lage in der Lager-Stelle nicht geändert. Die Anführer der Trödelei kündigten an, dass sie bis zum Eintreffen einer Regierungskommission aus Moskau den Widerstand nicht unterbrechen würfen. In dieser Lagerabteilung befinden sich 450 Invaliden. Bei dem Versuch, diese zwecks Unterbringung in einem anderen Lager aus der 18. Wohnzone herauszubringen, kündigten die Anführer in ultimativer Form an, dass sie eine Herausführen der Invaliden nicht zulassen würden, und sprachen die Warnung aus, dass niemand mehr zu ihnen in die Lagerzone kommen sollte, wobei sie mit Gewaltanwendung drohten.

Wladimir Tolz: Das Hinausführen aus der Zone (d.h. in die Tundra) der rebellierenden Häftlinge mit dem Ziel der Filtration – der Abtrennung der aktivsten Teilnehmer des Widerstands von den übrigen und Kürzung der Essensration bei den Streikenden – war beinahe alles, was die Gefängnisverwaltung Mitte Juni 1953 beschloss.

Sprecher: Wir verzichten auf den Einmarsch bewaffneter Wachmannschaften in die Wohnzone zur Entfernung der Rädelsführer-Gruppen, denn das führt nur zu einer unausweichlichen Gewaltanwendung. Es wurde der Beschluss gefasst, die Wachen in größtmöglichen Umfang zu verstärken und die Verpflegung nach Norm 9 fortzusetzen, so wie es für Arbeitsverweigerer vorgesehen war. Wir setzen die Arbeit in den anderen Lagerabteilungen fort, machen mit den Verhaftungen der Anführer der Trödeleien weiter. Gemeinsam mit dem Genossen Wawilow stellen wir Material über 200 aktive Teilnehmer der Arbeitsbummelei aus, um sie abzuschieben und sie mit der nächsten Häftlingsetappe, mit einer Haftstrafe von 2 Jahren, von Norilsk ins Krasnojarsker Gefängnis und andere Gefängnisse zu überstellen. Wir bereiten derzeit einen Gefangenen-Transport für 1000 Mann vor – Benderow-Anhänger, aktive Streikteilnehmer – zum Abtransport aus Norilsk ins Uferlager. Des Weiteren stellen wir derzeit eine Etappe inhaftierter Invaliden zur Verschickung ins Berg- und ins See-Lager zusammen. Wir haben mit der Konzentrierung von Ausländern im Sonder-Lagerpunkt 232 begonnen, die in die Heimat zurückgeschickt werden sollen.

Wladimir Tolz: Gleichzeitig schlugen die Gefangenen der Lagerleitung eine Reihe zusätzlicher Maßnahmen vor, welche die Haftbedingungen im Gorlag erleichtern sollten:

Sprecher: Von uns wurde der Beschluss gefasst: 1. Die Gitter von den Fenstern der Häftlingsbaracken zu entfernen. 2. Die Eingangstür in den Wohnbaracken nachts nicht abzusperren. Die Gitter an den Barackenfenstern und das Abschließen der Baracken während der Nacht haben keinen praktischen Sinn. 3. Den Gefangenen zu erlauben, ungehindert vor dem abendlichen Zapfenstreich andere Gefangene zu besuchen, die in anderen Baracken ihrer Wohnzone leben. Dies ist gegenwärtig offiziell verboten, wird faktisch aber nicht befolgt, und es liegt auch überhaupt keine Zweckmäßigkeit in dieser einschränkenden Maßnahme. Ich bitte die Durchführung dieser Maßnahmen zu genehmigen. Leiter der Gefängnis-Verwaltung des MWD der UdSSR, Oberst Kusnezow.

Wladimir Tolz: Der erste stellvertretende Innenminister, Sergej Kruglow, der in weniger als einer Woche den Platz seines gestürzten Chefs Berija einnimmt, schreibt darunter „Genehmigt. Kruglow. 20. Juni“.

Doch diese Zugeständnisse kamen zu spät, und vor allem konnten sie die Situation nicht von Grund auf ändern. Die Aufständischen forderten eine radikale Entscheidung, die von der Regierungskommission ausgehen sollte.

Sprecher: 3. Lagerabteilung an die Lagerleitung. Wir haben mehrfach angekündigt, dass alle Fragen, die den Alltag der Gefangenen betreffen, nach der am 4. Juni dieses Jahres durchgeführten Erschießung von Häftlingen der 3. Lager-Abteilung genehmigt werden. Sie haben nicht nur keine Entscheidungen über die wichtigsten Probleme getroffen – die Einbestellung einer Regierungskommission, Einstellen der Provokationen gegenüber den Gefangenen -, sondern die Situation ganz bewusst verschärft. Die Insassen der 3. Lagerabteilung fordern Gerechtigkeit. Die Bedingungen sind Ihnen bekannt. Die Lagerleitung reagierte mit dem Entzug der normalen Verpflegung; offenbar rechnete sie damit, dass es ihr gelingen würde, die Bevölkerung der 3. Lagerstelle, sobald diese bis zur völligen Erschöpfung gebracht worden war, endgültig zu unterdrücken. Die Häftlinge der 3. Lagerabteilung setzen die Lagerleitung davon in Kenntnis, dass, sollte dieser Zustand länger andauern, der Hass der Häftlinge gegenüber den Maßnahmen der Lagerleitung die Grenzen des ruhigen, gerechten Erwartens einer bevollmächtigten Regierungskommission überschreiten würde. Gezeichnet: Die Häftlinge der 3. Lagerabteilung.

Wladimir Tolz: Um den Sinn der Forderungen der Aufständischen bezüglich eben dieser Regierungskommission aus Moskau einschätzen zu können, muss man berücksichtigen, dass Anfang Juni, nach der Abreise der Moskauer Revisoren, die es verstanden hatten, den Abbruch des Streiks in fast allen Lager-Außenstellen zu erwirken, im Sonderlager N° 2 eine andere Kommission ihre Arbeit fortsetzte – unter dem Vorsitz des stellvertretenden Leiters des Gorlag, General Semjonow, den ich bereits als kommissarischen Vertreter des Leiters der operativen Abteilung Sawjalkin erwähnte, sowie des Chefs der Regime-Abteilung des Gorlag – Skakun, des Leiters der Verwaltung der Begleitwachen – Oberst Michailow – und anderer, die für die Benutzung von Schusswaffen durch die Waffen und für die Ermordung von Gefangenen persönlich verantwortlich waren und auch Bereitschaft zeigten, dies zu rechtfertigen. Und das taten sie auch. Sie wählten die Methode der Niederschlagung des Aufstands und setzten die Idee der „Filtration“ in die Tat um.

Sprecher: Unter Berücksichtigung der entstandenen Lage führte eine Kommission des MWD der UdSSR am 29. Juni desselben Jahres, gemeinsam mit der Lagerleitung, planmäßig folgende Maßnahme durch: sie verkündete den gefangenen die Liquidierung der 5. Lagerabteilung, schlug ihnen vor, sich in organisierter Art und Weise mit ihren Sachen durch das Wachgebäude hinaus zu begeben, um mit einer Etappe in die 1. und 7. Lagerabteilung überführt zu werden. Dieser Aufforderung kamen die Häftlingen deswegen nicht nach, weil die Organisatoren der Sabotage mit Messern, Äxten und anderen Gegenständen bewaffnet waren, was den Ausmarsch der Häftlingsmasse aus der Lager-Abteilung verhindert hätte. Um die Kräfte auseinander zu ziehen, wurden für die Organisatoren fünf Durchgänge an verschiedenen Stellen der Lagerzone frei gemacht, durch die die Gefangenen hätten hinausgehen können. Aber auch diese Durchgänge waren durch ihr Unwesen treibende Banditen versperrt. Im weiteren Verlauf wurde der Beschluss gefasst, die Gefangenen als Arbeitsverweigerer auf die 9. Verpflegungsnorm umzustellen, und mit dem Ziel, keine eigenmächtigen Handlungen und kein Ausrauben der Lebensmittel-Vorratslager zuzulassen, wurde dem Kommandierenden des Wachtrupps, Oberst Duruschin, empfohlen, eine Verbotszone einzurichten, die den Erhalt der oben erwähnten Vorratsräume sicherstellte. Zur Organisierung einer solchen Verbotszone wurden durch eine Öffnung in der Haupt-Lagerzone 20 unbewaffnete Soldaten, mit dem Leiter der Lagerabteilung - Hauptmann Kurtschakow – an der Spitze hineingeführt, und zwar gemeinsam mit dem Chef des Aufsichtsdienstes, Unterleutnant Moltschanow, und den Aufsehern, die das Aufhängen einer kleinen Tafel mit der Aufschrift „Verbotene Zone. Es wird geschossen!“ in Angriff nahmen.

Wladimir Tolz: Diese Aktivitäten und auch die Aufschrift provozierten genau die gewünschte Reaktion seitens der Gefangenen.

Sprecher: In dem Bemühen, die Einrichtung der neuen Lagerzone zu verhindern, bewaffneten sich die Häftlinge mit zuvor von ihnen vorbereiteten Äxten, Messern, Metallgerten, Steinen und Stöcken, und dann marschierte die Menge auf die Soldaten und Aufseher los, welche die Verbotszone eingerichtet hatten. In diesem Augenblick wurden zur Bewachung des neu organisierten verbotenen Bereichs durch einen eigens dafür geschaffenen Durchlass in der Umzäunung 40 bewaffnete Soldaten hereingeführt, die deren Einmarsch die Häftlingsmenge, mehr als 500 Mann, unter lautem Geschrei, Pfeifen, unflätigem Geschimpfe und „Hurra“-Rufen eiligst auf die Soldaten zu rannte. Während sie die entlang des Weges von der Zentralwache stehenden Tafeln mit der Aufschrift „Verbotszone“ niedertrampelten, drängten sie die Soldaten ins Innere der Zone, zwischen Badehaus und der Post- und Paket-Baracke zurück und näherten sich ihnen dabei auf 2-3 Meter. Mündlich ausgesprochene Verwarnungen der Offiziere sowie Warnschüsse der Soldaten von oben zeigten keinerlei Wirkung auf die vorwärtsdrängenden Häftlinge, im Gegenteil – als sie nahe genug an die Soldaten heran gekommen waren, fingen sie an, mit Steinen nach ihnen zu werfen, und ein Teil der Lager-Insassen, die sich in den vorderen Reihen befanden, stürzten sich mit Stöcken auf sie u8nd versuchten, ihnen damit die Waffen aus den Händen zu schlagen; einzelne Gefangene klammerten sich an die Bajonettspitzen der Karabiner, um auf diese Weise die Soldaten zu entwaffnen. Im allerkritischsten Moment des Überfalls auf die Wachmannschaften, eröffneten diese das Feuer auf die Gefangenen, und nachdem zahlreiche Schüsse gefallen waren, zwang man die Häftlinge dazu sich auf den Boden zu legen. Danach befolgten die Lager-Insassen widerstandslos alle Befehle der Wachen und der Lager-Verwaltung.

Wladimir Tolz: Die Bilanz der Geschehnisse und deren Ausgang erläuterte die Kommission von General Semjonow wie folgt:

Sprecher: Infolge des Häftlingsüberfalls auf die Soldaten erhielten zwei Soldaten Schläge mit schweren Gegenständen im Kopfbereich, fünf weitere erlitten Quetschungen und Prellungen. Auf Häftlingsseite wurden 11 Mann getötet, 14 schwer verwundet, 12 davon sind ihren Verletzungen erlegen, 22 weitere wurden leicht verletzt. Unter den Toten und Verwundeten befanden sich die Organisatoren des Massen-Ungehorsams und des Überfalls auf die Wachen. Zur Abwehr des Häftlingsangriffs durch die Soldaten wurden 465 Automatik-Gewehre sowie 818 Gewehrpatronen ausgegeben. Die Lager-Häftlinge zerstörten während des Überfalls die Leitungen für das Telefon- und Rundfunk-Netz in der Wohnzone des Lagers; in einer ganzen Reihe von Baracken zerschlugen sie die Türen und brachen Fester-Rahmen heraus, Teile von Schornsteinen flogen herum, wodurch ein Schaden in Höhe von mehr als 50.000 Rubel verursacht wurde. Ausgehend von den hier dargelegten Punkten und unter Berücksichtigung der Schwere der entstandenen Lage im Augenblick der Waffenanwendung durch die Wachtrupps sowie auch des offenen zutage getretenen Massenungehorsams und des Überfalls der mit kalten Waffen ausgerüsteten Häftlingsbanditen auf das Wachpersonal mit dem Ziel, deren Feuerwaffen in ihren Besitz zu bringen, kommt die Kommission zu folgendem Schluss:
1. Auf Grundlage des § 106 der im Befehl des MWD der UdSSR N° 00373 aus dem Jahre 1948 erklärten Instruktionen wurde die Waffengewalt gegenüber den Gefangenen zum richtigen Zeitpunkt angewendet und stellte eine völlig korrekte Maßnahme dar. 2. Die Häftlinge aus den Reihen der Organisatoren der Massenunordnung und des Überfalls auf die Wachen sind zur strafrechtlichen Verantwortung zu ziehen.

Wladimir Tolz: Aus den Erinnerungen des Danilo Schumuk:

Sprecher: In der zweiten Juli-Hälfte taute in der Hügellandschaft hinter der 6. Lagerabteilung der Schnee. Eben jener Schnee, über den die Lagerverwaltung sagte: „Ihr werdet ers5t dann in die Freiheit gehen, wenn dieser Schnee auf den Bergen taut. Verstanden?!“ Dieser Schnee taute noch nicht einmal bei der allergrößten Hitze. Aber dann endlich schmolz auch er… <…>

In dieser „Ruhe vor dem Sturm“, die fast drei Wochen lang herrschte, verbarg sich eine gewisse endgültige Lösung. Über unser Schicksal konnte nur Moskau entscheiden. Und dort war man zu der Zeit mit er Liquidierung Berijas und der ihm nahestehenden Kampfgefährten beschäftigt. Aber irgendwann kamen auch wir an die Reihe…

Wladimir Tolz

Radio „Swoboda“, 29.06.2013


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