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Zwischen Ost und West

1. Zwischen Ost und West

Einen Fluss wie den Jenissei gibt es in der Welt nur einmal. Am rechten Ufer – das Ostsibirische Hochland, am linken – das Westsibirische Flachland. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, lohnt es sich, über den Fluss überzusetzen – und schon gelangt man auf die andere Seite der Welt. Der Jenissei teilt Russland in zwei gleiche Teile, man nennt ihn auch den Mittelfluss. Und was für Ufergelände! Man darf nicht eine Minute das Deck verlassen und womöglich etwas Interessantes versäumen.

Auf dem Jenissei gibt es eine Vielfalt von Sehenswürdigkeiten, einzigartigen Objekten – ihresgleichen findet man auf der ganzen Welt nicht noch einmal. Archäologische Objekte, Denkmale der Geschichte und Architektur, herausragende „Werke“, geschaffen von Natur und Industrie. Uralte Felszeichnungen existieren neben einem unterirdischen Kombinat, prächtige Kirchen in unmittelbarer Nachbarschaft von Industriegiganten. Und welche Meisterwerke die Natur entlang des gesamten Verlaufs des Jenissei geschaffen hat!

Es scheint, als ob der einzige Fluss der Welt genau auf dem Meridian verläuft – und auch das ist der Jenissei. Welcher Fluss Russlands ist der wasserreichste? Wieder ist es der Jenissei. Seine Fließmenge ist dreimal größer als die der Wolga. Auch in Bezug auf seine Länge hat der Jenissei nur wenige Konkurrenten. Er trägt sein Wasser über eine Länge von über viertausend Kilometer in den Norden. Wir wollen ein Zehntel dieser Strecke zurücklegen.

Anker lichten!

… Um 13 Uhr holte das Motorschiff “M.J. Lermontow“ den Anker ein und legte unter den wehmütigen Klängen von „Abschied der Slawin“ von der Anlegestelle des Flussbahnhofs in Krasnojarsk ab. Leise gleitet es über den Wasserspiegel, und ich kann mein Glück überhaupt nicht fassen. Wie lange habe ich schon davon geträumt, einmal eine Fahrt auf dem Jenissei zu unternehmen!

Seitdem ich mich mit Heimatkunde beschäftige, habe ich jeden Sommer damit angefangen, die Schiffsfahrpläne genauestens zu studieren. Aber immer kam irgendetwas dazwischen… Im vergangenen Sommer waren wir immerhin mit der gesamten Redaktion in Jenisseisk. Allerdings gelangten wir nicht über den Wasserweg dorthin, sondern mit dem Autobus.

Die Redaktion von „Land-Leben“ nimmt seit drei Jahren am Interregionalen Forum der Masseninformationsmittel „Jenissei. RF“ teil, das seit 2011 jedes Jahr in der Region Krasnojarsk stattfindet. 2011 trug unsere Zeitung, dank der Aktion „Mit einem Vierzeiler wie aus einer Kanone“, sogar den Sieg im Mediaforum-Wettbewerb davon und wurde Preisträger für die Nominierung „Aus dem Rahmen fallen“. Wie groß war unser Erstaunen, als wir erfuhren, dass das Veranstaltungsprogramm in diesem Jahr eine grandiose Presse-Tour durch die Krasnojarsker Region vorsieht.

So versammelten sich also am 12. Juni sechs Teams am Theater für Oper und Ballett. Mehr als 250 Leute. Viele bekannte Gesichter – die Journalisten waren nicht nur aus der gesamten Region gekommen. In der Reisegruppe befanden sich Kollegen aus dem Altai-Gebiet, aus Burjatien, Nowosibirsk, Irkutsk, Kemerowo, Jekaterinburg, Moskau („Russia Today“, „RSchD-TV“). Auch ein Filmaufnahme-Team des polnischen Fernsehens, des Norddeutschen Rundfunks und ein Foto-Korrespondent der internationalen Agentur Reuters hatten sich uns zugesellt.

Zur selben Stunde machte sich diese ganze Armada, ausgerüstet mit Filmaufnahme-Geräten, auf die Reise. Mit Flugzeug, Eisenbahn, Schiff, Fahrzeugen, Autobussen – in alle Himmelsrichtungen – nach Nord und Süd, nach Ost und West. Eine derartige Reise fand zum ersten Mal in der Geschichte der Region statt. Der Dank gilt der Assoziation der Fernsehsender und Fernsehproduzenten „Jenissei.TV“, der Vereinigung der Journalisten der Region Krasnojarsk – denn es war ihre Initiative. Doch hätte sie wohl kaum realisiert werden können, wenn sie nicht die Unterstützung von Gouverneur Lew Kusnezow und der Regionsregierung erhalten hätte.

Ich hatte das Glück, in die Flussfahrt-Gemeinschaft hinein zu geraten. Mit dem Schiff werden wir die 413 Kilometer bis nach Jenisseisk zurücklegen. Wir werden die Möglichkeit haben, in den Bezirken Kasatschinskoe, Bolschemurts, Pirowsk und Jenisseisk, in Lessosibirsk und, natürlich, in der Perle unserer Region – der alten Stadt Jenisseisk zu verweilen. Aber jeder Journalist hat seine eigene Reiseliste, seine eigenen Vorlieben. Bei mir stehen alle Gedanken mit der Heimatkunde in Beziehung, und dementsprechend wähle ich auch meine Route aus.

Zu unserer kreativen Brigade gehören 60 Mann – Vertreter von Krasnojarsk, 18 Städten und Bezirken der Region Krasnojarsk, des Altai-Gebiets sowie der deutschen Fernsehgesellschaft NDR und der internationalen Nachrichten-Agentur Reuters. Sie alle befinden sich nun an Deck. Unaufhörlich klicken die Verschlüsse der Fotoapparate. Die Objektive der Telekameras sind auf die Ufer des Jenisseis gerichtet.

Eine Insel nach der anderen

Vom Wasser aus erscheint Krasnojarsk noch schöner. Es kommt einem so vor, als ob es denjenigen, die sich zum ersten Mal in unserer Region aufgehalten haben, nicht gelungen ist, sich genügend an den Ansichten ihrer Hauptstadt satt zu sehen, aber das Schiff trägt uns auch noch über ihre Grenzen hinaus. Die Geschwindigkeit beträgt etwa 23 Kilometer pro Stunde. Die Industrielandschaften stehen ein wenig hinter der malerischen sibirischen Natur zurück. 50 Minuten später haben wir bereits Pestschanka erreicht.

Die Flussbreite beträgt ungefähr 600 Meter, erreicht jedoch stellenweise bis zu 2 Kilometer.
Die Ufer sind hier nicht sonderlich hoch, zusammengesetzt aus löcherigem Gestein, aber auch aus Sand- und Kalkstein. Der Fluss fließt in seinem breiten Flussbett dahin, geteilt von Inseln und Nebenarmen. Niemals hätte ich gedacht, dass es im Jenissei derart viele Inseln gibt. Große und kleine, eine nach der anderen, den ohnehin schon gewundenen Fahrweg (der Fluss ändert unentwegt seine Richtung) noch weiter erschwerend. Wir hatten noch nicht ganz die Insel Chudonogowskij passiert, da lag vor uns bereits die nächste – noch größer – die Insel Essaulskij. Der Nebenarm Bystraja fliegt vorbei, links ist das Dorf Tschastoostrowskoje zu sehen, rechts Tartat und in Kursrichtung wieder zwei Inseln – die Tschastoostrowsker und Cholowatow.

Ich steige zum Ruderhaus des Schiffs hinauf. Hinter dem Steuerrad – der zweite Assistent des Kapitäns Andrej Lissin. Rein äußerlich ein ganz junger Mann. Aber es stellt sich heraus, dass er bereits in der 9. Schifffahrtssaison auf dem Jenissei unterwegs ist. Um 14 Uhr hat er seinen Wachdienst angetreten. Vor ihm – eine Lotsenkarte vom Jenissei. Aus ihr erfahre ich auch, dass bei Kilometer 53 (Entfernung – axial der Hauptschiffsroute von der Anlegestelle in Krasnojarsk) der Tschastoostrowsker Übergang beginnt. Schiffsführermüssen hier aufmerksam sein: sie müssen die anhaltende Wirkung der Strömung berücksichtigen, die sich auf den Nebenarm Bystraja richtet, aber auch die abfallende Strömung an der linken Seite.

Schwarze Kuppleln

16 Uhr. Genau drei Stunden sind wir jetzt unterwegs. Sie sind so schnell verflogen, als hätte es sich nur um eine einzige Minute gehandelt. Wir nähern uns der Ortschaft Barabanowo… Die gesamte Journalisten-Bruderschaft stürzt sich auf die linke Bordseite. In weiter Ferne, am hohen Ufer zeigte sich die schwarze Silhouette einer Kirche. Nach der technogenen Landschaft ein so altes Gebäude zu sehen – und dazu noch so ein wunderschönes Beispiel hölzerner Baukunst – stellte für viele meiner Kollegen etwas völlig Unerwartetes dar. Die Kirche wurde 1857 im Namen der heiligen Märtyrerin Paraskewa erbaut. Durch was für ein Wunder ist sie erhalten geblieben? Wie viele Brände, andere elementare Katastrophen (natürliche und politische) senkten sich in eineinhalb Jahrhunderten auf ihre Kuppeln herab. Aber die Kirche steht! Allerdings steht sie dort, um die Wahrheit zu sagen, mit allerletzter Kraft. Aufgrund des undichten Dachs sind die Wände zerstört, einer der Türme ist zerbrochen. Mag gut sein, dass die Kirche bald einstürzt. Wie viele Filme und Motive (unter anderem auch von ausländischen Firmen) wurden über dieses Denkmal bereits gedreht, wie viele Wallfahrer und Touristen sind bereits hier gewesen, und der Menschenstrom nimmt weiter zu, doch die Restaurierung befindet sich einstweilen lediglich in Planung.

Vor der Revolution gehörten noch drei Dörfer – Karymskaja, Schiwerskaja und Dodonowo zur Barabanowkser Kirchengemeinde. Letztere ist am gegenüberliegenden Ufer des Jenissei gelegen.

Dodonowo erklang in allen Sprachen

In der Begeisterung für die architektonischen Denkmäler hätten wir beinahe diesen wichtigen Punkt verpasst. Glasklar zu sehen ist der Fährübergang, wie es scheint, der erste, der auf unserer Route liegt. Von Barabanowo kann man innerhalb weniger Minuten zum rechten Ufer übersetzen – von West- nach Ostsibirien. Mehrere Fahrzeuge warten auf die Fähre. Hier gibt es ein kleines Haff, welches für das Ankern und die Reparatur von Schiffen der amtlichen Flotte vorgesehen ist.

Aber dadurch ist Dodonow nicht in der ganzen Welt berühmt.

Vor 64 Jahren beobachteten die Einwohner der umliegenden Dörfer, Fischer und Passagiere vorbeifahrender Schiffe, wie an der Anlegestelle dieser keineswegs bemerkenswerten Siedlung ein riesiger Lastkahn nach dem anderen festmachte. Auf der kurzen, 65 Kilometer langen Route Krasnojarsk – Dodonowo entfaltete sich im Eiltempo ein nie gesehener Güterumschlag. Am 20. August 1949 machte bei Dodonowo das Motorschiff „Maria Uljanowa“ fest, mit dem tausende Männer in Kriegsuniform eintrafen. Niemand wusste, was für ein großes Bauwerk in der undurchdringlichen Taiga entstehen würde. Über einen ziemlich langen Zeitraum gelang e , das geplante Bauvorhaben auch vor ausländischen Spionage-Organisationen geheim zu halten. Aber einige Jahre später ertönte die Wortverbindung „Dodonowsker Reaktor“ in allen Sprachen der Welt. Nur in der russischen nicht. Erst nach Jahrzehnten erfuhren die Sibirjaken, dass in den Felsen des Atamanowsker Holzblocks ein unterirdisches Kombinat zur Bearbeitung von Waffen-Plutonium verborgen liegt – angefüllt mit atomaren Kriegssprengsätzen.

Die Schiffspassage wird eingeengt

Unterdessen passierte die „M.J. Lermontow“ die Insel Barabanowskij (Kilometer 69) und gelangte in den ersten schwierigen Abschnitt unserer Route. Entsprechend den Regeln ist es Passagierschiffen, Frachtern und Tankern sowie Schlepp- und Schub-Karawanen, die aus beladenen Lastkähnen bestehen, auf den bevorstehenden 15 Kilometern, bis zur Ortschaft Atamanowo, während der dunklen Tageszeit verboten flussabwärts zu fahren.

Da ist sie – der Sredne-Schiwersker Sandbank. Sie beginnt bei Kilometer 73. Eineinhalb Kilometer weiter dichtgedrängte Bergketten und felsiger Untergrund. Zudem erfolgt die Fahrt des Schiffs wegen der steinig-schotterhaltigen Landzunge von Potechina in Schlangenlinien. Hier wurde ein Staudamm errichtet. Die Strömungsgeschwindigkeit an der Sandbank erreicht 10 Kilometer pro Stunde, vorher war das Wasser mit 4-5 Stundenkilometern dahingeplätschert.

An der Sandbank verläuft der Schiffsverkehr einseitig, es ist verboten von der vorgeschriebenen Route abzuweichen; außerdem herrscht hier Überholverbot. Die flussabwärts ziehenden Schiffe machen, nachdem sie eine Wende zur Insel Barabanowskij eingeschlagen haben, bei Kilometer 69 halt. Entgegenkommende Schiffe werfen die Anker und warten darauf, dass sie bei Kilometer 80 an die Reihe kommen, am linken Ufer. Wir bemerken, dass bei den schwimmenden Navigationssignalen – roten und weißen Bojen – lange Stangen gesetzt wurden. Das sind Kontrollbaken, die der zusätzlichen Kennzeichnung der gefährlichen Stellen dienen.

Das Fahrwasser ist hier sehr schmal, und überall gibt es felsige Vorsprünge. Im oberen Abschnitt der Sandbank hält sich der Steuermann am linken Rand, um so die Felsvorsprünge im Bereich der roten Bojen zu meiden. Im unteren Teil führt er das Schiff ein wenig weiter rechts vorbei, in etwas größerer Entfernung vom linken Fels-Ufer.

Die „Lermontow“ meistert erfolgreich den gefährlichen Bereich. Keiner der Passagiere hatte gemerkt, dass das Schiff eine derart gefahrvolle Stelle passiert hatte. Alle fotografierten begeistert die malerischen Ufer. Links und rechts Inseln, links kleinere, zur rechten Uferseite hin eine größere, mit dem merkwürdigen Namen Mamaitsch. Doch niemand achtet darauf. Das Schiff macht eine Linkswendung. Wir wissen bereits, dass sich am Kap Schiwerskij Krasch bald der Barynja-Felsen zeigen wird.

2. Zwischen Ost und West

U-Boote auf dem Jenissei

Links verläuft der malerische Atamanowsker Gebirgskamm. Inmitten von zartem Grün treten scharfe Felsen hervor. Ihre ungeordnete Anhäufung ähnelt von Weitem einer uralten Festung. Oben sind die Berge mit Mischwald bedeckt. Die dunklen Nadeln der Kiefern dominieren unter den hellen Lärchenkronen. An den steilen Abhängen sieht man schmale Pfade. Und unten, auf den trockenen Landstreifen – die Gestalten von Fischern.

Man kann sich am Anblick dieser Landschaft gar nicht sattsehen. Aber wie könnte man das rechte Ufer unbeachtet lassen? Dort gibt es zwischen Bergen und Wäldern eine Vielzahl unterschiedlicher Gebäude. Und der Uferrand nimmt eine verdächtig gerade Form an. So sieht es aus auf den hohen waldbewachsenen Bergen. Ebenmäßig, in gleichmäßiger Höhe, ist Felsgestein sichtbar, die Böschungen sind hier und da mit Wald bedeckt. Das hat wohl kaum Mütterchen Natur zustande gebracht. Der Leser rät bereits, dass hier der Besitz eines einst höchst geheimen Unternehmens der Atom-Industrie beginnt.

Eine Vielzahl von Legenden und unglaublichen Gerüchten entstanden in den Jahren seiner Existenz. Die Einen bekräftigten, dass man hier Atomwaffen produziert, andere „berichteten“ glaubhaft von Uran-Bergwerken, in denen zum Tode verdammte Häftlinge arbeiteten, von denen einer nach dem anderen durch die tödliche Strahlung sein Leben ließ. Ihre Leichen werden stapelweise am Ufer gelagert, und die Wachen lösen sich im Fünf-Minuten-Takt ab. Lange Zeit kursierte in der Bevölkerung das Märchen darüber, dass in der „Neun“ atombetriebene U-Boote gebaut würden. Und dass von der Atamanowsker Gebirgskette aus die U-Boote auf dem Jenissei ins nördliche Eismeer führen….

Und was für ein Rätsel tragen die Berge der rechten Uferseite tatsächlich in sich?

Bei Prischim

Vor 63 Jahren, am 26. Februar 1950, verabschiedete der Ministerrat der UdSSR die Anordnung zum Bau eines Rüstungsbetriebs in der Region Krasnojarsk zur Aufbereitung von Plutonium für Atomwaffen – des Kombinats N° 815. Das Dokument wurde von Josef Stalin unterzeichnet. Aber bereits früher war ein militärisches Bau-Bataillon am Ufer des Jenisseis eingetroffen, welches damit begann einen Weg von Dodonowo zum Ort der zukünftigen Baustelle zu bahnen. Zu der Zeit wurden Erkundungen durchgeführt, topographische Aufnahmen gemacht, tausende von Laufmetern geologischer Bohrlöcher in den Boden getrieben.

Warum fiel die Wahl des Standorts für diesen Rüstungskomplex ausgerechnet auf so ein abgelegenes Fleckchen Erde? Hier kamen mehrere Faktoren zusammen. Zur Kühlung des Reaktors war ein Menge Wasser nötig; deswegen sollte sich das Kombinat in der Nähe eines Gewässers befinden. Aus Gründen der Geheimhaltung musste es auch sorgfältig verborgen und weitab der Grenzen der Sowjetunion liegen, vorzugsweise in den Tiefen der sibirischen Bergwerke. Zum Schutz vor möglichen Atom-Explosionen – ganz tief unten in der Erde, genauer gesagt: unter einer mächtigen Granitschicht.

Als beste Stelle erwies sich Prischim – dort, wo der Atamanowsker Gebirgskamm an den Jenissei heranreicht.

Die Tunnel- und Bau-Arbeiten wurden rund um die Uhr geführt. Ins Bergmassiv drang man gleichzeitig von mehreren Punkten aus vor. Außerdem verliefen die Arbeiten zur selben Zeit in fünf-sechs Horizontalen. Zu diesem Zweck wurden neun Schächte mit einem Querschnitt von 24 Quadratmetern sowie Tunnel mit einem Durchmesser von 30-35 Quadratmetern in das Gestein hineingetrieben. Tunnel und Schächte führten zu der Stelle, an der der Atomreaktor errichtet werden sollte. Die Tunnel waren auch für das Verlegen einer Eisenbahnlinie notwendig, außerdem für die Zufuhr von Frischluft sowie Wasser aus dem Jenissei beim nächsten Wasserablass.

Der Durchbruch wurde mittels Bohr- und Sprengverfahren verwirklicht. Das Gestein wurde aus dem Inneren des Gebirgskamms durch die Schächte und unterirdischen Aufzüge an die Oberfläche gebracht, von Elektro-Loks, welche mit Hilfe von Akku-Batterien betrieben wurden zum Jenissei gebracht und am Uferrand abgeschüttet.

Aus dem Berg wurden 15 Millionen Kubikmeter Felsgestein abtransportiert. Dort, wo sich früher der Jenissei an die sehr steilen Felsen gedrückt hatte und es sogar unmöglich gewesen war, auch nur ganz schmale Pfade anzulegen, entstand eine Terrasse. Die Bauleute gaben ihr den Namen „Regal“. Die Bezeichnung war dermaßen gelungen, dass sie für immer bestehen blieb. Auf dieser Terrasse verlegte man eine Bahnlinie und eine Straße für Fahrzeuge.

Übrigens, mit der Entstehung der Terrasse verengte sich das Flussbett des Jenisseis, und die Strömungsgeschwindigkeit vergrößerte sich; die Binnenschiffer beklagten sich, dass es nun für die alten Raddampfer schwierig war, gegen die Strömung anzukommen. Aber ohne das „Regal“ – kein Zugang zum unterirdischen Kombinat.

Gebaut wurden die Fabriken und die Stadt von Militär-Bauarbeitern, teilweise auch von Häftlingen. Im Jahre 1950 gab das Ministerium für innere Angelegenheiten (MWD) der UdSSR den Befehl über die Einrichtung eines Umerziehungs- und Arbeitslagers beim Bauprojekt N° 994 (Postfach N° 9) heraus. Aufgrund der Postfachnummer ergab sich auch der inoffizielle Name der Stadt – die Neun. Errichtet wurde sie 10 Kilometer südlich der wichtigsten Objekte, in der ehemaligen Flussniederung des Jenissei. Man nannte sie Sozgorod. An vielen ufernahen Stellen, in der entlegensten Taiga lagen Abteilungen und Lager-Außenstellen des Umerziehungs- und Arbeitslagers „Poljanskij“, unter anderem auch in Dodonowo, Schiwery und Atamanowo.

Die Verwaltung N° 994 nannte sich aus konspirativen Gründen Bauverwaltung der Eisenerz-Gruben, obwohl hier von Eisenerz-Fundstätten überhaupt keine Rede sein konnte. Die Verwaltung N° 994 war zusammen mit allen subunternehmerischen Montage-Organisationen und dem Umerziehungs- und Arbeitslager „Poljanskij“ dem Glawpomstroj (Haupt-Industriebetrieb; Anm. d. Übers.) beim MWD der UdSSR unterstellt.

1958 brachte das Kombinat das erste Plutonium hervor. 1961 wurde der zweite Reaktor in Betrieb genommen – ADE-1, 1964 der dritte – ADE-3. In Betrieb genommen wurde auch ein unterirdisches Wärme- und Fern-Heizwerk. Die beiden ersten Aggregate arbeiteten im Durchlauf-Betrieb. Es war so, dass der Jenissei ebenfalls an der Schaffung des Atom-Raketen-Schutzschilds unserer Heimat beteiligt war. Durch spezielle Rohre floss sein Wasser in den Berg, um die Reaktoren abzukühlen, um sich dann bei Kilometer 80 zurück in den Fluss zu stürzen.

Das unterirdische Reich

… Vor 16 Jahren ergab sich für die Journalisten unserer Redaktion die seltene Möglichkeit, sich im Berg aufzuhalten. ZU dem Zeitpunkt waren zwei der Reaktoren bereits abgeschaltet worden. Doch der ADE-2 und das atombetriebene Kraftwerk waren noch in Betrieb (sie wurden 2010 heruntergefahren).

Lange fuhren wir durch die Tunnelsysteme (unter ihnen gab es auch vorgetäuschte), bis wir schließlich auf die Passagierplattform des Elektrozuges gelangten. Der hohe „Korridor war mit Marmor und Fliesen verkleidet und ähnelt deswegen sehr stark einer Metro-Station. Von hier aus fuhren wir mit einem Fahrstuhl ins unterirdische Reich hinunter – mehr als 200 Meter tief, bis zur der Stelle, an der sich der stillgelegte Reaktor befand. Überall im Berg fiel die enorme Fantasie ins Auge. Es stellte sich heraus, dass die Produktionsgereiche in verschiedenen Ebenen lagen, von der 8. bis zur 11. Etage. Einzigartig aufgrund ihrer Größe, untergebracht in mitten der Abbaustellen des Berges, mehr als 80 Meter hoch, 20 Meter breit und über 100 Meter lang. Wir beobachteten, wie Mitarbeiter von einem Arbeitszimmer ins nächste mit Fahrrädern über den Korridor fuhren. Im Grunde genommen hätten darauf auch zwei Autos aneinander vorbei kommen können. Solche geräumigen Flächen gab es also in diesem unterirdischen Schloss. Alles Gesehene kam einem einfach nur unglaublich phantastisch vor.

Offenbar bezeichnen die Spezialisten das Bergbau- und Chemie-Kombinat nicht umsonst als Perle unter den Atom-Projekten.

In keinem Land gibt es vergleichbare unterirdische Anlagen dieser Art, und es wird sie wohl auch in Zukunft nicht geben.

3. Zwischen Ost und West

Der Atamanowsker Ochse. Der Stein. So nennt man den Berg, an dessen Fuß die Ortschaft Atamanowo gelegen ist. Der Lieblingserholungsplatz der Dorfbewohner. Der Ausblick vom Stein aus ist einfach erschütternd. Als wen alles auf der Handfläche liegt – der schöne Jenissei, die ufernahen Nadelwäldchen, die riesigen Findlinge am rechten Ufer. Amateure mit Fotoapparaten und Videokameras klettern an der nördlichen, leicht abfallend Böschung bis ganz nach oben, um sich unvergessliche Bilder einzuprägen. Um den Stein winden sich zahlreiche Legenden. Eine davon wurde vor 20 Jahren in einer ökologischen Zeitung veröffentlicht. Allen Ernstes wurde dort mitgeteilt, dass die Alteingesessenen von Atamanowo sich daran erinnern, wie Begleitsoldaten einen Trupp von Gefangenen in die geheime Höhle des Steins trieben – zum Bau der geheimen „neunten“ Stadt. Und die Menschen verschwanden spurlos. Das ist natürlich alles ausgedacht. Doch der Stein birgt trotzdem viele Geheimnisse in sich. Über einige davon kann man in den Reisenotizen der Olga Wawilenko „Zwischen Ost und West“ nachlesen, die auf den Seiten 3 und 8 veröffentlicht sind.

Thema für einen Phantasy-Film

Unser Schiff, die „M.J. Lermontow“, setzt seine Reise auf dem Jenissei fort. Ausnahmslos alle Teilnehmer er Presse-Tour „Jenissei RF-2013“ befinden sich an Deck. Wir ergötzen uns am malerischen Anblick der Ufer. Der Bug des Schiffs zerteilt den Wasserspiegel, die Wellen rollen gegen die Ufer… Und zu genau derselben Zeit fährt unter dem Schiffsrumpf von einer Uferseite zur anderen ein Auto. Steuermann und Autofahrer sehen einander nicht. Auch das Dröhnen der Motoren ist nicht hörbar. Doch niemanden stört diese Tatsache: schließlich ist ein Zusammenstoß unmöglich.

Der Kapitän, seine Mannschaft und wir, ein paar Krasnojarsker Journalisten, wissen von dieser geheimen „Kreuzung“. Die übrigen Passagiere sind einfach nicht in der Lage, sich dieses unwahrscheinliche Bild vorzustellen… Nichtsdestoweniger handelt es sich überhaupt nicht um Phantasie – sondern um wahre Realität, dass sich eben gerade an einem bestimmten Punkt die Wege zweier Transportmittel gekreuzt haben. Das Schiff setzt, ohne seine Geschwindigkeit zu vermindern, seine Fahrt fort in Richtung Atamanowsker Stein, und der PKW taucht einige Zeit später, als wäre nichts gewesen, am rechten Ufer des Jenisseis auf, vor der Ortschaft Prischim. Wie kann das sein?

Auf unserer Reise sind wir bereits vier Flussübergängen begegnet – drei Brücken, der „Oktjabrskij“, der „Tri Semerki“ in Krasnojarsk, der Putinsker nahe Berjosowka, und einer Fähre bei Dodonowo. Und nun passieren wir die fünfte Übergangsstelle. Sie ist ganz besonders exotisch. Niemand vermag sie zu sehen. Sie verfügt über keinerlei Erkennungszeichen! Das wäre ja auch noch schöner! Schließlich handelt es sich vor ein paar Jahrzehnten noch um ein streng geheimes Objekt! Das Auto durchquert in aller Ruhe den Jenissei, weil man seine Strecke tief unter dem Wasser und - unter der Erde verlegte. Und falls man es noch präziser ausdrücken möchte – unter einer dicken Granitschicht.

Schirmlose Mützen mit dem Emblem der Marine

Zum Jahr 1958 waren alle wichtigen Bau- und Montagearbeiten abgeschlossen, und das Bergbau- und Chemie-Kombinat begann mit der Aufbereitung von Waffen-Plutonium.

Konnte der Jenissei wissen, dass sich hier zwei Jahrzehnte später noch eine geheimes Bauprojekt entfalten sollte? Zuerst an den Uferseiten. Später … Unglaublich – doch die Mechanismen liefen tatsächlich unter dem Grund des mächtigen Flusses an. Man fing mit der Verlegung von Tunneln mitten im Granit-Massiv an.

Unser Schiff bahnt sich seinen Weg durch die ungestüme Strömung. Hier beträgt die Breite des Jenisseis mehr als 600 Meter. Unfassbar: wie kann man unter einem derart reißenden Strom eine solche Anlage bauen.

Wahrscheinlich wurde das Flussbecken zunächst einmal von Tauchern überprüft. Im Östlichen Kontor (so wurde das Kombinat damals genannt) tauchte bereits 1952 ein Trupp Seeleute von der Flotte auf. Die EPRON – die Forschungsexpedition für besondere Unterwasserarbeiten. Damals begann der Bau einer hydrotechnischen Anlage. Daran beteiligt waren die besten Kader militärischer Spezialisten – Hydrotechniker, Taucher der Seeflotte.

Die Seeleute walzten den Grund des Jenissei glatt. Unter den Wassermassen bohrten sie Sprenglöcher in den Granit, verlegten Gräben und Rohrleitungen. Sie schufen ein einzigartiges System der Wasserversorgung für die Kühlung des Reaktors. Keine ähnliche Anlage lässt sich mit dieser im Hinblick auf Leistung, hydrologische Bedingungen und Zuverlässigkeit der Ausnutzung vergleichen.

Man kann sich schwer vorstellen, wie wohl die Taucher an den Atamanowsker Steinen gearbeitet haben. Denn an der Sandbank erhöht sich die Strömungsgeschwindigkeit um ein Vielfaches. In wasserdichten Anzügen (jeder von ihnen wiegt 85 Kilogramm) bewegten sich die Seeleute kriechend über den Grund voran. Sie mussten nicht nur gegen die heftige Strömung ankämpfen, sondern litten auch unter der Kälte. Selbst bei Julihitze bleibt das Wasser des Jenissei eiskalt.

Übrigens, eine Tauchereinheit existiert beim Kombinat auch heute noch, denn die hydrotechnischen Anlagen müssen ständig gewartet und auf einen einwandfreien Zustand überprüft werden.

Der Bau des Tunnels, der zum Komplex der Fabrik für Weiterverarbeitung und Aufbereitung von Kernbrennstoff gehörte (des berühmten RT-2), begann unter dem Code-Namen „Objekt 803“ im Jahre 1977. Bis zu dem Zeitpunkt hatten Geologen sehr lange nach einer geeigneten Öffnung für die Lagerung flüssiger radioaktiver Materialien in den unteririschen Horizonten gesucht. Mehr als 200 Bohrlöcher wurden angelegt. Die Suchobusimzer erinnern sich, wie aus einem von ihnen aus einer Tiefe von 1500 Metern eine Fontaine mit sauberstem Wasser hervorschoss.

Natürlich wäre es weitaus bequemer und wirtschaftlicher gewesen, das Versuchsgelände mit radioaktiven Abfällen in der Nähe der Fabrik unterzubringen. Doch wie sehr man auch suchte - es fand sich am rechten Ufer einfach kein natürliches Reservoir, das eine gefahrlose Lagerung gewährleistet hätte. Den idealen Platz entdeckten sie am linken Ufer beim Dorf Tolstomyssowo. Hier beschlossen sie, das Versuchsgelände „West“ zu errichten, das von allen „Feld 27“ genannt wurde.

Um die Abfälle vom rechten ans linke Ufer pumpen zu können, benötigte man entweder eine hängende Rohrleitung, einen Düker (Druckleitung zur Unterquerung; Anm. d. Übers.) oder einen Tunnel. Die letzte Variante war auch die teuerste. Dennoch wurde sie gewählt, weil sie am sichersten war. An dem „Objekt 803“ wurde 14 Jahre lang gebaut. Und weil der Grund des Jensseis in dieser Gegend steinig ist, schlugen sie den Tunnel durch das dicke Granitgestein. Bekanntlich nahmen sie die Bohrungen durch das Gestein gleichzeitig von beiden Uferseiten aus vor. 1985 bereitete man sich bereits für den Durchbruch vor, und 1986 ereignete sich der Reaktor-Unfall von Tschernobyl.

Durch das Land rollte eine Welle des Protests, der Bau der Fabrik RT-2 wurde gestoppt. Am Tunnel wurde indessen weiter gebaut.

Der Durchbruch geschah am 8. Oktober 1985 unter dem stürmischen Jubel der Bauarbeiter. Na also! Es war also gelungen – man hatte unter solchen Bedingungen die Projekt-Parameter haargenau erfüllt.

Ein Objekt nationalen Eigentums

Der Tunnel besteht aus zwei Ebenen. Der untere, mit einer Höhe von 3,3 Metern, ist für die Verlegung von fünf Reihen nicht rostender Rohre vorgesehen, die in Abflussrinnen aus Stahlbeton liegen – für die Durchfahrt des Straßentransports, die Gewährleistung des Betriebs des speziellen Stromnetzes und das Passieren von Menschen. Bald darauf war die Magistrale fertig. Sie wurde von Autos benutzt. Allerdings nicht in der zweiten, sondern in der ersten Etage. Sie hatten es nicht geschafft, die Rohre zu verlegen.

Während Atombefürworter und „Grüne“ miteinander in Querelen lagen, schritt die Wissenschaft voran. Die Technologie der Aufbereitung von Atombrennstoffen änderte sich von Grund auf, flüssige Abfälle waren dabei ausgeschlossen. Niemand brauchte die „Fläche 27“ oder den Tunnel noch. Als Industrie-Objekte wurden sie in ihrer ursprünglich geplanten Bestimmung nicht einen einzigen Tag genutzt.

Die grandiose Unterwasser-Anlage wurde stillgelegt.

Seit 1994 hatten Mitarbeiter der Zeitung „Landleben“ mehrmals die Gelegenheit, unter dem Jenissei hindurch ans recht Flussufer zu fahren. Und jedes Mal fahren wir mit stockenden Herzen in die hohen eisernen Tore hinein. Zuerst bewegen wir uns noch auf dem Festland, dann macht das Auto eine Wende und die Straße führt abwärts. Das ist ein Gefühl, als ob man in eine gigantische Höhle einfährt. Der Tunnel wurde 47 Meter unterhalb des Jenissei-Grunds verlegt.

Da die Geschwindigkeit des Fahrzeugs ungefähr 20 Stundenkilometer beträgt, brauchen wir lange, bis wir das rechte Ufer erreicht haben. Die Strecke kommt einem vor wie 5 Kilometer. In Wirklichkeit ist sie weniger als halb so lang – 2,2 Kilometer. Die Stahlbetonwände sind nur spärlich von elektrischen Lampen beleuchtet. Düster sieht es dort unten aus. Irgendwo unterwegs befinden sich Pfützen, von der Decke und den Wänden tropft Wasser. Die Fahrbahn ist sechs Meter breit; zwei Fahrzeuge können nicht aneinander vorbei kommen.
Und laut Verkehrsregeln lässt die Wache in einem einspurigen Tunnel auch nur ein einziges Auto hindurchfahren.

Im Zentrum diesw3er Anlage gibt es einen riesigen Raum mit einer Länge von 60 Metern, in dem sich die Pumpstation befindet. Sie ist noch 6 Meter tiefer als der Tunnel selbst. Mächtige Pumpen sind Tag und Nacht im Einsatz, um Unmengen Wasser herauszupumpen.

Am Ende der Reise, vor dem Aufstieg zur Tunnelausfahrt – erneut eine Wegbiegung. Von der Anordnung her erinnert der Tunnel an den lateinischen Buchstaben S. Sogar in diesem Detail erwies sich die Anlage als nicht dem Standard entsprechend; für gewöhnlich verla7ufen T8unnel nämlich ganz gradlinig. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sich eine ähnliche Magistrale unter keinem anderen riesigen Flüssen der Welt finden lässt.

20 Jahre sind vergangen. Der Tunnel steht ungenützt herum, nur ab und an kommen hier Fahrzeuge unbedeutender Größe mit einer Sondergenehmigung vorbei.

Von Zeit zu Zeit ertönte der Vorschlag, das Objekt 803 zu fluten, denn sein Unterhalt erfordert nicht wenige Mittel. Aber es hat wohl niemand seine Hand gehoben, um das einzigartige, als Nationaleigentum geltende Objekt zu begraben. Zu Beginn des diesjährigen Sommers verkündete das Kombinat in Partnerschaft mit der Sibirischen Föderalen Universität einen Projekt-Wettbewerb, um endlich eine Verwendung für dieses einmalige Objekt zu finden.

Botschaft aus den Tiefen der Jahrhunderte

Was für ein Vergnügen – mit dem Schiff zu fahren. Ununterbrochen kann man auf das dahin fließende Wasser schauen. Nach einigen Minuten der Betrachtung gerät man in einen gänzlich ungewöhnlichen Zustand. Das großartige Geschenk der Natur – das Wasser – trägt alle Erlebnisse mit sich fort. In der Seele bleiben Ruhe und Frieden zurück. Den Lärm des Flusses hören, seine Luft atmen – und seinen Willen den Wellen hingeben…

Doch manchmal, wenn man von Deck aus etwas Ungewöhnliches siehst, möchte man wohl auch gern ans Ufer hinuntergehen. Um ein wenig genauer und ganz aus der Nähe die Natur-Schutz-Eckchen anzuschauen und die Geheimnisse zu berühren, welche der Jenissei in sich verwahrt.

Ich blicke auf die Felsen des Atamnowsker Ochsen (die Ortsbewohner nennen ihn „den Stein“) und versuche mir ein Bild aus der Vergangenheit vorzustellen.

… Die Bronze-Zeit. Ende des 2. – Anfang des 1. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung. Am Absatz des „Steins“ eine steile Wand mit einer Höhe von ungefähr 20 Meter. Dort ist wohl kaum die kleine, unbewegliche Gestalt eines Menschen zu erkennen. Welche Not hat ihnen auf den Berg hinaufgetragen, wo es kaum etwas Nützliches für das Leben gibt. Wilde Felsen, überwuchertes Geröll und ein Stückchen weiter – ein spärlich gewachsenes Wäldchen… Jeden beliebigen Augenblick kann der Draufgänger vom Felsen abstürzen und zerschellen. Es vergeht eine Stunde. Noch eine. Aber er verlässt den gefährlichen Ort nicht. Was macht er da? Und wie gelingt es ihm überhaupt, sich an der Klippe festzuhalten?

Wenn man näher an ihn heran könnte, würde man folgendes erkennen: der Mann steht in einer winzigen Nische auf einem kleinen Vorsprung. Aufgrund der unbequemen Haltung sind ihm wohl die Beine eingeschlafen. Doch er bemerkt weder Zeit noch Müdigkeit. In den Händen hält er irgendeine Waffe, vielleicht ist es auch nur ein Stein. Damit schlägt der Mann auf eine harte Oberfläche. Was mag das sein? Wir schauen etwas genauer hin. Auf dem Steinblock kommen irgendwelche Figuren zutage. O! Das ist eine Felszeichnung!

Der urzeitliche Mann hat sich nicht auf den Felsen gewagt, um dort Beute zu jagen. Offenbar ist es nicht so, dass er keine geeignete Behausung oder genügend Essensvorräte hat, sondern ihn treibt das unausrottbare Bedürfnis nach schöpferischer Tätigkeit voran, das Bedürfnis, sich selber auszudrücken. Der Urzeit-Künstler ist wohl von seinem Aufenthaltsort aus hier her gekommen. Heute liegt hier, an dieser Stelle, die Ortschaft Atamanowo.

Und so schlägt er Stunde um Stunde Silhouetten aus der Granitwand heraus. Insgesamt sind es nur ein paar Striche, aber es entsteht ein Bild. Ein großes Tier schaut mit ruhigem Blick in die Ferne. Es ähnelt einem Elch. Aber vielleicht ist es auch ein Maral – die sibirische Unterart des edlen Rentiers? Ich kenne mich damit nicht sonderlich gut aus. Wahrscheinlich kann der erfahrene Jäger eine genaue Definition geben. Zweifellos verfügte der urzeitliche Künstler über Talent und verlieh den Gestalten in seiner Darstellung ein realistisches Aussehen. Jedenfalls soweit dies möglich ist, denn die Linien müssen in sehr hartes Gestein hinein geschlagen werden. Doch selbst mit diesen spärlichen Hilfsmitteln sind die Proportionen des stolzen Herrschers der Taiga sehr gut wiedergegeben. Der mächtige Kopf, der gerade, nach vorn gestreckte Hals, die kräftigen Gliedmaßen, die fest auf der Erde stehen.

Unterhalb der Elch-Figur – ein Reh. Das graziöse Tier sieht aus, als ob es in der Luft schwebt. Entweder hat es eine Vorahnung vor einer Gefahr oder es setzt gleich zum Sprung an. Der lange Hals und die ebenfalls langen Beine sind angespannt wie eine Saite.

In den Felsen sind noch einige weitere Tierfiguren eingeschlagen, und ganz unten –d die kleine Gestalt eines menschlichen Wesens.

Ein Rätsel für Wissenschaftler

Urzeitliche Kunst, und hier besonders die Felsinschriften – sind eine der rätselhaftesten Erscheinungen in der Geschichte der Menschheit. Am Jenissei gibt es nicht wenige solcher „Galerien“. Die ersten russischen Siedler in Sibirien nannten Felsen mit Zeichnungen darauf „gemalte Steine“ und die Zeichnungen selber „Schriften“ oder „Schreibereien“. Später verwendete man im wissenschaftlichen Umfeld den Terminus Petrographie. Sie sind für die Wissenschaftler von großem Interesse.

Der Erste, der Ende des 17. Jahrhunderts über Felszeichnungen am Jenissei schrieb, war Nikolaj Spafarij. Während einer Reise nach China erfuhr er durch Wegführer von diesen Zeichnungen, hatte jedoch selber solche Darstellungen noch nicht gesehen. Ihre erste wissenschaftliche Beschreibung nahm der Forscher Daniel Gottlieb Messerschmidt vor, der auf Erlass Peters des I. nach Sibirien geschickt worden war – „zur Erforschung diverser seltener Dinge“. Der deutsche Forscher untersuchte die Zeichnungen und zeichnete die „geschriebenen Steine“ in der Nähe der Ortschaft Nowoselowo, dem Dorf Birjussy, später an der Angara und am rechten Ufer der Tunguska ab.

Seitdem vollbrachten auch russische Gelehrte sowie wissbegierige Menschen lange Reisen mit Booten, zu Pferde, meistens jedoch zu Fuß auf der Suche nach urzeitlichen Erscheinungen. Viele Rätsel birgt die Geschichte der Entdeckung und Erforschung der Atamanowsker Schreibereien in sich.

Der verlorene Schatz

1883 unternahm der Lehrer am Krasnojarsker Gymnasium W.K. Slatkowskij mehrere Exkursionen an den Ufern des Jenissei. Er ergötzte sich nicht nur an der Schönheit der Natur, sondern befasste sich auch mit Forschungstätigkeiten. Er sammelte eine ganze Kollektion von Berggesteinen sowie archäologische Erinnerungsstücke – Bruchstücke von Tontöpfen, Steine mit Bearbeitungsspuren. Vermutlich entdeckte er dann damals auch die Felszeichnungen am „Stein“, die er später abzeichnete. Seine Fundstücke zeigte er auch dem Direktor des Lehrer-Seminars I.T. Sawenkow. Dieser hervorragende Pädagoge war äußerst gebildet und ein sehr begabter Mensch. Er begeisterte sich für Theater und Schachspielen. Aber das Hauptanliegen in seinem Leben war die Archäologie. Sawenkow wurde sowohl für die Entdeckung der paläolithischen Standfläche auf dem Afontow-Berg weltweit bekannt, als auch wegen seiner wissenschaftlichen Arbeit „Über uralte Erinnerungsstätten der darstellenden Kunst am Jenissei“. Die Belohnung unseres Landsmanns für all seine Bemühungen, die Anerkennung seiner Verdienste war das Diplom eines Mitglieds und Berichterstatters der Imperatorischen Akademie der Wissenschaften. Kein anderer als Sawenkow veröffentlicht als Erster Informationen über die Atamanowsker Schriften. IN seiner Beschreibung sind 6 Figuren enthalten: drei Zeichnungen und Tierzeichen, 1 unvollendete Zeichnung und 2 unvollendete Zeichen. 1909 wurde diese Gedenkstätte auf der archäologischen Karte für den mittleren Jenissei eingetragen.

Im allgemeinen ist es so, dass nachfolgende Forschergenerationen mehrmals zu bereits entdeckten Erinnerungsstätten zurückkehren, sie noch einmal mit aller Gründlichkeit untersuchen und dann ihre Schlussfolgerungen ziehen. Aber die Zeichnungen des Atamanowsker Künstlers gerieten aus unbekannten Gründen in Vergessenheit. Die Archäologen unternahmen Versuche Petroglyphen zu finden, doch ohne Erfolg. Und obwohl sie sich unweit von Krasnojarsk befinden, ist es unmöglich, zu ihnen zu gelangen: der Felsen mit seiner Steilwand stürzt senkrecht ins Wasser ab. Außerdem war die genaue Lage der Felszeichnungen nicht bekannt. Angefangen mit dem Jahr 1950 bis in die 1990er Jahre spielte auch die entschiedene Abgeschlossenheit des Territoriums ihre Rolle. Um in unmittelbarer Nähe der geheimen Produktionsstätten arbeiten zu können, mussten die Wissenschaften höchstwahrscheinlich eine spezielle Zutrittsgenehmigung erhalten. Wie dem auch sei - mehr als 100 Jahre hörte man von diesem archäologischen Erinnerungsstück nichts.

Der Jenissei versteht es Geheimnisse zu wahren

Aber die Hoffnung verließ die Gelehrten nicht. Und sie fanden einen originellen Ausweg. Die Feldarbeit bei archäologischen Expeditionen erfolgt stets in der warmen Jahreszeit, sie beginnt im April – Mai und endet im Oktober. Der Doktoranwärter der Geschichtswissenschaften und Direktor des Museums für Archäologie und Ethnographie der Pädagogischen Universität Krasnojarsk, A.A. Saika, beschloss zusammen mit seinen Kollegen die Tradition zu verletzen und sich mitten im Winter an die „Feldarbeiten“ zu machen. Wie bekannt, friert der Jenissei in diesen Gegenden selbst bei grimmigstem Frost nicht zu. Aber in dem kalten Jahr 2010 bildete sich in der Nähe des „Steins“ eine dünne Eisschicht. Sie war, es die den Forschern als Start- und Ausgangsplatz diente. Von hier aus kletterten sie den Berg empor, wobei sie sorgfältig jeden einzelnen Zentimeter der steinernen Platten untersuchten. Ich weiß nicht, ob sie über die Fertigkeiten von Alpinisten verfügten, ob sie eine spezielle Ausrüstung mit sich führten, aber mir scheint, dass sie sich einem großen Risiko aussetzten, denn sie hätten jeden Augenblick von dem vereisten Felsen ins eisige Wasser des Jenissei stürzen können. Zum Glück wurde ihre selbstaufopfernde Hingabe belohnt. Es gelang ihnen, den verlorenen Schatz zu finden. Allerdings sind die Forscher der Meinung, dass sie noch nicht alle Zeichnungen entdeckt haben und dass man die Suche deshalb fortsetzen sollte.

Die Archäologen schufen situationsgemäße, topographische Pläne, fotografierten und beschrieben das Artefakt. Die vorläufige Information darüber von A.A. Saika, W.J. Matwejew, A.S. Techterekow und J.J. Matwejew wurde 2010 im fünften Almanach des Sammelwerks „Die Jenissejsker Provinz“ veröffentlicht.

4. Zwischen Ost und West

Popows Ikonenmalerei

Die Atamanowsker Röhre mit dem sorgfältig im Felsen verborgenen Bergbau- und Chemie-Kombinat und die für die Schifffahrt schwierige Sandbank liegen nun hinter uns.

Wir fahren weiter! Rechts zeigte sich die Ortschaft Atamanowo. Es ist 16.30 h. Folglich hat der Dampfer „M.J. Lermontow“ die 84 Kilometer vom Flussbahnhof bis nach Atamanowo in dreieinhalb Stunden bewältigt.

Die ersten Häuser klebten unmittelbar am Fuße des „Steins“. Hier in der Leninstraße sind noch Gebäude aus dem vergangenen und sogar dem vorletzten Jahrhundert erhalten geblieben. Allerdings gibt es auch zeitgenössische Datschen mit origineller Architektur. Aber wegen der hohen Einzäunungen kann man sie nur schwer erkennen. Die Ortschaft erstreckte sich am Ufer des Jenissei. Wie es heißt: an der Stelle des alten Flussbettes.

Die Geschichte eines der ältesten Dörfer des Jenissei-nahen Sibiriens, das von Ataman Tjumenzew gegründet wurde, kann bereits auf 366 Jahre zurückblicken. Auf einer Karte von S. Remisow aus dem Jahre 1701 ist die Siedlung als Tjumenzewo eingezeichnet. 1777 erbauten Orthodoxe an der gefälligsten Stelle, an der am höchsten gelegenen Stelle, eine steinerne Kirche zu Ehren der Heiligen Dreieinigkeit, später entstand noch ein Anbau im Namen des Heiligen Nikolaj. 1781 schuf man in der Tobolsker Eparchie (orthodoxes Bistum; Anm. d. Übers.) eine Behörde über den Bestand der Gemeinden. 74 davon befanden sich in den unmittelbar am Jenissei gelegenen Gegenden Sibiriens. Zu ihnen zählte auch die Atamanowsker Dreifaltigkeitsgemeinde mit ihren 760 Mitgliedern. Die Krasnojarsker Eparchie wurde 1861 gegründet, daher waren unsere Gemeinden damals der Tobolsker unterstellt.

Die Ikonostatse für die Kirche wurde 1863 von angestammten Meistern der Ikonenmalerei aus Jenisseisjk – Jefim Rodionowitsch, Matwej Semjonowitsch und Pjotr Matwejewitsch Popow gemalt. Auf welche wundersame Weise gerieten sie in diese Abgeschiedenheit? Schließlich handelte es sich bei ihnen um bekannte Künstler, die zuvor bereits die prächtige Blagoweschtschensker und die Allerheiligen-Kirchen in Krasnojarsk ausgemalt hatten.

Hier, 8in tiefster Abgeschiedenheit, verneigten sich vor ihren herrlichen Werken tausende von Kirchgängern aus Atamanowo, Chloptunowo, Bolschoj Baltschug, Nowonikolajewka und Podporoga. Um dem Gottesdienst in der dreifaltigkeitkirche beiwohnen zu können, setzten die Einwohner der drei letztgenannten Dörfer bis zum Jahr 1912 mit Booten über den Jenissei über; dann endlich wurde auch eine Kirche in Bolschoj Baltschug errichtet.

Eineinhalb Jahrhunderte überdauerte die Kirche dort, und an ihrem Anblick ergötzten sich die Menschen, die mit dem Schiff daran vorbei fuhren. Am 28. Juni 1922 traf die Krasnojarsker Landkreis- Kommission zur Beschlagnahme der wertvollen Kirchengüter in Atamanowo ein. Sämtliche Gegenstände, die für den Gottesdienst verwendet wurden, und die gesamte Kirchenausstattung, welche wertvolle Materialien enthielt – Messgewänder, Kreuze, Weihrauchgefäße, Gefäße für die Aufbewahrung der Hostien wurden aufgelistet und abtransportiert. In den 1930er Jahren wurde das Gotteshaus zunächst „enthauptet“ und anschließend Stein für Stein abgerissen. Nun gab es nichts mehr, an dem man seine Augen weiden konnte.

Am „Stein“ beginnt der Suchobusimsker Bezirk

Es stellt sich heraus, dass an den Ufern des Jenisseis ebenfalls „Weg“-Zeichen stehen – sie zeigen die Entfernung zum Flussbahnhof in Krasnojarsk. Mein Blick bleibt auf einem anderen Zeichen haften: denn hier beginnt mein heimatlicher Suchobusimsker Bezirk.

Am Jenisseisker Trakt steht eine hohe Stele, und alle Vorüberfahrenden wissen, dass sie hier die Grenze zum Suchobusimsker Bezirk überqueren. Leider gibt es am „Stein“ keinerlei, nicht einmal ein ganz einfaches „Grenz“-Pfählchen. Übrigens habe ich derartige Zeichen weder an den Ufern noch in anderen Verwaltungs- und Territorial-Gefügen gesehen, obwohl wir auf der Fahrt nach Jenisseisk noch drei weitere Bezirke passierten – den Bolschemurtinsker, den Kasatschinsker und den Jenisseijsker. Dabei wäre doch für Reisende, Binnenschiffer und die Mehrheit der Schiffspassagiere eine solche Geographie ganz interessant.

Am südwestlichen Rand von Atamanowo befinden sich die Berührungspunkte dreier kommunaler Formierungen: der Suchobusimsker Bezirk, der Jemeljanowsker Bezirk und das administrativ-geschlossene Verwaltungszentrum. Ersterer endet 700 Meter von der Atamanowsker Anlegestelle entfernt. Die Grenze schiebt Atamanowo nicht nur erheblich zusammen, sondern sie trennt es auch von den einst dem Dorfrat zugehörigen Ländereien ab.

Das Absurde daran: zwei Häuser dieser Siedlung gerieten genau auf das Territorium des administrativ-geschlossenen Verwaltungszentrums der Stadt Schelesnogorsk.

Unergründliche Regeln territorialer Planung! Aufgrund welcher Gesetze, aus welchen Beweggründen sind sie entstanden? Die Grenze des Jemeljanowsker Bezirks liegt von derselben Anlegestelle 1100 Meter entfernt, die Ausdehnung beträgt (Sie glauben es nicht!) gerade einmal 1222 Meter. Der Jemeljanowkser Boden mit seiner engen Landzunge hat sich auf merkwürdige Weise zwischen zwei Revieren hineingezwängt, die zum administrativ-geschlossenen Verwaltungszentrum gehören.

Viele Suchobusimsker sind der Ansicht, dass der Jemeljanowsker Bezirk, genau wie früher, hinter Bolschie Prudi beginnt. Das ist jedoch nicht der Fall. Wenn man in Richtung Schiwerow fährt, so sieht man direkt am Rand der Siedlung ein Wegzeichen mit der Aufschrift „Administrativ-geschlossenes Verwaltungszentrum“.

Auf der Karte besitzt dieses Land-Inselchen eine ungewöhnliche Form – die Umrisse erinnern an die Form eines fünfzackigen Sterns. Rechts wiederholt sich das Band des Jenisseis. Natürlich nimmt das Territorium von Schelesnogorsk das linke Flussufer an der Tunnel-Ausfahrt ein. Im Süd-Westen schmiegt es sich an die Ländereien des Tschastoostrowsker Dorfrats an.

Es gab Zeiten, als das Bergbau- und Chemie-Kombinat dem Suchobusimsker Bezirk Pacht für den Grund und Boden zahlte, auf dem seine Objekte standen. Aber am 27. Juli 1998 bestätigte der Präsident der Russischen Föderation B. Jelzin mit seinem Ukas die Grenzen des administrativ-geschlossenen Verwaltungszentrums. Im Anhang zu diesem Dokument befindet sich die Beschreibung der drei Reviere von Schelesnogorsk – am rechten und linken Ufer des Jenissei.

Die Grenze des ersten Abschnitts des administrativ-geschlossenen Territoriums verläuft am linken Ufer des Jenissei. Es verhält sich so, dass der Jenissei erst bei Kilometer 84 in die Grenzen des Suchobusimsker Bezirks gerät. Welche Entfernung durchfließt dieser gewaltige Fluss auf dem Territorium des Bezirks? Das ist einstweilen noch ein Geheimnis. Wir werden es gemeinsam berechnen, wenn der Dampfer am Dorf Bereg-Taskino vorüberzieht.

Am rechten Ufer des Jenissei, dort wo er an unserem Bezirk angrenzt, hat das administrativ-geschlossene Territorium zwei weitere Reviere. Die Grenze verläuft über Ländereien, die einst zur Sowchose „Pjerwomaijskij“ gehörten, unweit von Bolschoj Batschug, und weiter südlich, durch das Tal des Flusses Bolschaja Tel, das damals ebenfalls zum Suchobusimsker Bezirk gehörte.

Weiter südlich von Schiwerow, entlang unseren Dörfern Karymskaja, Tatarskaja, Irkutskaja – bis ganz nach Leninka und noch weiter flussaufwärts – setzt sich das Territorium des Jemeljanowsker Bezirks fort.

Die Zone mit Sonder-Regime

1963 begann man damit, die Grenze neu abzustecken. Am 19. Mai 1950 verabschiedete das Krasnojarsker Regionsexekutivkomitee auf Verlangen des Ministerrats der UdSSR den Beschluss (N° 23 – 109 streng geheim) über die Isolierung der Landesteile des Suchobusimsker, Sowjetsker (Beresowsker) und Jemeljanowsker Bezirks für den Bau der „Neun“ und ihrer Unternehmen. Später wurde diesbezüglich eine Anordnung des Ministerrats der UdSSR herausgegeben. Am 5. November 1950 unterzei8chnete der Minister für innere Angelegenheiten den Befehl N° 00552 „Über die Isolierung des Territoriums für den Bau eines Bergbau- und Metallurgie-Unternehmens beim MWD der UdSSR“. Der Leser wundert sich: was hat das Innenministerium (MWD) damit zu tun? Mit welchem Paragraphen verabschiedet diese Behörde Dokumente über das Abzweigen von Grund und Boden.

Die Sache verhält sich so, dass mit dem Beginn des Baus der geheimen Objekte im Atamanowsker Gebirgskamm der Beschluss verabschiedet wurde, unzuverlässige Elemente aus den umliegenden Ortschaften und Dörfern an einem anderen Ort anzusiedeln. Die Listen erstellte die MGB-Behörde. Darin aufgenommen wurden alle früher schon einmal vorbestraften Personen. Und natürlich Verbannte, die aus politischen Motiven verurteilt worden waren, sowie auch deportierte Deutsche, Kalmücken, Ukrainer, Völker des Baltikums. Man schickte sie zum weiteren Verbleib an andere Orte, unter anderem auch ins tiefste Innere des Bezirks. Aus Bolschoi Baltschug, Atamanowo, Podporog, Bolschie Prudi, Nowonikolajewka – sollten sie nun nach Kekur, Rodnikowyj; MInderla, Irkutskaja, Tatarskaja.

Die Menschen hatten sich gerade erst einigermaßen am neuen Wohnort eingelebt, einige hatten sich ganz einfache Behausungen gebaut und sich ihren kleinen Haushalt zugelegt. Es entstanden internationale Familien. Die Verbannten gingen immer öfter Ehen mit Ortsansässigen ein und bekamen Kinder. Und dann kam der Befehl aus der Sonderkommandantur, dass sie ihren Wohnort verlassen sollten.

Russische Ehemänner und -frauen „sozial fremder Elemente“ folgten freiwillig in die nicht offiziell angekündigte Verbannung. Welche Gefahr für die Verteidigung des Landes stellten diese Menschen dar? Nachdem man sie aus den heimatlichen Gefilden vertrieben hatte, nachdem sie Lager und Gefängnisse durchlaufen hatten, lebten die verängstigten Sonderumsiedler stiller als Wasser und niedriger als das Gras. Ohne Erlaubnis des Kommandanten besaßen sie kein Recht, auch nur einen einzigen Schritt zu tun. Wenn sie an Stellen Beeren pflücken oder Pilze sammeln gingen, die mehr als drei Kilometer vom Siedlungsort entfernt lagen, konnten sie dafür ins Gefängnis gesteckt werden. Aber offenbar war man im Ministerium für Staatssicherheit der Ansicht, dass dem Staat gegenüber feindlich gesinnte Personen, den Agenten ausländischer Spionageorganisationen über das geheime Bauprojekt Informationen übermitteln könnten.

Die Häftlingsetappen kamen über den Jenissei

Paradox: aus Atamanowo siedelten sie harmlose Kalmücken und Deutsche aus, und gleichzeitig wimmelte die ganze Ortschaft nur so von ganzen Scharen hartgesottener „Volksfeinde“. Denn hierhin hatte man die 25. Lagerabteilung des Norillag verlegt. Die Häftlinge arbeiteten sowohl in Atamanowo, als auch in jeder der vier Lager-Außenstellen der Sowchose „Tajoschnij“.

Diese große Wirtschaft existierte ab März 1930. Damals wurden auf Beschluss der Leitung der Ost-Sibirischen Region im Gebiet Krasnojarsk zwei Dutzend Getreide-Sowchosen geschaffen. Bald darauf kam „Tajoschnij“ unter das Dach des NKWD. Ab 1936 wurde sie Hilfswirtschaft der Hauptverwaltung des Nordmeer-Seewegs (GUSMP), 1942 wurde sie dem Norilsker Lager übertragen. Die Sowchose versorgte nicht nur die am Polarkreis gelegenen GULAG-Verwaltungen, sondern auch das in Atamanowo eröffnete Erholungsheim und das Pionierlager.

Auf dem Jenissei wurden die Häftlingsetappen mit Lastkähnen nach „Tajoschnij“ gebracht. Übrigens besaß die Sowchose auch eigene Kutter namens „Tschekist“, „Wjeduschtschij“ und das Pausik-Boot „Went“. 1952 waren als Älteste Filadelf Georgiewitsch Tarchnischwili und Margonis Franzewitsch Karklinsch, aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls Gefangene oder Verbannte, tätig.

Die Unfreiwilligen mussten, als sie auf dem Jenissei dahinfuhren, einfach sehen, wie an der Anlegestelle Dodonowo ein Schiff nach dem anderen anlegte, das mit Baumaterialien und Ausrüstungsgegenständen beladen war. Die Häftlinge beschafften Holz am rechten Ufer, sie hörten die fernen Sprengungen des Berggesteins, sahen die Kolonnen des artgleichen Kontingents aus dem Poljan-Lager. Alle rätselten darüber, was wohl hier in der Taiga für ein grandioses Bauprojekt im Gange war.

Es war so, dass man die Verbannten weiter entfernt verwahrte, während die Häftlinge, als wäre nichts gewesen, am Ufer des Jenissei arbeiteten und dort alles mitbekommen. Brachten die MGB-Organe ihnen etwa mehr Vertrauen entgegen?

Natürlich nicht. Sie waren nur ein wenig zu spät gekommen. Doch es wurden beispiellose Maßnahmen ergriffen. Niemand wusste, dass es auf geheime Anordnung des Ministerrats der UdSSR vom 22. März 1952 sowie aufgrund der Anordnung N° 560 vom 31. März 1952 des Innenministers, des Genossen Kruglow, dem Norilsker Kombinat zur Aufgabe gemacht worden war, zum 1. Januar 1953 das Erholungsheim, das Pionierlager und das Zentralgehöft der Sowchose „Tajoschnij“ weiter den Jenissei flussabwärts zu verlegen.

Am neuen Ort mussten Produktionsgebäude und Wohnhäuser errichtet, Frühbeete angelegt, Treibhäuser aufgestellt und Objekte der Lager-Außenstelle gebaut werden. Wie sollte die riesige Menge Baumaterialien angeliefert werden? Zum größten Teil – und vielleicht war dies sogar der einzige Weg – auf dem Jenissei. Dem Baukontor wurde zur vorübergehenden Nutzung ein Bugsierschiff zur Verfügung gestellt und man übertrug ihm einen geschlossenen Schleppkahn von 800-1000 Bruttoregistertonnen. Im Juni wurden mit dem Passagierschiff „Stepan Werebrjusow“ aus Kurejka, Turuchansk und Podkamennaja Tunguska Häftlinge zur Baustelle gebracht.

Vermutlich arbeiten auf dem Bau 1500 Menschen.

Am 17. September 1952 erteilte der Leiter des Norilsker Erziehungs- und Arbeitslagers und Kombinats des MWD der UdSSR, der Ingenieur und Oberst Swerjew, den Befehl über die Verlegung der 26. Lagerabteilung zu 4. Lageraußenstelle der 25. Lagerabteilung (heute die Siedlung Istok). Zum Leiter der 26. Lagerabteilung wurde Oberstleutnant I.L. Tschaadajew ernannt, der zuvor als stellvertretende Leiter des Krasnojarsker Hafens tätig gewesen war.

Am Ufer des Flüsschens Istok gelang es rechtzeitig irgendetwas zu bauen, und der Zentralhof „Tajoschnij“ wurde kurzfristig zur vierten Abteilung verlegt. Ebenfalls für kurze Zeit übertrug man die „Neun“ an die Bauverwaltung der Eisenerz-Bergwerke, Postfach N° 9, und auch das Erholungsheim, die Treibhäuser und den Gemüsegarten.

Plötzlich stirbt Stalin, Berija wird erschossen, jäh ändern sich die Zeiten. Der frische neue Wind erreicht auch den GULAG. Als die Lagerabteilung in Atamanowo liquidiert wurde, blieb die Sowchose „Tajoschnij“ Hilfswirtschaft des Norilsker Bergbau- und Chemie-Kombinats und versorgte es jahrelang mit Nahrungsmitteln.

Denkmal einer vergangenen Epoche

Voraus zeigte sich gerade der Hafenkran. Das ist alles, was von der Sowchosen-Anlegestelle übriggeblieben ist. In vergangenen Zeiten befanden sie sich in Atamanowo, in der 7. Lagerabteilung – zum Heben von Kohle und Holz, Erdölprodukten und Getreide, Gemüse und Kartoffeln. Zahlreiche Materialien und Waren im Bezirk wurden auf dem Fluss angeliefert. Die Sowchose „Tajoschnij“ verlud auf Schiffe und schickte ihre Produkte in den Norden – zehntausende Tonnen Kartoffeln und Kohl. Die Frachträume wurden auch mit Möhren, Rüben und sogar Rettichen und Zwiebeln gefüllt. Selbst Vieh und Heu wurde so transportiert: am Kombinat im Polarkreis gab es noch eine weitere Sowchose.

Als das Kombinat auf die Hilfs- und Nebenwirtschaft verzichtete, hörten die Lieferungen in den Norden auf. Man fing an, Frachten in den Bezirk mit Kraftfahrzeugen zu befördern.

Man brauchte die Anlegestellen nicht mehr.

2008 wurde in Atamanowo in feierlicher Atmosphäre ein ungewöhnliches Denkmal für die Feldarbeiter eröffnet. Auf einem Postament stellte man einen Mähdrescher der Marke „Jenissei“ und einen Traktor T-4 auf. Diese Technik diente der Wirtschaft mehr als 20 Jahre lang in tadelloser Weise. Abgelöst wurden sie durch importierte Maschinen der Marken „Laverde“ und „John Deere“. Die Bauern beschlossen den Konstrukteuren, Mechanisatoren und Arbeitern Ehrerbietung und Dankbarkeit zu zollen für die einwandfreie Nutzung der Mechanismen und der Maschinen als solche über einen Zeitraum von mehr als zwei Einsatz-Zeiträumen.

Der Hafenkran – er ist ebenfalls ein Erinnerungsstück an eine vergangene Epoche.

„Treidelpfade werden nicht benötigt“

Am traurigsten ist, dass es heute in Atamanowo keine Anlegestelle mehr gibt. Auf der Lotsenkarte fand ich lediglich die Kennzeichnung eines Ankerplatzes bei Kilometer 86.

Indessen existierte die Anlegestelle in Atamanowo offenbar seit uralten Zeiten. Man vermutet, dass hier Kosaken Rast machten, die sich 1628 auf dem Jenissei flussaufwärts befanden, um an der Mündung des Flusses Katsch den Grundstein für die Siedlung Krasnyj Jar zu legen. Nicht zufällig schuf hier der Ataman der Infanterie-Kosaken-Hundertschaft Tjumenzew einige Zeit später sein heimatliches Nest. 1786 lebten hier 115 Seelen beiderlei Geschlechts, die den Familiennamen Tjumenzew trugen –1891 waren es 186.

Mit Beginn der Schifffahrt auf dem Jenissei baute man in Atamanowo eine richtige Schiffsanlegestelle. Sie wird in Dokumenten aus dem 19. Jahrhundert erwähnt. In Berichten der Suchobusimsker Amtsbezirksverwaltung heißt es, dass es im Amtsbezirk zwei Anleger gibt, doch ihre genauen Standorte sind nicht vermerkt. Allerdings darf man vermuten, dass sich eine davon in Atamanowo befand, die andere in Pawlowschtchina. Eine Bestätigung dafür wurde in späteren Dokumenten gefunden, insbesondere in dem Buch „Kurze Beschreibung der Kirchspiele im Jenisseisker Bistum“.

Im Staatsarchiv der Region Krasnojarsk gibt es eine „Beschreibung der Grenzen, des Grund und Bodens, der Hydrographie, der Verkehrswege, des Klimas, der Bevölkerung und der Landwirtschaft im Suchobusimsker Amtsbezirk im Jahr 1855“. Dabei handelt es sich um eine Art sozial-ökonomischen Ausweis des Amtsbezirk. Es sind darin eine Menge interessanter Informationen angeführt, unter anderem auch über die Natur-Reichtümer.

Vor 158 Jahren gehörten zum Bestand dieses administrativ-territorialen Gebildes 10 Dörfer und 3 etwas größere Ortschaften. In der Rubrik „Hydrographie“ ist angegeben, dass „der Amtsbezirk auf der rechten Flussseite in Strömungsrichtung des Jenisseis“ liegt. Auch seine Abmessungen sind angegeben – „Breite in Werst“ (1 Werst = 1066,8 Meter), „Tiefe stellenweise 4 Sachen und mehr“ (1 Saschen= 2,16 Meter).

Der Amtsbezirk gehörte zum „Verbund des Schiffbaren Systems“. Dabei wurde präzisiert, dass man Treidelpfade nicht benötigte. Was ist das? Es stellte sich heraus, dass damit Wege auf dem Festland gemeint sind, die am Ufer des Flusses entlangführen und zum Abschleppen von Schiffen an Seilen (sogenannten Treideltauen) durch Menschen (Treidler) oder Pferde vorgesehen sind.

Wahrscheinlich wurden von Pawlowschtschina nach Atamanowo keine Boote mit Seilen gezogen, aber an den Kasatschinsker Stromschnellen gab es ganz bestimmt Treidler. Und wie gelangten sie am Atamanowsker „Stein“ nach oben? Vermutlich geschah das ebenfalls mit Seilen. Motorschiffe tauchten in diesen Gegenden erst 1883 auf.

Deswegen ist in der „Beschreibung“ eingetragen – „es handelt sich um einfache Schiffstypen, Barken. Die Boote tragen 4 bis 10 Pud Fracht, und es werden zwischen 5 und 10 Menschen benötigt“.

Da es im Amtsbezirk Ackerland in Hülle und Fülle gab, bauten die Bauern Winter- und Sommerkulturen an, und den Überschuss an Getreide schickten sie nach Jenisseisk und in die gewerblichen Betriebe. Es gab nur einen Weg – über den Jenissei.

5. Zwischen Ost und West

Drei Tage unterwegs bis Jenisseisk

Erneut komme ich auf das einzigartige Archivdokument des 19. Jahrhunderts mit der „Beschreibung der Grenzen, des Grund und Bodens, der Hydrographie, der Verkehrswege, des Klimas, der Bevölkerung und der Landwirtschaft des Suchobusimsker Amtsbezirks für das Jahr 1855“ zurück. Darin heißt es: „Für die Fahrt von Krasnojarsk mach Jenisseisk, einer Entfernung von 450 Werst bei höchstem Wasserstand braucht man nicht weniger als drei Tage und Nächte“.

Wenn man die Werst in Kilometer umrechnet, ergibt das 480. Im Seehandbuch des Jahres 2008 ist die Entfernung von Krasnojarsk nach Jenissejsk mit 413 Kilometern angegeben. Wie kommt eine derartige Abweichung zustande? Vielleicht hat der Jenissei sein Flussbett geändert, aber trotzdem kann er deswegen nicht 67 Kilometer länger geworden sein. Bleibt zu vermuten, dass die Verfasser der „Beschreibungen“ sich geirrt haben.

Und da fällt mir plötzlich ein: im Jahre 1855 gab es noch gar kein Seehandbuch für den Jenissei! Man konnte noch nicht wissen, was für ein Riese so ein Dampfer war. Spezielle Beschreibungen der Flüsse – hydrographische Arbeiten – begannen erst Ende des 19. Jahrhunderts. Ein Atlas des Jenissei wurde zuerst in Russland anhand von Materialien der Expedition von General-Leutnant Andrej Ippolitiwitsch Welkizwkij (1894-96) herausgebracht.

Der Ingenieur für Verkehrswege – J.W. Blisnjak, schuf zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Karte des Jenissei, deren 1. und 2. Teil 1913 in Sankt-Petersburg herauskamen. Er veröffentlichte Materialien über die Durchführung von Vermessungen auf dem Fluss mit Motorbooten im Jahre 1911, über Beobachtungen zum Zustand des Jenisseis im Winter und den Eisgang im Abschnitt zwischen Krasnojarsk und Jenisseisk im Jahre 1912. Seiner Feder sind zahlreiche Forschungsarbeiten entsprungen. Im Jahre 1960 wurde einer der Dampfer des Jenisseisker Flussschifffahrtsunternehmens auf den Namen Professor Blisnjaks getauft.

Der dunkle Strom und die Ortschaft Kekur

Eine interessante Tatsache: ab 1900 nahm an den Wasserwegsarbeiten und Ausarbeitungen des Jenissei-Seehandbuchs der Techniker für Wasserverkehrswege aus dem Gebiet Tomsk – Wjatscheslaw Schischkow teil. Ja – genau der! Der bekannte Schriftsteller, Autor des populären Buchs „Der dunkle Strom“. Nicht alle haben diesen Roman gelesen, dafür haben viele den Spielfilm mit dem gleichnamigen Titel gesehen, der vom Swerdlowsker Filmstudio gedreht wurde.

Es existiert die Meinung, dass die Prototypen der Familie Gromow in diesem Roman unsere Landsleute waren – die Kaufleute Matonin, bekannte Goldindustrielle und Mäzene. Ihr heimatliches Nest befand sich in der Ortschaft Kekur, einige Kilometer vom Jenissei entfernt. Es wäre interessant zu wissen, ob Wjatscheslaw Schischkow sich hier einmal aufhielt. Dann hätte er ganz bestimmt auch davon erzählt, wie Awerjan Matonin die Kirche des Heiligen Ilja Prorok veredelte. Mit seinen Geldmitteln wurden die Kuppeln und die Firnis der Ikonen vergoldet, die Kuppeln erworben. Er schuf auch noch einen weiteren Anbau zur Kirche – im Namen des Heiligen Wunderheilers Nikolaj. Er unterhielt ein Armenhaus für die Besitzlosen.

Weder die Kirche, noch das Armenhaus, noch das Grab Awerjan Matonins wurden von den Nachfahren erhalten. Doch die Erinnerung an sie lebt!

Wenn man in Kekur zwischen den unansehnlich Holzhütten hindurchfährt, eröffnet sich ganz plötzlich vor einem eine uralte, aus Stein gebaute Villa. Das erhabene, schöne Gebäude verfügt über zwei Stockwerke. Es scheint, als ob sie sie vom Mira-Prospekt der Stadt Krasnojarsk hergeholt und auf wundersame Weise am Ufer des Busim abgesetzt haben. Im historischen Zentrum der Regionshauptstadt gibt es ähnlich aussehende Kaufmannshäuser – zahlreiche Touristen kommen, um sich an ihrem Anblick zu ergötzen. Doch wie entstand das wunderschöne Werk der Baumeister an diesem entlegenen Ort?

Awerjan Matonin, der keine eigenen Kinder hatte (sein einziger Sohn starb im Alter von 4 Jahren), errichtete das Gebäude für Bauernkinder. Es war die erste landwirtschaftliche Handwerker-Fachschule im Jenisseisker Gouvernement. Wie die Jenisseisker Gouvernements-Nachrichten schrieben, nahm der Mäzen selbst nicht an der Taufe des „geliebten Kindes“ teil: kurz vor dem Ereignis wurde er schwerkrank. Aber die Feierlichkeiten anlässlich der Eröffnung dieser Lehreinrichtung ist allen in Erinnerung geblieben. Mit ihrer Aufmerksamkeit ehrten ihn der Leiter des Jenissejsker Gouvernements - Iwan Konstantinowitsch Pedaschtschenko, seine Eminenz – der Erzbischof der Jenissejsker und Krasnojarsker Isaaks-Kirchen, die Gouvernements- und Landkreis-Leiter der Fachschule.
Es versammelte sich eine noch nie gesehene Menschenmenge. Die Bauern wussten nicht, auf wen sie schauen sollten – auf die hohen Gäste oder auf die Kinder, die alle mit einheitlichen, für die damalige Zeit sonderbar wirkenden Anzügen bekleidet waren. Matonin hatte für die Kinder nicht nur Uniformen bestellt. Er kümmerte sich um alles, angefangen mit Schulheften und endend mit Schulmöbeln und Lebensmitteln. Lange Jahre wurde die Schule vollständig von Maronins Spenden unterhalten. In Sowjetzeiten war dort die Schule untergebracht und heute – der Kindergarten.

Der Admiralitätsanker

Dieses Jahr feiern die Binnenschiffer des Jenisseis Jubiläum. Denn als Anfangsjahr der Schifffahrt auf dem Jenissei gilt das Jahr 1863. In der Stadt Jenisseisk entstand dami5t eine Gesellschaft namens „Schifffahrt und Handel“. Sie bestand aus dem „angestammten Ehren- und Würdenträger Aleksej Safronowitsch Balandin, sowie den Kaufmannsbrüdern Klaschnikow, Kytmanow und den Kaufmannssöhnen Jefim und Aleksej Grjasnow“. Auf ihre Bestellung wurde auch das erste Schiff – „Jenissei“ – gebaut. Allerdings verkehrte es anfangs nur auf dem Unterlauf des Flusses. Es beförderte Getreide dorthin und nahm auf dem Rückweg aus der Region Turuchansk Pelzwerk und Fisch mit.

Zwanzig Jahre später gelang es den Schiffen, den Jenissei weiter flussaufwärts zu fahren, nachdem sie in der Lage waren, die Kasatschinsker Stromschnellen zu überwinden. Das erste Schiff war die „Moskwa“. Der Name war ein durch und durch risuscher, aber das Schiff kam aus dem Ausland. Der bekannte Krasnojarsker Kaufmann N.G. Gaalow hatte es in Deutschland gekauft.

Die „Deutsche“ sah schön und vornehm aus, konnte jedoch nicht aus eigener Kraft die Kasatschinsker Stromschnellen meistern. An der Stelle mit der stärksten Strömung wurde es von Treidlern mit Schleppseilen gezogen. Aber zwei Jahre später schaffte die „Kapitän Dalman“ mit ihren 500 Pferdestärken es allein durch die schnelle Strömung. Seitdem gab es einen regulären Fracht- und Passagierverkehr mit Schiffen zwischen Jenisseisk und Krasnojarsk – bis nach Minusinsk. Doch jedes Mal eilten die Einwohner unserer Ortschaft, wenn sie die Schiffssirenen hörten, ans Ufer. Es war so interessant, dieses ungewöhnliche Schiff anzuschauen und zu versuchen zu erkennen, was darauf transportiert wurde und was für Menschen an Deck spazieren gingen.

Anfang des 20. Jahrhunderts verkehrten hier bereits 26 Schiffe.

Übrigens, als wir an Bord der „M.J. Lermontow“ gingen, sahen wir am Flussbahnhof den sich auf seinem Sockel erhebenden Admiralitätsanker mit seiner Kette. Dieses Denkmal ist dem 100 Jahre zurück liegenden Bau des ersten Schiffes auf dem Jenissei gewidmet und wurde 1963 aufgestellt.

Nicht nur Flugzeuge haben Flügel

Aus der Beschreibung des Suchobusimsker Amzsbezirks haben wir also erfahren, dass man im Jahre 1855 mit einem Lastkahn bei vollem Wasserstand 3 Tage und Nächte von Krasnojarsk bis nach Jenisseisk benötigte.

Es ist nun interessant zu erfahren, wie lange unser dieselbetriebenes Elektroboot bis zum Endpunkt der Reise benötigt. Ich befragte dazu eines der Mannschaftsmitglieder, erhielt jedoch eine ausweichende Antwort. Ich wollte es dann auch nicht genauer wissen. Eine Reise ist weniger interessant, wenn man es vorher schon weiß.

Kurz darauf überholte unser Schiff die „Sarja“ („Morgenröte“; Anm. d. Übers.) – ein Tragflügelboot. Die Steuerleute grüßten einander mit den Schiffssirenen. Wir konnten das Schiff nicht eingehender betrachten – es schoss an uns vorüber wie ein Pfeil. Nur die fächerförmig aufspritzende Wasseroberfläche glänzte in der Sonnen. Die Geschwindigkeit mochte wohl dreimal schneller sein, als die unseres Schiffs.

Es stellte sich heraus, dass die ersten schnellen Schiffe auf dem Jenissei vor 53 Jahren auftauchten, und zwar nicht irgendwo, sondern auf der Route Krasnojarsk – Atamanowo. Der Urheber der Darstellung, er ist auch der Konstrukteur der „Raketen“ – R.J. Aleksejew – dachte sich eine solche Flügelform und Außenlinie für diese Art von Schiffen aus, damit sie bei höherer Geschwindigkeit Auftrieb bekamen. Und diese Kraft stößt en Rumpf der „Rakete“ nach oben hinaus und hält ihn über der Wasseroberfläche. Dabei reduziert sich ganz erheblich der Widerstand, die Geschwindigkeit nimmt zu.

Als 1960 die Jenissei-Schifffahrt das erste Motorschiff „Rakete-7“ erhielt, waren Fahrtests mit dem neuen Schiff erforderlich. Man musste in Erfahrung bringen, ob so eine Flotte auf dem Jenissei unter den äußerst schwierigen Schifffahrtsbedingungen überhaupt richtig genutzt werden konnte. Bei hoher Wasser-Strömungsgeschwindigkeit können sie keinen sicheren Ankergrund gewährleisten. Wegen des großen Tiefgangs in geringer Wasser-Tiefe ist es schwierig an ein Ufer heranzukommen, welches nicht über eine Anlegestelle verfügt.

Wo kann man denn noch ein Schiff auf Stabilität und Verkehrssicherheit prüfen, wenn nicht gerade an den Atamanowskwer Steinen. In der Nähe von Krasnojarsk findet sich kein noch komplizierterer Fluss-Abschnitt. An der Sandbank verläuft der Verkehr einseitig, die Strömung fließt mit großer Geschwindigkeit, zu beiden Seiten der schmalen Fahrrinne ragen spitze Felsen aus dem Wasser. Das steinerne Flussbett des Jenissei ist an dieser Stelle auch so schon uneben, und nachdem man die Fahrrinne vertieft hatte, waren hier und da noch gefährliche Felsbruchstücke zurückgeblieben.

Die Fahrtests verliefen erfolgreich. Allerdings mussten Ergänzungen zu den örtlich geltenden Schifffahrtsregeln erarbeitet werden, und bald darauf fuhren sie auf der Route Krasnojarsk – Jenisseisk. Die Schnellflügelboote (60 Kilometer pro Stunde) meisterten diese Entfernung mit sechs Zwischenstopps in 7 Stunden. Die „Rakete“ konnte 64 Passagiere an Bord nehmen.

Mehrmals täglich machten die Raketenboote in Atamanowo fest. Mn konnte nicht nur nach Krasnojarsk fahren, sondern auch nach Pawlowschina, Juskejewo – und dann weiter nach Jenisseisk. Und mit Umsteigen auch nach Schumicha und in den Süden der Region Krasnojarsk.

Der Kapitän wurde ans Ufer abgemustert

Trotzdem ereignete sich einmal an den Atamanowsker Steinen ein großer Unfall. Beim Überholen eines Lastkahn-Konvois riss die „Rakete-42“ die Bugsier-Trosse ab und stieß mit einer der Barken zusammen. Gott hatte Erbarmen, niemand wurde verletzt. Und das ist ein seltenes Glück, denn der Passagiersalon wurde bei dem Unglück erheblich beschädigt. Der Kapitän musste nach diesem Vorfall am Ufer bleiben – als Dispatcher.

Und es gab noch einen Vorfall, als nämlich wegen heftigen Nebels eine „Rakete“ mit Passagieren an Bord vierundzwanzig Stunden lang im Bereich der Barabanowsker Insel vor Anker lag.

Im Jahre 1964 tauchten auf dem Jenissei die noch schnelleren „Meteore“ auf, die über eine Kapazität von 124 Sitzplätzen verfügten und in der Lage waren, eine Geschwindigkeit von 66 Stundenkilometern zu entwickeln.

„Tschisch“ und „Putejskij“

Leider legen weder „Raketen“ noch „Meteore“ oder andere Passagier- und Frachtschiffe mehr an den Atamowsker Ufern an. Lediglich zwei kleine Motorschiffe des Typs „Putejskij“ sahen wir in der kleinen Bucht liegen.

Die Dienststelle für Wasserverkehrswege existiert in Atamanowo seit 1902. Auch heute noch befindet sich hier das Revier des Krasnojarsker Bezirks für Wasserwege und Schifffahrt der Filiale der Jenisseisker Behörde für Wasserwege und Schifffahrt. Einst unterhielten die Bojen-Wärter das Leuchtfeuer an den gefährlichen Stellen in Kerosin-Laternen. Heute verwendet man auf dem Jenissei Lichtsignale gebende Navigationsgeräte mit halbleitenden Strahlern. Es wurde ein Satelliten-Navigationssystem zur Abgrenzung der Fahrrinne eingeführt, welches den Schiffsverkehr mit Hilfe elektronischer Karten sichert. Aber ohne Streckenarbeiter ist es auch gegenwärtig nicht möglich, einen gefahrlosen Schiffsverkehr auf den Flüssen zu garantieren. In einigen Fällen ist die Elektronik unvermögend. Deswegen pendeln die Atamanowsker Binnenschiffer unaufhörlich auf dem Jenissei hin und her. Flussaufwärts und flussabwärts.

Die Mannschaften der beiden Motorschiffe – „Tschisch“ und „Putejskij“ bedienen einen Streckenabschnitt von 125 Kilometern auf dem Jenissei – von Beresowka bis Bereg-Taskino. Die Mannschaften beobachten die Situation – die schwimmenden Navigationszeichen und die speziellen Signalanlagen, welche ein unfallfreie Fahrt im Fahrwasser sicherstellen sollen. So reparieren und installieren sie beispielsweise Bojen. Als wir aus Jenisseisk zurückfuhren, begegneten wir unweit der Mündung der Malaja Wjesnina dem Motorschiff „Tschisch“ („Zeisig“; Anm. d. Übers.). Zuerst war es völlig unverständlich, was das Schiff für Manöver durchführte. Dann kamen wir näher: es stellte sich heraus, dass sich ein großer Baum mit seinen Wurzeln an einer Boje verfangen hatte. Er war wohl irgendwo vom Ufer fortgeschwemmt worden, denn in diesen Tagen war der Wasserspiegel plötzlich jäh angestiegen. Es war schon eine Menge Geschick nötig, um einen derart sperrigen Gegenstand von dem Seezeichen zu entfernen. Am Boden ist das ganz einfach – man fährt heran, hebt den Baum an und transportiert ihn ab. Doch in der Strömung des kalten Jenisseis verhält sich das ganz anders. Es kommt vor, dass die Streckenwärter wahre akrobatische Kunststücke vollführen müssen, um nicht ins Wasser zu geraten. Allerdings steht ihnen für schwere Gegenstände eine Winde zur Verfügung. An einem Holzpfosten befestigten sie per Hand eine Trosse und zogen sie mit der Winde von der Boje fort. Denn wenn der schwere Baum die Boje von ihrem Standort fortreißt – dann könnte ein Unglück passieren. Wie viele Unglücksfälle sich aus diesem Grund schon ereignet haben – kann man gar nicht zählen. Und auch der Baum selbst kann ja vorbeifahrende Schiffe beschädigen.

6. Zwischen Ost und West

Atamanowo – kein gewöhnliches Dorf

Atamanowo wurde nicht nur in der Krasnojarsker Region bekannt, sondern auch in Russland und im Ausland. Man kann es nicht mit den typischen sibirischen Dörfern über einen Kamm scheren – so ungewöhnlich ist seine Geschichte. Die Biographien der meisten Ortschaften ähneln einander sehr: Kolchose – Sowchose – Aktiengesellschaft. Aber hier gibt es sowohl die Verwaltung des Nordmeer-Seewegs, den Archipel GULAG und das Norilsker Kombinat, und die Bauverwaltung der Eisenerz-Bergwerke.

Gegenwärtig ist das Zentralgehöft des Zuchtbetriebs „Tajoschnij“ am Ufer des Jenissei gelegen, welches eine einzigartige Rinder-Herde besitzt. Es ist seit langem als einer der besten Betriebe Russlands anerkannt. Es arbeitet mit ausländischen Firmen zusammen, wendet ihre Erfahrungen und fortschrittliche Technologien an. In den 1930er Jahren bauten die Amerikaner hier Reparatur-Werkstätten, heute baut der Betrieb schwedische Farmen auf; Technik, Ausstattung und diverse andere Materialien werden aus Deutschland geliefert, Kühe und Samen stammen aus Holland.

Die Atamanowker sind stolz darauf, dass in ihrem Dorf der Held der Sowjetunion Aleksander Korolski geboren wurde und lebte, und viele andere bekannte und verdiente Menschen.

Wo man den Namen dieser Ortschaft nicht überall lesen kann! In dem Buch „Der Felsen“, das dem 60. Jahrestag des Bergbau- und Chemie-Kombinats gewidmet ist, wurde eine Spionage-Karte veröffentlicht, die der Autor Boris Ryschenkow der Web-Seite des CIA entnommen hat. Darauf sind zusammengetragen: der Jenissei, der Berg, die Positionen der Städte, die Lagerzone, die Einzäunungen und … als einzige Ortschaft – „Atamanovo“. Andere umliegende Ortschaften sind nicht angegeben.


Zukünftige Akademiker haben hier Vieh gehütet

Es gibt in der Geschichte von Atamanowo bislang noch unerforschte Seiten. Zum Beispiel – die Zeit des GULAG. Hier verbüßten Vertreter von mehr als 50 Nationalitäten ihre Strafe, unter ihnen auch Staatsbürger ausländischer Staaten. Es gab auch eine Menge talentierte Menschen, die in der ganzen Welt bekannt waren oder später wurden.

Dazu gehörten der verdiente Akteur aus dem Bereich der Kunst, Architekt aus der Armenischen SSR, korrespondierendes Mitglied der Akademie für Architektur und Bauwesen der UdSSR - Professor Geworg Kotscharjan, der Schriftsteller, Hauptredakteur der Zeitschrift „Stern“, Chef der Leningrader Schriftsteller-Organisation - Anatolij Gorelow, der Alpinist Arij Poljakow, der Korrespondent der Zeitungen „Prawda“ und „Iswestija“ Abram Agranowskij, der Künstler Andrej Goljadkin.

Auf dem Versuchsfeld der Sowchose war der Verbannte Aleksander Jaworskij – der erste Direktor des Nationalparks „Stolby“, Wissenschaftler, Heimatkundler, Künstler, Poet.

Der Doktor der technischen Wissenschaften, Professor, ordentliches Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, Laureat der Staatsprämie der UdSSR und der Russischen Föderation auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technik, der Prämie des Präsidenten der RF auf dem Gebiet der Bildung, zweier Prämien der Regierung der RF im Bereich Wissenschaft und Technik, zweier Prämien und der N.W. Melnikow-Goldmedaille der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und der Russischen Akademie der Wissenschaften, Kavalier des Ordens „Für Verdienste vor dem Vaterland“ III. und IV. Grades, der Freundschaft der Völker – Kliment Trubezkoj, arbeitete in der dritten Abteilung der Sowchose „Tajoschnij“ als Hirtenjunge.

Der Professor und Akademiker der W.I. Lenin-Akademie für Agrarwissenschaft Boris Maslow hütete ebenfalls Pferde und hackte Holz für den Schweinestall, er transportierte Wasser in die Kuhstallungen und führte innerhalb einer Häftlingsbrigade Reparaturarbeiten auf der Farm in Saman durch.

Beide Akademiker gerieten als Minderjährige in die Verbannung, nachdem ihre Väter als „Volksfeinde“ (N.I. Trubezkoi war General-Leutnant, S.N. Maslow Arbeiter). Die Jungen lernten in der Atamanowsker Schule und behielten sie ihr Leben lang in guter Erinnerung.

Wladimir Kisel kam aus dem Iran nach Atamanowo. Der Meister des Sports der UdSSR, Absolvent der Sportfakultät der Staatlichen Moskauer Universität befand sich dort mit einem Expeditionskorps als Alpinisten-Trainer. 1942 wurde sein Vater, der Wissenschaftler, Biochemiker und Professor der Staatlichen Moskauer Universität A.R. Kisel des Vaterlandsverrats und der konterrevolutionären Agitation angeklagt und erschossen (später voll rehabilitiert). Der Sohn wurde als „Familienmitglied, das an dem Verbrechen nicht beteiligt gewesen war und auch nichts davon wusste“ … zu 5 Jahren Verbannung verurteilt. Er arbeitete als Schlosser, später als Ingenieur in den Reparaturwerkstätten von „Tajoschnij“.

Einmal kam der Chef des Norilsker Kombinats, der General-Major des MWD Panjukow nach Atamanowo geflogen. Zufällig erfuhr er, dass Kisel von Beruf Physiker war; sogleich nahm er ihn mit zu seinem Wasserflugzeug und brachte ihn gleich nach der Ankunft in Norilsk in der Projekt-Abteilung des Unternehmens unter.

Nach seiner Rehabilitierung kehrte Wladimir Kisel nach Moskau zurück. Er schrieb seine Doktorarbeit und arbeitete später als Professor am Moskauer physikalisch-technischen Institut. Er war auch weiterhin sportlich aktiv, wurde verdienter Meister des Sports der UdSSR auf dem Gebiet des Alpinismus. Man verlieh ihm den Titel „Verdienter Akteur der Wissenschaft der Russischen Föderation“.

Die Ehefrau des amerikanischen Botschafters

In Atamanowo machten Lastkähne mit Gefangenen und Verbannten, deportierten Deutschen, Ukrainern und Kalmücken fest. Der Einwohner von Suchobusimskoje Felix Weber erinnerte sich: als das Schiff mit den deutschen Familien in Krasnojarsk ablegte, weinten und schluchzten die Frauen laut, verabschiedeten sich von ihren Kindern. Nach ihrem Leben an der ruhigen, majestätischen Wolga flößte ihnen die stürmische Jenissei ihnen Todesängste ein: die Menschen glaubten, dass man sie zu ertränken beabsichtigte.

Von der Anlegestelle brachte man die Unfreiwilligen in verschiedene Kolchosen und die NKWD-Sowchose in der Nähe von Minderla. Auf Fuhrwerken wurde ihr Hab und Gut transportiert, dahinter gingen Wissenschaftler, einfache Bauern, Kulturfunktionäre, Ärzte. In den Baracken trafen sie mit Familienmitgliedern von Vaterlandsverrätern zusammen. Ortsansässige erinnern sich: Generalsfrauen arbeiteten in „Tajoschnij“ als Schweinewärterinnen, und die Gattin des amerikanischen Botschafters transportierte auf Ochsen Getreide. Vielleicht erinnert sich noch jemand: in der ersten Abteilung arbeitete eine Nonne des Kursker Klosters namens Praskowja.


Auf dem Bugsierschiff der Sowchose „Tajoschnij“ – die Brüder Kaniwez.
Foto: Petr Tschorny

Das Rätsel um eine einmalige Anomalie

Unter einschlägigen Spezialisten machte Atamanowo sich dank einer seltenen Naturerscheinung einen Namen, welche zu einem wahren Rätsel für die Wissenschaftler wurde. Die Experten können sie im „Geologischen Atlas Russlands“ finden. Aber wir können beim besten Willen nicht erraten, worin eigentlich ihre Besonderheit liegt….

Sie wurde auch ganz zufällig entdeckt. Einer der Wissenschaftler, der sich bei uns in der Redaktion aufhielt, erzählte mir die Geschichte folgendermaßen …

Einmal kamen Geologen nach Atamanowo. Sie machten sich mit einem Ortsbewohner bekannt, der sie zum Mittagessen zu sich nach Hause einlud. Nach den Regeln russischer Gastfreundschaft schenkte er ihm auch ein Gläschen Schnaps ein. Es entspann sich eine Unterhaltung.

Als sie sich am Abend voneinander verabschiedeten, schaute irgendjemand auf die Anzeigetafel des Radiometers. Aus Gewohnheit hatten die Geologen es vorn am Eingang eingeschaltet gelassen. Alle waren mit einem Schlag wieder nüchtern. Das Gerät schlug, wie man sagt, aus. Wiederholte Messungen zeigten – das war kein Irrtum, kein Fehler. In dem Wohnhaus herrschte – eine heftige Strahlung.

Der Verdacht viel sofort auf das Bergbau- und Chemie-Kombinat. Denn seine unterirdischen Reaktoren waren nur 5-6 Kilometer von Atamanowo entfernt. Aber das BCK leugnete kategorisch seine Beteiligung an dieser Erscheinung. Die eingetroffenen Spezialisten bestätigten: die „Neun“ hat damit nichts zu tun. In der Wohnung entdeckten sie eine hohe Konzentration an Radon – einem radioaktiven Naturgas. Es kommt dort allerdings äußerst selten vor, ist 7,5-mal schwerer als Luft und ist in dicken Erdgesteinsschichten anzutreffen. Es besitzt weder Farbe noch Geruch.

Bald darauf stellte sich heraus: in der Ortschaft Atamanowo gibt es eine einzigartige Radon-Anomalie. Das regionale radiologische Zentrum der Föderalen Staatlichen Behörde „Zentrum für Staatliche Gesundheits- und Epidemie-Aufsicht“ in der Region Krasnojarsk begann zu forschen. Das Territorium der Ortschaft wurde in Quadrate von ungefähr 300 x 200 Metern unterteilt; dann wurden Messgeräte aufgestellt. Innerhalb von 10 Jahren, von 1994 bis 2004, wurden mehr als 870 Wohnungen untersucht, was etwa 90% des dortigen Wohnungsbestands ausmacht, sowie öffentliche Räumlichkeiten und Produktionsstätten.

Die Forschungen ergaben: das alte Dorf ist ökologisch sauber, die hohe Radon-Konzentration lässt sich erst im nord-östlichen Teil von Atamanowo beobachten. Doch selbst innerhalb der Grenzen dieser lokalen Zone entscheiden sich die Ergebnisse teilweise erheblich voneinander. So beträgt beispielsweise die Entfernung zwischen den Häusern N° 42 und N° 40 auf der Swjasy-Straße insgesamt 10 Meter, während der Jahresdurchschnittswert der Radon-Aktivität in der Luft der Gebäude sich um einiges voneinander unterscheidet. Dabei sind die Bau- und Verputz-Materialien, das Heiz- und Lüftungssystem, Aufbau und Tiefe der Fundamente in diesen Gebäuden absolut identisch.

Langjährige Forschungen haben bestätigt: in zwei Häusern der Swjasy-Straße gibt es eine anomale Radon-Konzentration. Die Bewohner dieser unglückseligen Wohnungen sind an einen sicheren Ort umgezogen. Es scheint, dass dies in Russland der erste Fall war, bei dem Menschen wegen des Austritts von Naturgas an die Erdoberfläche fortgesiedelt wurden.

Die Entstehung der einzigartigen Radon-Anomalie, die Gründe für die saisonale Veränderlichkeit des Ausmaßes der Gas-Aktivität – all das bleibt dennoch ein Rätsel.

Gewöhnlich wird der Austritt von Radon durch die Nähe von Uran oder seltenen Metallen verursacht. Allerdings wurden in der Nähe von Atamanowo keinerlei Uran-Vorkommen entdeckt. Fundstätten von Gold und anderen Metallen fand man den Jenissei weiter flussabwärts – an der Niederung des Flusses Malaja Kusejewa und an den kleinen Bächen der rechten Uferseite. Das „Bergbau- und Geologie-Unternehmen „Feniks“ führte ingenieurgeologische Forschungen durch und bohrte in Atamanowo drei schmale Öffnungen bis zu einer Tiefe von 20 Metern. Doch in den erhaltenen Bohrkernen ist die spezifische Radon-Aktivität nicht hoch, sie kann nicht der Ursprung für den derart hohen Radongehalt sein. Es wurden auch keine Besonderheiten im geologischen Aufbau gefunden, welche direkten Einfluss auf das Ausströmen von Radon aus dem Erdreich hat.

Die Wissenschaftler S.A. Kurgus, I.W. Tarassow stellten eine Arbeitshypothese für die Entstehung der Radon-Anomalie auf. Sie sind der Meinung, dass der Ursprung des Edelgases in der ausgedehnten Salzaureole des Radiums liegt, welche sich im Bereich des tiefliegenden, wasserhaltigen Horizonts gebildet hat. Radon tritt aus tektonischen Bruchstellen und leicht durchlässigen Kies- und Schotter-Ablagerungen im Erdinnern aus. Gründe für die kurzzeitigen Perioden des plötzlichen Absinkens des Radongehalts in der warmen Jahreszeit können Schwankungen im unterirdischen Wasserhaushalt sein, die mit dem hydrotechnischen Zustand des Flusses Jenissei im Zusammenhang stehen.


Auf dem Jenissei. Das Foto wurde von Kapitän I. Starowaty
zur Verfügung gestellt.

Wird es hier Sanatorien geben?

Ärzte haben bereits seit langem (etwa vor 100 Jahren) festgestellt, dass Radon in kleinen Dosen einen günstigen Einfluss auf den Organismus nimmt, und das besonders bei der Behandlung solcher Leiden, die mit anderen Methoden schwierig zu heilen sind. Angewandt wird dieses Gas bei Wirbelsäulen-, Gelenk- und Immunerkrankungen sowie Varikose. Außerdem senkt es den Druck auf das Nervensystem, hilft im Kampf gegen Übergewicht und instabilen Blutdruck. Eine weitere Besonderheit ist die Fähigkeit, über einen längeren Zeitraum Schmerzen zu nehmen.

Vom gesundheitlichen Einfluss radonhaltiger Bäder auf praktisch alle Systeme des menschlichen Organismus – von den Nerven bis hin zu den Blutgefäßen – sind unsere Landsleute überzeugt, nachdem sie die Kurorte in Belokuricha besucht haben, das Rehabilitationszentrum „Tymanny“ in Chakassien.

Viele stellen sich die Frage, ob man ein derartiges Sanatorium wohl auch in Atamanowo eröffnen kann.

Übrigens wird Radon auch in anderen Bereichen des menschlichen Lebens verwendet. In der Landwirtschaft zur Belebung von Tierfutter, in der Metallurgie als Indikator zur Bestimmung der Geschwindigkeit von Gasströmen in Hochöfen und Gasleitungen. Geologen finden mit ihrer Hilfe Vorkommen radioaktiver Elemente. Seismologen können beim Austritt von Radon aus dem Boden heftige Erdbeben und Vulkanausbrüche vorhersagen.

 

Olga Wawilenko

Fotos der Autorin

„Land-Leben“ (Suchobusimskoje), 19.07, 23.08., 06.09., 27.09., 11.10.13


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