Gäste aus Lettland zu Besuch in Suchobusimskoje
32 Besucher aus Lettland trafen in Sibirien ein, um die Orte zu besuchen, an denen sie selber oder ihre Verwandten in den 1940er und 1950er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ihre Verbannungszeit verbrachten. Unter ihnen befanden sich auch Staatsbürger der USA und Australiens.
Diese Art von Reisen nach Russland organisiert seit dem Jahr 2000 die öffentliche Stiftung Lettlands „Kinder Sibiriens“.
- Jedes Jahr stellen wir Gruppen für eine Studienreise nach Sibirien zusammen, - sagt einer der Leiter der Stiftung, der Regisseur und Produzent Dsintra Geka. – Und in Russland machen sich dutzende Interessenten auf den Weg, um die Orte aufzusuchen, an denen ihre Kindheit verlief, sich im Gedenken an ihrer Angehörigen zu verneigen, die in der Verbannung oder während ihrer Inhaftierung ums Leben kamen. Und vielleicht auch, um Menschen zu treffen, die ihnen damals halfen. In diesem Jahr haben wir bereits Magadan besucht, anschließend wollen wir nach Tomsk und von dort – nach Hause.
Die ehemaligen Verbannten und ihre Nachfahren werden von einem Drehteam begleitet. Die entstandenen Filme über Reisen zu den Verbannungsorten werden jährlich, am 14. Juni, dem Tag der nationalen Trauer, im lettischen Fernsehen gezeigt.
Im vergangenen Jahr gesellte sich zu der Stiftung „Kinder Sibiriens“ auch der australische Staatsbürger Ojars Greste. Seine Großmutter wurde in dem Dorf Businskoje, das damals auf dem Territorium des Suchobusimsker Bezirks gelegen war, geboren und wuchs dort auf. Später zog sie mit der Tochter nach Lettland, wo dann auch Ojars das Licht der Welt erblickte. Der Reisende fuhr mit „Kinder Sibiriens“ nach Russland, um die Heimat der Vorfahren zu sehen, und deswegen begab sich die ganze Gruppe mit ihm in den Suchobusimsker Bezirk.
Am 19. Juli fand in der Bezirksverwaltung eine Begegnung mit den ausländischen Gästen statt. Der Leiter der Gruppe Dsintra Geka erzählte über die Aktivitäten der Stiftung „Kinder Sibiriens“. Sie bringen Gedenktafeln nach Sibirien mit, die dem Gedenken an die in der Verbannung umgekommenen Landsleute gewidmet sind. Sie überreichen sie dem örtlichen Heimatkunde-Museum als Geschenk. Jetzt gibt es sie in Jenisejsk und Igarka.
Außerdem erzählte Dsintra, dass in Lettland jetzt das Buch „Kinder Sibiriens“ verlegt wird. Es sind bereits mehrere Bände herausgekommen, in denen mehr als 700 Interviews mit ehemaligen Verbannten sowie eine Vielzahl Fotografien, die sich in lettischen Familienarchiven befanden und auf denen die Zeit in der sibirischen Verbannung dargestellt ist.
Im Sommer 1940 gehörte das Baltikum zur Sowjetunion. Und am 14. Mai 1941 verabschiedeten das Zentralkomitee der WKP (B) und der Rat der Volkskommissare der UdSSR die Anordnung „Über die Aussiedlung sozial-fremder Elemente aus den baltischen Republiken, der West-Ukraine, des westlichen Weißrusslands und Moldawiens“. Innerhalb einer Woche vor Beginn des Großen Vaterländischen Krieges, in der Nacht vom 13. auf den 14. Juni 1941, wurden tausende Letten in Güter-Waggons verfrachtet. Die Männer kamen in Lager, wo manche von ihnen spurlos verschwanden. Frauen, Kinder und alte Leute wurden nach Sibirien verschleppt.
Nach dem Krieg wurde ein Teil der Verbannten, die während der Deportation noch minderjährig gewesen waren, freigelassen, und man erlaubte ihnen, in die Heimat zurück zu kehren. Doch im Januar 1949 ordnete die Regierung der UdSSR erneut an, bestimmte Kategorien von Bürgern von den Territorien der Litauischen, Lettischen und Estnischen SSR auszusiedeln. In den Jahren 1945-1949 wurden mehr als 34.000 Letten, unter ihnen auch Säuglinge, nach Sibirien abtransportiert.
In die Heimat konnten sie erst 1957-1958 zurückkehren. Einzelne sind geblieben – hier, in der Verbannung; sie hatten bereits Familien gegründet, ein Haus gebaut, gingen ihrer Arbeit nach und genossen das Ansehen der anderen.
Am Donnerstag teilte man uns in der Redaktion mit, dass am folgenden Tag eine Gruppe aus dem Baltikum eintreffen würde, unter ihnen Nachfahren ehemaliger politischer Häftlinge und Verbannungssiedler. Die Information war recht spärlich gehalten, und wir wussten nicht, wem wir eigentlich genau begegnen sollten. Am Abend durchwühlte Hauptredakteurin Olga Wawilenko ihre Archive und begann in aller Eile aus den Aufzeichnungen mehrerer Jahre baltische Familiennamen herauszusuchen.
Die betagteren Suchobusimer erinnern sich, dass auf dem Territorium des Bezirks Litauer, Latgaler, Esten und Letten ihre Strafe verbüßten. In der Sowchose „Tajoschnij“ war die 25. Lagerabteilung des Norillag in Betrieb. Auf den Feldern und Farmen arbeiteten tausende Menschen, mehr als 50 Nationalitäten. In Schilinka befand sich eine Filiale des Technischen Sonderbüros (OTB-1) des Jenisejlags. Es befasste sich hauptsächlich mit der Projektierung von Bauobjekten. Dort arbeiteten nach Verbüßung der Lagerhaft verbannte Wissenschaftler, Ingenieure, Architekten. Darunter nicht wenige Staatsbürger aus den baltischen Republiken.
Nachdem sie den Gästen von den Lager- und Sondersiedler-Orten im Suchobusimsker Bezirk erzählt hatte, begann Olga Michailowna eine Liste mit Nachnamen zu verlesen. Es war ihr gelungen, mehr als 50 Namen zu ermitteln. In vollkommener Stille erklangen die Familiennamen von Esten, Letten und Litauern. Von den erregten Gesichtern der Gäste war abzulesen, dass jeder von ihnen sich mit großer Anspannung die ausgesprochenen Worten in sich aufnahm – in der Hoffnung einen bekannten Namen zu hören.
„… Jakob Dille - Oberarzt am Bezirkskrankenhaus, Gunar Jarwe – Bau-Ingenieur, Waike Pjartzel – Krankenschwester, Milda Balode – Lehrerin… Die Verbannten Atis Tenne, Stasis Waischwila, Familie Kraujalis, Karlis Uleniks, Familie Kuchta…“
Unglaublich! Liweta Spride hatte den Namen ihres Verwandten gehört – Erwins Schanowitsch Neiburg. Leider konnte Olga Michailowna von ihm nur berichten, dass dieser Mann einst in der Sowchose „Tajoschnij“ arbeitete. Seinen Namen sowie die Namen von vierzig weiteren Häftlingen hatte sie aus dem Buch mit Anweisungen für den Personalbestand der Sowchose und der Erholungsstätte „Tajoschnij“ entnommen, welche beide zur selben Zeit in Betrieb waren.
Aber vielleicht erinnert sich einer unserer Leser an den Letten Neiburg? Melden Sie sich! Seine Verwandten in Lettland werden sich über jede noch so kleine Mitteilung über ihn freuen. Er überlebte, kehrte in die Heimat zurück, aber inzwischen weilt er schon nicht mehr unter den Lebenden. Das berichtete seine Nichte dritten Grades, großelterlicherseits - Liweta Spride. Wir waren sehr verwundert, dass es in der Gruppe „Kinder Sibiriens“ auch junge Leute gab. Es stellte sich heraus, dass es die Enkel von Repressierten waren. Liweta gehörte ebenfalls zu ihnen. Ihr Großvater starb irgendwo in den Solikamsker Lagern, Mutter und Großmutter verbüßten ihre Verbannungsstrafe im Norden der Region Krasnojarsk.
Vor einigen Jahren hielt Liweta Spride sich in Karaul auf, wo ihre Großmutter begraben liegt; sie stellte an ihrer letzten Ruhestätte ein Kreuz auf. Übrigens gelangte sie mit einem Motorboot nach Karaul. Einen anderen Weg dorthin gibt es nicht.
O.M. Wawilenko merkte an, dass die Menschen aus dem Baltikum, die überaus gewissenhaft und fleißig waren und sich durch ihre besondere Kultur von den anderen unterschieden, den Menschen im Bezirk in guter Erinnerung geblieben sind. In unseren Dörfern stehen heute noch die Gebäude und Wohnhäuser, die sie gebaut haben. In den Familien der Suchobusimsker werden Gegenstände verwahrt, die sie mit eigenen Händen anfertigten. Etliche Verbannten-Siedler, die ans Ufer der Ostsee zurückkehrten, standen noch viele Jahre mit ihren sibirischen Nachbarn und Freunden in Briefkontakt. Einige reisten sogar hierher, um die Orte zu besuchen, die ihnen zur Heimat wurden. Es kam vor, dass Angehörige von unseren Friedhöfen Asche ihrer Eltern mitnahmen, um sie auf den heimatlichen Dorffriedhof umzubetten.
Unter den Gästen sind auch Leute, die bei weitem nicht mehr jung sind. Ob sie vielleicht in Sibirien geboren sind?
-Mich brachten sie 1941 als Säugling in eure Region. Es gab etwa 200 solcher Kinder. Viele kamen unterwegs ums Leben. Meine Eltern heirateten 1939, und 1941 wurde der Vater verhaftet. Mama war so verzweifelt, dass sie sich während der Fahrt in die Verbannung mehrmals unter den Zug werfen wolle. Später sagte sie: du hast mich davor bewahrt – ich konnte doch so ein kleines Krümelchen nicht allein zurück lassen…, - erzählte uns die Rigaerin Daze Silinja.
Ihr Vater kehrte nicht aus dem Lager zurück; es stellte sich heraus, dass er noch 1942 erschossen wurde. Davon erfuhr die Familie erst in den 1980er Jahren, während Gorbatschows Perestroika.
Daze verbrachte 16 Jahre in Sibirien. Sie spricht sehr gut Russisch. Als Bestätigung sang sie bekannte russische Lieder. Die Frau bewahrt bis heute in ihrem Herzen Dankbarkeit gegenüber einfachen Menschen – Sibiriern und Leidensgenossen, die ebenso vertrieben wurden wie sie selber. Sie meint: wir hätten niemals überlebt, wenn wir nicht ihre Hilfe und Unterstützung bekommen hätten.
Die Zwillinge Talis und Janis Weismanis nehmen eine Handvoll Erde aus dem fernen Sibirien mit nach Lettland.
Talis ist Abgeordneter der Rigaer Duma, Dirigent des berühmten Männerchors „Dziedonis“ und Direktor der Schule in den musikalischen Leistungskursen. Sein Bruder Janis arbeitet als Mechanik-Ingenieur; er absolvierte die höhere Schule der Verwaltung für Landwirtschaft.
Ihre Eltern Rollands Rupeks und Lanija Weismane begegneten einander in der Siedlung Osernoje im Bezirk Aban. Beide waren 1946 in die Region Krasnojarsk verbannt worden.
- Vater und Mutter erinnerten sich nicht gern an die Verbannungsjahre, - erzählt Talis Weismanis. – Ich weiß noch, wie Mama sagte, dass sie mitten in der Nacht abgeholt wurden. Die Menschen wussten nicht, wohin man sie brachte und nahmen deswegen auch keine Winterkleidung mit. Viele, unter anderem auch unsere Verwandten, wurden in die entlegene Taiga gebracht. Stechmücken, Mücken, Schwärme von Kriebelmücken. Mama war noch ein junges Mädchen, und man schickte sie zum Arbeiten in die Holzfällerei. Dort musste sie schwere Baumstämme tragen, Bäume abholzen und mit der Hand zersägen. Der Vater hatte mehr Glück, er arbeitete in der Bäckerei. 1950 lernten die beiden sich kennen. Mein Bruder und ich sind zwei Jahre später geboren, Schwester Anita 1953.
- Ich war sehr froh, die Orte aufzusuchen, wo wir geboren sind und unsere Kindheit verbrachten, - schaltet sich Janis in das Gespräch ein. – In jenen Jahren lebten in der Siedlung Osernoje 400 Menschen: Russen, Lette,. Esten, Litauer, Wolgadeutsche. Jetzt sind es nur noch 40. Wir dachten, dass das Haus noch erhalten geblieben ist, das Vater gebaut hat. Aber an der Stelle sieht man nur noch Überreste des Fundaments.
In Osernoje wurden wir herzlich aufgenommen. Völlig unerwartet kam ein Treffen mit unserer Altersgenossin Ljudmila zustande. Mit diesem Mädchen haben wir als Kinder zusammen gespielt. Es ist erstaunlich, wie viele Jahre vergangen sind, und trotzdem kann sie sich noch daran erinnern, dass mein Bruder und ich immer ein kleines Fläschchen Milch um den Hals hängen hatten. Eine Kuh bewahrte die Familie vor dem Hungerdasein. Ich weiß noch, dass sich am Tisch immer viele lettische Kinder in unserem Alter versammelten. Mama schenkte ihnen allen jeweils einen kleinen Becher voll Milch ein und gab ihnen ein Stückchen heißes Brot. Das sind die wärmsten Erinnerungen an die Jahre der Verbannung.
- 1956 erlaubte man den Letten nach Hause zurück zu kehren, aber sie wurden von der Heimat unfreundlich aufgenommen. Man betrachtete uns wie Feinde, - sagt Talis. – Da Thema Verbannung war lange Zeit verboten, nicht einmal zu Hause sprachen wir über Sibirien. Viele Jahre sind seitdem vergangenen, vieles hat sich im Leben, in unseren Staaten verändert. Wie dem auch sei, schwere Erinnerungen und Gefühle der Kränkung gibt es nicht. So war damals eben die Zeit.
Mit den Ausländern zusammen war die krasnojarsker Einwohnerin Wera Sysojewa, Mädchenname Sozkowa. Im Frühjahr 1950, als sie 11 Jahre alt war, wurde ihre Familie – Mutter und fünf Kinder - zu Kulaken (Großbauern; Anm. d. Übers.) und Volksfeinden erklärt, von ihrem heimatlichen Einzelgehöft vertrieben und nach Sibirien deportiert. Der Vater wurde verhaftet. Aber 1957, als man den Sozkows erlaubte, nach Lettland zurück zu kehren, weigerte Wera sich Krasnojarsk zu verlassen. Die Brüder reisten ab, sie selber blieb.
- Ich lernte Dsintra im Jahr 2000 kennen, während ihres Aufenthalts in Sibirien, - erzählt Wera Wasiljewna. – Zuerst waren die Gruppen aus Lettland, die mit Dsintra durch Sibirien reisten, ziemlich klein – vielleicht 5-7 Leute. Aber mit jedem Jahr unternehmen mehr Menschen diese Reise.
Leider verweilten die Gäste aus Lettland nur wenige Stunden in Suchobusimskoje. Dabei wollte man doch so viele Fragen stellen: was sie über Sibirien wissen, woran sie sich erinnern, wie es in der Verbannung war, welchen Menschen sie hier begegneten.
- Wissen Sie, wir sind sehr gerührt, wie die Russen sich uns gegenüber verhalten, - sagt Mara Lasmane. Sie wurde im Zug geboren, auf dem Weg in die Verbannung. – Egal wohin wir auch kamen, man nimmt uns immer mit herzlicher Gastfreundschaft auf. Die Menschen verhalten sich wohlwollend und sind sehr freundlich. Es ist sehr angenehm, dass sie in Russland das Thema der stalinistischen Repressionen nicht vergessen haben; Enthusiasten erforschen diesen Zeitraum und bekommen dabei nicht einmal staatliche Unterstützung, sind ohne Hilfe seitens staatlicher Strukturen.
- Meine Schwiegermutter, Gertruda Skrinda, wurde gleich zweimal nach Sibirien verschleppt, - berichtet die Journalistin Taira Soldnere . – 1941 war sie noch ganz klein. Sein Vater kam im Lager um, Mutter und Tochter verbrachten die Verbannung im Dserschinsker Bezirk. Nach dem Krieg kehrte Gertruda nach Hause zurück, aber 1949 wurde sie erneut verschleppt. Und die Familie des Bruders meines Großvaters wurde in die Ortschaft Beresowka in der Region Krasnojarsk deportiert. Das ist die Geschichte unserer Völker – die schreckliche, tragische, aber eine Geschichte, die man niemals vergessen darf.
Auf der Reise wird die Gruppe aus Lettland von zwei lutherischen Geistlichen begleitet. Einer von ihnen, Guntis Kalme, unternimmt eine solche Reise bereits zum fünften Mal.
- Das Herz zieht sich zusammen, wenn mein Blick auf die Ruinen der Kirche
fällt, - sagt er und sieht zur zerfallenen Dreifaltigkeitskirche hinüber. – Aber
mit jedem Jahr sind es weniger
Kirchen, die ich in so einem Zustand sehe, immer mehr neue tauchen auf
sibirischem Boden auf. Und hier in Suchobusimskoje verhält es sich genauso. Ich
glaube, dass bei Ihnen alles gut wird.
2010 erschien mit Unterstützung einer Stiftung das Buch des ehemaligen lettischen Verbannten Ilmar Knagis „So waren die Zeiten“. Übrigens, zwei Exemplare – und sogar eine DVD mit dem Film „Land der Kindheit – Sibirien“ ließ uns Dsintra als Geschenk zurück. Und dann überreichten die Gäste uns noch ein ganz unerwartetes Mitbringsel – eine Flasche Rigaer Balsam.
Die Letten verlassen den Suchobusimsker Boden. Beim Abschied tauschen sie ihre Mail-Adressen aus, versprechen sich, miteinander in Verbindung zu bleiben. Plötzlich finden sich in Lettland Menschen, di ihre Verbannung im Suchobusimsker Bezirk verbracht haben.
Natalia Golowina, Tatjana Wadenkowa, Olga Wawilenko
Fotos: Aleksej Matonin
“Land-Leben”, 26.07.2013