Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Русский

Der Wald war mir lieber als die Gärten

Als wir uns auf den Weg machten, um Emma Iwanowna Heidelbach zu besuchen, erwarteten wir dort eine vom Alter gebeugte alte Frau. Und wie verwundert waren wir, als uns an der Pforte eine kleine, vielleicht einen Meter große, Frau begrüßte. Und irgendwie wurden wir sofort von Sympathie durchdrungen. Die Hausherrin lud uns in ihr Haus ein. Sie macht keine hektische Bewegungen, doch ihre Bewegungen sind lebhaft. Sie stellt sich auf einen Stuhl, schenkt uns Tee ein.

Man kann sie nur um ihre Zähigkeit, ihre Selbstbeherrschung beneiden. Mit Sicherheit hat sie sich in all den vielen Jahren die Angewohnheit zu eigen gemacht, nicht die neugierigen Blicke oder ungeschickten Höflichkeiten der Menschen wahrzunehmen. Wie viel bitteres Leid musste Emma Iwanowna Heidelbach auf ihren kleinen, zerbrechlichen Schultern ertragen – es würde für drei Leben reichen. Es war ihr versagt geblieben, die Freuden des Familienglücks und der Mutterseins zu erleben, und boshafte Missdeutungen gab es wahrscheinlich reichlich.
Und dazu noch auf fremdem Boden, unter lauter großen Menschen, deren Sprache sie noch nicht einmal kannte.

Was mag ihr Krankheit ausgelöst haben? Eine genetische Besonderheit oder eine endokrine? Wer vermag das jetzt zu sagen? Aber nur Emma Heidelbach blieb ihr Leben lang klein, nur so groß, wie ein sechsjähriges Mädchen. Die Erwachsenen verhielten sich ihre gegenüber stets liebevoll und fürsorglich, waren bemüht, sie vor Hänseleien zu bewahren. Selbst in den schwierigsten Jahren blieb das Mädel nicht ohne die Unterstützung und Liebe der ihr nahestehenden Personen.

Anna Iwanowna erzählt nicht gern aus ihren Kindertagen. Von jenen glücklichen Erinnerungen wird ihr bisweilen noch trauriger ums Herz.

- Das große Haus im Dorf Straßburg, Bezirk Pallasowka, an der Wolga, - sagt sie und versucht gar nicht erst ihre Tränen zurück zu halten. – Die glückliche Familie, das Haus mit dem Garten, der Hof – voller Vieh und Geflügel. Die liebenden, fleißigen Eltern. Der Vater arbeitete als Pferdepfleger in der Kolchose. Er kümmerte sich jedoch nicht nur um die Pferde, sondern auch um Rinder und Kamele. Mama war im Kindergarten als Wäscherin tätig, sie erwartete gerade ihr fünftes Kind. Ich war schon fast sieben Jahre alt.

Die erfreulichen Erinnerungen wechseln sich ab mit anderen – düsteren, schrecklichen. Wie sie mit dem Treck, ohne Hab und Gut, zur Bahnstation in die Bezirkshauptstadt fuhren – nach Pallasowka. Dort warteten bereits lange Züge auf sie. Männer, alte Menschen, Frauen und Kinder aus dem gesamten Bezirk wurden ins Ungewisse abtransportiert. 17 Tage waren die Menschen im Herbst 1941 unterwegs. Vom Vater wurde die Familie Heidelbach sofort getrennt. Später erfuhren sie, dass man ihn in die Arbeitsarmee geschickt hatte.

- Niemand wusste, wohin sie uns brachten und weshalb. Es ging das Gerücht, dass sie uns tief in den Wald hinein transportieren wollten, um uns dort alle zu töten. Die Verzweiflung war grenzenlos. Die Kinder wurden unterwegs schwer krank, die kleinsten und schwächsten starben.

Der Zug traf in Krasnojarsk ein, als bereits die ersten, starken Fröste eingesetzt hatten. Von hier aus wurden wir mit einem Lastkahn nach Atamanowo gebracht und in das Dorf Irkutskaja geschickt.

- Bis nach Irkutskaja fuhren wir auf Karren. Ich ergötzte mich an den Bäumen, zupfte die Oma am Ärmel und meinte – schau doch mal – so schöne, dicht bewachsene Gärten. Sie seufzte nur und antwortete dann: „Das ist wild gewachsener Wald, das sind keine Gärten“.

Emma Iwanowna denkt bis heute mit Dankbarkeit an die kinderreiche Familie der Wysotzkijs in Irkutskaja zurück. Dort wurden die deportierten Deutschen einquartiert. Diese Leute halfen der mittellosen Familie, in der die Kinder überhaupt kein Russisch konnten und nur die Mutter einige wenige Brocken verstand. Die Wysotzkijs erklärten der Frau, wie man unter den schwierigen sibirischen Bedingungen überleben kann. Wie man Bäume fällt. Wie man die Hütte bei grimmiger Kälte warm hält, von der man an der heimatlichen, erntereichen Wolga noch nicht einmal etwas gehört hatte.

Doch längst nicht alle Einwohner verhielten sich den Sonder-Umsiedlern gegenüber verständnisvoll. Die durch Armut, Elend und schwere Landarbeit entkräfteten, durch den unerwarteten Kriegsausbruch verängstigten Dorfbewohner nahmen die ungebetenen Gäste mit Furcht und sogar Zorn auf.

- Iwan wurde in die Schule geschickt. Als er zurückkam, hatte man ihn verprügelt – kleine Jungs, deren Väter an der Front gefallen waren, kamen nicht damit zurecht, als sie ihn Deutsch sprechen hörten. Mama wollte auch mich in die Schule schicken, aber nach diesem Vorfall ließ sie mich dann zu Hause und schloss mich dort den ganzen Tag ein.

Der erste Winter war der schlimmste. Die Enge, die Kälte und der Hunger. Man konnte nicht auf die Straße hinaus, denn wir hatten nichts zum Anziehen, und die Dorfkinder nutzten jede Gelegenheit, um ihren Spott mit uns zu treiben. – Auf wessen Kosten lebten wir? Aus der Kolchos-Herde bekamen wir eine ausgemergelte Kuh zugeteilt. Der Vorsitzende sagte zur Mama: nimm dir die weiße da, und du wirst dich dein Leben lang mit guten Worten an mich erinnern“. Und so kam es auch. Diese Kuh ernährte sich selbst – und uns. Wir transportierten auf ihr Heu und benutzten sie zum Pflügen. Und jeden Tag gab sie uns einen Liter Milch.

Die vorsorgliche Großmutter hatte zwei Butterfässer und einen Handschleuder mitgenommen. Man brachte den Heidelbachs Milch, und die Mutter machte daraus Sahne. Einen kleinen Teil davon nahm sie für sich als Lohn. Sie sammelt Schmand an, schlägt Butter und tauscht das gegen Heu für die Kuh. Später allerdings verkaufte sie auch eines der Butterfässer gegen Nahrungsmittel – und auch ihre schönen, warmen Umhängetücher, das Geschirr und alle anderen Sachen. Nur die Schleuder gab sie nicht her.

Etwas leichter wurde es 1942, als man die Heidelbachs nach Minderla umsiedelte. Die Sibirjaken und Sonder-Umsiedler hatten sich aneinander gewöhnt. Die Deutschen mussten nun schon nicht mehr so häufig eine feindliche Gesinnung seitens der anderen Dorfbewohner erfahren. Die kleine Emma allerdings hatte Angst vor den Leuten. Die Familienmitglieder behüteten das Töchterchen mit aller Kraft. Dennoch beschlossen sie, sie noch in demselben Jahr in die Schule zu schicken.

- Fast unmerklich fingen wir an Russisch zu sprechen. Und immer weniger – Deutsch. Später ertappte ich mich immer öfter bei dem Gedanken, dass ich auch schon Russisch denke. Und als ich in die Schule kam, habe ich zusammen mit Mama die russische Schrift gelernt. Trotzdem gab es mitunter Missverständnisse. Mein Bruder weigerte sich beispielsweise zum Unterricht zu gehen: die Lehrerin nannte ihn nicht Hans, sondern Gans. Erst später nannten sie ihn dann Iwan.

Und mir schwebten in allem nur Kränkungen vor Augen. Meine Altersgenossen kamen alle zu den Pionieren, nur ich nicht. Auch wenn ich den Sinn dieses ganzen Rituals sowieso nicht verstand – es war auf jeden Fall unangenehm. Aus Verärgerung gab ich der Lehrerin Else Schreiner die grobe Antwort, dass ich die Pioniere auch überhaupt nicht nötig hätte. Und dann wurde ich ins Arbeitszimmer der Direktorin, einer ehemaligen Frontkämpferin, gerufen. Sie schrie mich an: „Hat deine Mutter dir das beigebracht, das du nicht zu den Pionieren willst!“

So gingen die Jahre dahin. Man fing an, mit den Deutschen ein wenig geduldiger umzugehen, mit einigen freundete man sich sogar an. Und über den Tag des Sieges freuten sie sich gemeinsam und feierten ihn mit Tränen in den Augen.

Im Frühjahr 1948 schickte man die Familie Heidelbach nach Istok. Aber es gab dort keine Behausungen, und so ließen sie sich in Abakschino nieder. Und 1950 kehrte der Vater aus der Arbeitsarmee zurück.

- Erst von dem Zeitpunkt an hatten wir dann genügend Brot zu essen. Mama kaufte Mehl und buk daraus schmackhafte Semmel. Ich wurde der Kantine als Arbeiterin zugeteilt. Und im Sommer jätete ich in der Sowchose Unkraut auf den Weizen- und Maisfeldern, den Gurken- und Tomaten-Plantagen, im Herbst half ich das Gemüse putzen. Während der Saison verdiente ich nicht schlecht. Und die Wintertage waren mit Näh-Arbeiten ausgefüllt.

Emma näht sich ihre gesamte Kleidung selber. Sie hat sich das Schneidern selber beigebracht, mit diesem Handwerk hat sie sich ihr Brot verdient. Es ist schwer sich vorzustellen, wie sie die Nähnadel in ihren kleinen Kinderhändchen hält. Und wie geschickt sie damit umgeht. Wie man gleichmäßig-akkurate und feste Stich macht – das hat ihre Mutter ihr gezeigt. Stricken und sticken auch.

Emma Iwanowna macht auch heute immer noch gern Handarbeiten. Das Zimmer wird von einer Vielzahl ihrer Arbeiten geschmückt. Besonders schön sind die wundervollen mit den Kreuzstich-Ornamenten. Die Fäden zum Sticken zieht sie aus alten Stricksachen heraus, die Motive für ihre Arbeiten denkt sie sich selber aus. Diese Beschäftigung fesselt sie so sehr, dass für traurige Gedanken überhaupt keine Zeit bleibt.

In Bolschie Prudy lebt Emma Iwanowna seit 1973. Sie kümmert sich selber um den Ofen und ihren Gemüsegarten. Aber sie sagt, dass sie sich nicht allein fühlt. Zumal ihre Verwandten sie regelmäßig anrufen, einmal die Woche kommt ihr Bruder aus Krasnojarsk und hilft hier ein wenig in Haus und Hof. Häufig kommen auch Freundinnen vorbei, oder sie geht selber zu Besuch. In den vielen Jahren haben die Leute aus Bolschie Prudy sich an die kleine Miniatur-Dorfbewohnerin gewöhnt. Nun zieht sie schon keine verwunderten Blicke mehr auf sich.

- Mein Bruder hat sich irgendwie nach Deutschland aufgemacht, wollte mich mitnehmen. Aber ich will nicht von hier fortgehen. Auch wenn ich auf Suchobusimsker Boden reichlich Leid und Kränkungen erfahren musste – trotzdem ist es meine Heimat geworden. Ich kenne Deutsche, die sich sofort nach der Abschaffung der Aufsicht ins Wolga-Gebiet aufgemacht haben. Doch viele sind zurück gekommen. Verwandte und alte Leute, die ich gut kenne und die nach Deutschland gezogen sind, erzählen, dass die Sehnsucht, das Heimweh nach Sibirien sie nicht loslässt.

Natalia Golowina
„Landleben“ (Suchobusimsker Bezirk), 25.10.2013


Zum Seitenanfang