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Zum Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen

Erinnern wir uns an den Herbst des Jahres 1937 in Chakassien; wie im gesamten übrigen Land begannen auch hier die Massen-Verhaftungen. Den größten Anklang fanden, wie wir heute sagen würden, die Kriminalverfahren, die gegen leitende Angestellte in der jungen autonomen Republik zurechtgezimmert wurden. Man beschuldigte sie des „bourgeoisen Nationalismus“, der treuen Ergebenheit gegenüber der Idee Georgij Itygins und seiner Mitstreiter von der Abtrennung Chakassiens in eine selbständige autonome Republik „mit unmittelbarer Unterstellung unter die UdSSR und äußerstenfalls – unter die RSFSR“. Außerdem „enthüllten“ die Ermittler des NKWD, dass der Gebietsstab der nationalistischen Organisation sich auf die Ausübung von … Terrorakten gegen die Parteileitung der WKP (B) und die Regierung anlässlich ihres Besuches in Chakassien vorbereitete. In Moskau planten angeblich diejenigen Mitglieder der Organisation ähnliche Aktivitäten, die sich auf den Parteitag der Sowjets in die Hauptstadt begeben hatten oder dort studierten. Die Strafakten der „bourgeoisen Nationalisten“ wurden bei einem Lokaltermin des Militär-Kollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR in Krasnojarsk untersucht. Genauer gesagt: sie wurden flüchtig durchgesehen. Zehn Minuten Verhandlungsdauer – und schon hatte man über das Schicksal eines Menschen entschieden. Am häufigsten wurde zur Höchststrafe verurteilt. Im Juni 1938 wurden der Vorsitzende des chakassischen Gebietsexekutiv-Komitees Michail Torosow, den verantwortlichen Sekretär des Gebietsexekutiv-Komitees Nikolai Kongarow, den Sekretär des chakassischen Gebietskomitees des Allrussischen Leninistischen Kommunistischen Jugendverbandes Kiprian Tschulschanow, den Vorsitzenden des Gebietsgerichts Fjodor Tolstuchin und andere - insgesamt neun Personen. In der Erschießungsliste stand auch der Vorsitzende des Komitees für Kunst-Angelegenheiten beim chakassischen Gebietsexekutiv-Komitee Iwan Togdin.
In den Jahren des Großen Terrors zermahlten die Mühlsteine der Repressions,aschinerie die Schicksale vieler Menschen, die im ganzen Land oder auch nur in Chakassien sehr bekannt waren, aber auch solche, welche nur die anderen Dorfbewohner gut kannten. Auch der Bauer Grigorij Kopylow aus Nischnije Sira konnte diesem tragischen Schicksal nicht entrinnen.

Heute veröffentlicht unsere Zeitung Fotos und Erinnerungen über Iwan Togdin und Grigorij Kopylow, die von der chakassischen republikanischen „Memorial“-Gesellschaft zur Verfügung gestellt wurden.

Abschiedsbegegnung

Erinnerungen an die schwierigste Zeit im Leben der Familie „des Volksfeindes“ und über Iwan Wladimirowitsch selbst hütet seine Tochter Nina Michailowna (Togdina). „Leider habe ich meine Vater nie kennengelernt und kann mich auch an meine Mutter nicht erinnern – ich war damals einfach zu klein, - sagt Nina Iwanowna. – Das, was ich weiß, haben meine Großmütter und Tanten haben mir von meinen Eltern erzählt“. Julia Alekandrowna, die leibliche Tante und Schwester von Togdins Ehefrau, hat Ninotschka großgezogen; sie hinterließ Aufzeichnungen ihrer Erinnerungen.

Iwan Wladimirowitsch war ein ordentlicher, gutmütiger Mensch. Er hielt sich häufig in unserer Familie auf, um die Tante zu besuchen, weil diese so leckere Pfannkuchen backen konnte. Wir fuhren unternahmen zusammen Bootstouren auf dem Abakan, fuhren weite Strecken zum Beerensammeln, gingen angeln, besuchten das örtliche Jurten-Museum. Er hatte es gern, wenn ich ein chakassisches Kleid trug. Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als er in der sowjetischen Parteischule (mein Vater war ebenfalls dort als Mitarbeiter der Buchhaltung tätig). Ich weiß noch, wie seine Mutter angefahren kam, eine kleine, gutmütige Alte …

Und dann kam das schreckliche Jahr 1937. Nach dem Erscheinen des Zeitungsartikels „Sowjetisches Chakassien“, in dem sie Iwan Wladimirowitsch als „eingefleischten bourgeoisen Nationalisten“ bezeichneten, wurde klar, dass er seiner Verhaftung nicht entgehen konnte. Wir wohnten damals in Tschernogorsk, und die jungen Togdins in Abakan. Und dann fuhren wir also zu ihnen, um Familienrat abzuhalten… An den Gesprächen der Erwachsenen ließ man mich, die 13-jährige, nicht teilhaben, aber ich weiß noch, was für eine Atmosphäre dort herrschte – es war, als ob in der Luft Schmerz, Kummer, Zweifel, Befremden und große Niedergeschlagenheit herrschten.

Es gab auch noch eine Sitzung des Büros des Gebietskomitees der Partei, bei der man ihn und andere Genossen mit dem Vorsitzenden des Exekutivkomitees Torosow an der Spitze aus der Partei ausschloss. Aber das erfuhr ich erst später.

Während dieser, unserer Begegnung verabschiedete sich Iwan Wladimirowitsch von der Familie… Zu der Zeit war seine älteste Tochter Rimma fünf Jahre alt, die jüngste – Ninotschka – weniger als ein Jahr.

Nach seiner Verhaftung wurde seine Frau Jelena, meine Schwester, mit zwei Mädchen aus der Wohnung gejagt und, ebenso wie ein paar andere Familien von „Volksfeinden“, im „Trotzkisten-Haus“ einquartiert. Na ja, und wir zogen aus Tschernogorsk zu ihnen um und lebten dort mit ihnen Ich erinnere mich noch daran, dass alle schreckliche Angst hatten und weitere Verhaftungen erwarteten. Häufig fuhren wir zum Minusinsker Gefängnis, rannten zum Bahnhof, wenn sie Gefangene aus Abakan abtransportierten. Meine Schwester fand eine Arbeit als Tellerwäscherin – war das eine Freude, aber sie währte nicht lange. Als „Ehefrau eines Volksfeindes“ wurde sie schon bald darauf entlassen. Jelena war gezwungen ihre Kleidung zu verkaufen. Auf dem Basar gab es viele solcher armen Teufel.

Für die unglücklichen Frauen der Verhafteten setzte sich Michail Grigorjewitsch Torosows Frau ein. Sie war eine sehr gute, mutige Frau.

Jelena absolvierte eine Arzthelferinnen-Ausbildung und begann als Krankenschwester zu arbeiten. Aber gab eine Reihe neuer Kümmernisse – unser schwer kranker Vater starb; zudem fiel der Bruder im Finnischen Krieg.

Als der Große Vaterländische Krieg ausbrach, nahm meine Schwester eine Arbeit im Abakaner Hospital auf, und einige Zeit später, nachdem sie ihre minderjährigen Kinder bei uns zurück gelassen hatte, begab sie sich an die Front. Sie diente an der Nordfront. Einmal, als im Hospital die nächste Partei verwundeter Soldaten eintraf, begegnete sie dem ältesten Bruder (!). Später begleitete sie ihn ins Hinterland. Und 1944 wurde sie selber aufgrund einer Verwundung demobilisiert. Nachdem sie nach Chakassien zurück gekehrt war, fand sie Arbeit im Krankenhaus in der Siedlung Ust-Bjur. Dort starb sie am 29. Mai 1944an Typhus. Die Kinder wuchsen bei der Großmutter und mir, der Tante, auf…

***

Iwan Wladimirowitsch Togdin. Geboren 1902 in der Ortschaft Askis. Absolvierte die kommunistische Universität der Werktätigen des Ostens in Moskau.

Im Autonomen Gebiet Chakassien stand er an der Spitze des Komitees für Kunst-Angelegenheiten. Am 28. September 1937 wurde er verhaftet. Das Todesurteil (Tod durch Erschießen) wurde am 13. Juli 1938 verkündet und vollstreckt. Er wurde am 21. Mai 1957 vom Militär-Kollegium des Obersten Gerichts der UdSSR rehabilitiert.

„Leitet es an Kopylow weiter!...“

Auf diesem Foto sieht man meinen Großvater Grigorij Stepanowitsch Kopylow mit seinem ältesten Sohn Michail und den Töchtern. Insgesamt hatte er sechs Kinder. Er selber stammte aus einer Kosaken-Familie, dem Glauben nach war er Molokane („Milchtrinker“; sie nehmen an den Fastentagen Milch zu sich und sind eine Gruppierung des spirituellen Christentums, die sich von de Russisch-Orthodoxen Kirche getrennt haben; Anm. d. Übers.), verheiratet war er jedoch nach den russisch-orthodoxen Gesetzen. Sie lebten in der Ortschaft Nischnie Siry im Taschtypsker Bezirk. Die bäuerliche Lebensweise der Familie wurde im Mai 1938 zerstört. Ich erinnere mich, dass die Großmutter mir in meiner Kindheit erzählte, Leute wären in der Nacht gekommen, um den Großvater abzuholen, und sie hätten in nach Taschtyp gebracht. Am Morgen des folgenden Tages hätte sie sich in die Bezirksstadt begeben, dort aber auch nichts Vernünftiges erfahren. Man hatte die Verhafteten bereits abtransportiert. Es gelang ihr lediglich irgendeiner Person ein Bündel in die Hand zu drücken – mit den Worten: „Leitet es an Kopylow weiter!...“ Großmama war der Meinung, dass ihr Mann irgendwo im Norden in den Schachtanlagen arbeitete. 1956 starb sie, ohne Näheres über sein Schicksal erfahren zu haben. Erst viele Jahre später erfuhr unsere Familie, dass Grigorij Stepanowitsch, den man der antisowjetischen Agitation angeklagt hatte, auf Anordnung einer Troika der NKWD-Verwaltung am 9. August 1938 in Minusinsk erschossen hatte.

Leider weiß ich nur sehr wenig über meinen Großvater. Man erzählte, dass er es verstand, den Menschen gute Laune zu verschaffen, viel zu scherzen. Und er sang sehr gern: „Mein Vater war ein echter Pflüger…“. Ich glaube, dass Grigorij Stepanowitsch ein guter Mensch gewesen ist. Er hat mit seiner Frau die Kinder erzogen – bis zu dem Zeitpunkt, so lange er konnte…

Fünf Kinder – Michail, Iwan, Maria, Fjodor, Jakob – verteidigten das Land in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges. Michail und Fjodor verbrannten in Panzern…

Die Jüngste in der Familie stand nur aufgrund ihres Kindesalters nicht in den Reihen der Verteidiger.

Iwan und Jakob arbeiteten bei Kriegsende als Fahrer. Maria ( meine Mama) wurde Arzthelferin. Und die Jüngste, Ludmila, unterrichtete nach Beendigung des Lehrerinnen-Instituts in Abakan Russisch und Literatur. Die Geschwister lebten einträchtig miteinander, halfen einander so gut sie konnten. Das lehrten sie auch uns, ihre Nachfahren.

Nadeschda Lukoschewitschene
Tschernogorsk
Chakassien. 30.10.2013


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