Gestern gedachte man in Norilsk der unschuldigen Häftlinge des GULAG.
Am 30. Oktober, dem Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen, fanden die Norilsker sich traditionsgemäß zusammen, um sich vor der Asche derjenigen zu verneigen, die ihre letzte Ruhe am Fuße des schweigenden Schmidticha-Berges fanden. Seit 1942 sind hier die Menschen „zur ewigen Ruhe“ zurückgeblieben, die im Norillag ums Leben kamen. Anfang der 1990er Jahre tauchten an den Orten des Leids, an denen die Kennzeichen der Trauer zu dem Zeitpunkt bereits dem Erdboden gleichgemacht waren, erste Gedenkstätten auf – eine Kapelle, Kreuze, Zeichen des Gedenkens… Heute reisen Menschen aus der ganzen Welt zur Gedenkstätte „Norilsker Golgatha“. Es ist bekannt, dass in den Norilsker Lagern hunderttausende Menschen aus 23 Ländern leiden mussten. Sie waren es auch, die als erste Erbauer des Kombinats und der Stadt in Erscheinung traten. Und es ist eine Angelegenheit unseres Gewissens – ihre Schicksale nicht in Vergessenheit geraten zu lassen…
Unter denjenigen, die in diesem Oktober-Schneesturm Schulter an Schulter auf
der Gedenk-Versammlung standen, befanden sich Menschen, die sich daran erinnern,
wie vor sechzig Jahren der Häftlingsaufstand im Gorlag begann. In unserer Stadt
lebt die ehemalige politische Gefangene Olga Iwanowna Jaskina. Mit dem Flugzeug
traf aus Moskau ein Teilnehmer des Aufstands ein – der 88-jährige
Menschenrechtler Lew Aleksandrowitsch Netto. Am Vorabend
hatte er zusammen mit der Journalisten und Forscherin an der Geschichte des
Norilsker Aufstands – Alla Borisowna Makarowa – an den Museumsbegegnungen
teilgenommen, die zum Gedenken an den 60. Jahrestag des Aufstands in Talnach und
Norilsk abgehalten wurden.
Am „Norilsker Golgatha“ beteten die Nordbewohner mehrerer Generation für die verstorbenen Seelen der Opfer des Norillag. Viele Schüler fanden sich hier zum ersten Mal ein, und man konnte deutlich wahrnehmen, dass die Kinder von einem besonderen Gefühl der Anteilnahme gegenüber der Wahrheit der Historie erfüllt waren. Eine kleine Gruppe Frauen aus der Hauptstadt der Taimyr-Halbinsel – aus Familien verbannter Deutscher, Kalmücken und Weißrussen – verneigten sich vor den Opfern im Namen der Einwohner von Dudinka; durch diese Stadt waren hunderte von Häftlingsetappen ins Norillag gelangt.
In den vergangenen Jahren sind die Menschen vom Schmidticha-Berg immer zum Museum der Geschichte des Norilsker Industriegebiets zurückgekehrt, wo in der Grünanlage nach langen Wartejahren für die Opfer des Norillag ein Gedenkstein errichtet wurde. Betagte Norilsker, deren Leben von den Repressionen unmittelbar betroffen war, standen auch jetzt wieder an diesem bescheidenen Ort des Gedenkens und hielten einander bei den Händen. So hatten auch damals, im Jahre 1953, die Teilnehmer des tragischen „Aufstands der Seele“ im Gorlag nicht die Hände voneinander gelöst. Wenn die Erinnerung auch nur für einen kleinen Augenblick solche Ereignisse streift, möchte man schon keine überflüssigen Worte mehr dazu äußern, denn sie würden einem doch nur leer und vollkommen unangebracht erscheinen… Der Moskauer Forscher an der Geschichte des Widerstands im GULAG –Nikolaj Aleksandrowitsch Formosow, der aus der Hauptstadt eintraf, um der Teilnehmer am Norilsker Aufstand zu gedenken, zog bei leichtem, wie zum Trost herabrieselnden Schneefall, seinen Hut und sagte leise: „Lasst uns schweigen; im Herzen gedenken wir derer, die in den stalinistischen Lagern waren, die uns für immer lieb und teuer sind….“. Die Menschen flüsterten die Namen politischer Häftlinge, von denen einige den Norilskern sehr viel wert gewesen waren: Doktor Serafim Wasiljewitsch Snamenskij, der Baumeister Wasilij Feoktistowitsch Romaschkin, der Erfinder und Forschungsreisende Wilis Karlowitsch Traubergs… Viele, sehr viele Norilsker sind es gewesen….. Und natürlich gedachten wir auch der bekannten Meisterin Anna Wasiljewna Daniljuk, die aus der Ukraine in den Norden vertrieben wurde… Genau am 30. Oktober jährt sich zum ersten Mal der Tag, an dem sie aus dem Leben schied, und dennoch erinnern sich die Herzen mit Freude an sie alle, - so interessant, bedeutsam und notwendig waren diese Menschen für die Gesellschaft. Mögen wir ihrer ewig gedenken und ihnen für unser geliebtes Norilsk dankbar sein.
Fotos: Jelena Chudanowa
„Polar-Wahrheit“ 31.10.2013