Unlängst wandte Larissa Jakowlewna Todyschewa sich an mich – Rentnerin, in der Vergangenheit Geschichtslehrerin, die auf ein Berufsleben von mehr als 35 Jahren zurückblicken kann. Larissa Jakowlewna war eine der Vertreterinnen einer großen Lehrer-Dynastie. Sie bat mich darum, Informationen über ihren Großonkel Kirill Semjonowitsch (1892-1947) zu finden. Sie schrieb dazu folgendes: „1937 wurde er mit seiner Familie verfolgt. Nach vorliegenden Angaben befand er sich bis 1945 im Uderejsker Bezirk, arbeitete in der Schule der Sowchose „Reschajuschij“, die über nur wenige Klassen verfügte.
Auf der Suche nach irgendwelchen Informationen machte ich mich mit der Geschichte des Bezirks Uderej-Motygino bekannt, wollte Klarheit in die Angelegenheit bringen…“.
Kirill Semjonowitsch Todyschew wurde 1892 geboren. Als die Eltern den Drang des Sohnes zum Lernen bemerkten, gaben sie ihn in die Zweiklassen-Lehreinrichtung nach Askis. 1908 schrieb Kirill sich am Krasnojarsker Lehrer-Seminar ein.
In Kirill Todyschews Beurteilung, die in dem Jahr vor de Beendigung des Seminars geschrieben wurde, ist vermerkt, dass er über einen ruhigen, ausgeglichenen Charakter verfügt, gut mit Menschen umgehen kann, ein humorvolles Wesen besitzt und zudem taktisch klug, freundlich und zuverlässig ist.
1912 wurde der Absolvent des Lehrer-Seminars zum Leiter der Schule in Ust-Tschul bestimmt.
Dieser Mensch ist den Bewohnern lange Zeit in der Erinnerung geblieben. So war beispielsweise er es, der als erster in der Siedlung das Neujahrsfest feierte. Gemeinsam mit den Schülern schmückte er den Tannenbaum, fertigte Hasen- und Schneeflocken-Kostüme an, studierte Lieder ein, lehrte sie Tanzen.
Außerdem beschäftigte sich Kirill Semjonowitsch mit dem Sammeln von Folklore: er schrieb Legenden, Überlieferungen, Sagen, Sprichwörter und Redensarten auf. Das angehäufte Material bildete die Grundlage für die Vorstellung „Die chakassische Hochzeit“. Mehr als 40 Personen waren an der Aufführung beteiligt. Im Sommer 1915 fand die Premiere des Stücks auf der Bühne des Minusinsker Dramaturgie-Theaters statt.
Später wird Todyschew versetzt, um an der Schule in Raikowo zu unterrichten. Die Ust-Tschuler standen Schlange, um den Lehrer als Zeichen des Respekts und der Dankbarkeit zu sich nach Hause einzuladen. Das ganze Dorf begleitete ihn bis zum Dorfrand – und sah ihm so lange hinterher, bis das Fuhrwerk des Lehrers nicht mehr zu sehen war.
1924 wurde auf Beschluss des chakassischen Landkreis-Exekutivkomitees eine Kommission aus Vertretern der nationalen Intelligenz gebildet, die fließend die Dialekte ihrer Muttersprache beherrschten – zur Schaffung des chakassischen Schrifttums. Zu ihnen gehörte auch Kirill Semjonowitsch.
Einige Monate später stellt K.S. Todyschew auf der ersten Landkreis-Sitzung der Räte (sie fand vom 7. Bis 12. November 1924 statt) das chakassische Alphabet vor. Man erteilt ihm die Anweisung, eine Nationalfibel zu entwickeln. Kirill Semjonowitsch erfüllte die Aufgabe innerhalb kürzester Zeit. Dabei verfasste er nicht nur die Texte, sondern fertigte auch Zeichnungen und Anmerkungen dazu an. Das Buch wurde in einer Auflage von 3000 Exemplaren herausgegeben. Die Erstklässler lernten nun erstmalig nach einem richtigen Lehrbuch, das in ihrer Muttersprache geschrieben war.
Danach arbeitete Todyschew an einem Lehrbuch (für die 2. Klasse).
Im September 1928 verabschiedete das Haupt-Komitee der Wissenschaft die Anordnung „Über die Belebung der Museumsarbeit unter nationalen Minderheiten“.
1929 beschloss man aus öffentlichen Quellen ein Heimatkunde-Museum in Ust-Abakansk zu schaffen. Als eines der ersten Exponate gelangte in dieses Museum K.S. Todyschews Jurte mit ihrer kompletten Ausstattung. Später schreibt der bekannte Ethnograf K.M. Latatschakow, dass der Lehrer am 28. April des Jahres 1929 in mehreren Fahrten mit dem Leiterwagen die Geschenkten Dinge nach Abakan brachte. Es war unmöglich gewesen, die Achtwand-Jurte mit 236 (!) Gegenständen auf einmal dorthin zu transportieren. Sie bildete die Grundlage der ethnografischen Kollektion, welche Tradition, Alltag und Kultur des chakassischen Volkes widerspiegelte.
1937, auf dem Höhepunkt der Repressionen, wurde Kirill Semjonowitsch verhaftet.
Mirjam Tschertkowa, die am pädagogischen Institut in Abakan mehrere Jahre unterrichtete und anschließend an der Chakassischen Staatsuniversität lehrte, merkt in ihren Erinnerungen an, dass „er an der kleinen Schule der Sowchose „Reschajuschij“ im Bezirk Uderej an der Angara tätig war“. Ausgerechnet dorthin wurde der verfolgte Kirill Todyschew verschleppt. „In dieser rauen Gegend Ost-Sibiriens, unter den verschiedensprachigen Vertretern der umgesiedelten Völker, zeichnete sich K.S. Todyschew innerlich und äußerlich aus, - erinnert sich Mirjam Semjonowna. – Er war schwarzhaarig, stets ruhig und korrekt, intelligent, von allen geliebt und geehrt: der Kinderschar, den Eltern, den übrigen Dorfbewohnern… Und genauso leibte Kirill Semjonowitsch alle Kinder: russische, tatarische, tschuwaschische, mordwinische, finnische. Und er liebte sie nicht nur – er half ihnen auch noch dabei, ihre Muttersprache, ihre Kultur nicht zu vergessen und sich nicht zu schäumen, Vertreter „kleiner“ Völker im russischen Umfeld zu sein … Auf Schulveranstaltungen traten die Kinder mit Liedern, und Gedichten in ihrer Muttersprache auf“.
1945 fuhren Kirill Semjonowitsch und seine Familie nach Krasnojarsk, zwei Jahre später existierte er nicht mehr.
1956 wurde Kirill Semjonowitsch Todyschew vom Regionsgericht der Region Krasnojarsk rehabilitiert.
Vielleicht besitzt irgendjemand Informationen über den Aufenthalt dieses bemerkenswerten Mannes in unserem Bezirk? Sollte dies der Fall sein, teilen Sie dies bitte mit – Larissa Jakowlewna wird dafür sehr dankbar sein.
Übrigens, würdevoller Fortsetzer des Geschlechts, aus dem Kirill Semjonowitsch hervorging, wurde der wissenschaftliche Mitarbeiter des Instituts für Atromphysik der Sibirischen Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften – Kornelij Todyschew. Der Name des talentierten Physikers aus Nowosibirsk, der 2012 Preisträger der Prämie des Präsidenten Russlands auf dem Gebiet der Wissenschaft und Innovation für junge Gelehrte war, bereiste kürzlich das ganze Land. Also der Urgroßvater Kornelijs war der leibliche Bruder von Kirill Semjonowitsch …
Michail Sacharzow
„Angarsker Arbeiter“, 18.10.2013