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Keine zufälligen Tragödien

Es gibt Tragödien, die aufgrund von Naturkatastrophen und anderer Kräfte entstehen, die nicht vom Willen des Menschen und des Staates abhängen, doch es gibt auch tragische Ereignisse, die von Menschen organisiert und durchgeführt werden, die sich an der Spitze der Macht befinden. Aber gesetzmäßig ist auch etwas anderes: Massen-Repressionen gehen früher oder später zu Ende. Danach folgt eine Zeit der Bewertung. Die menschliche und bürgerliche Pflicht der Lebenden ist es, diese Einschätzung auf würdevolle Weise zu verwirklichen.

Am 30. Oktober wird eines traurigen Datums gedacht – es ist der Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen. Und das ist nicht rein zufällig so. Am 30. Oktober 1972 verstarb in einem mordwinischen Gefängnis Jurij Galanskow, den man verurteilt hatte, weil er gegen den Freiheitsentzug von Sinjawskij und Daniel – beide Schriftsteller – protestiert hatte. Die waren wegen der Veröffentlichung ihrer Erzählungen im Ausland verurteilt worden. Im Oktober 1974 konnten Galanskijs Mitgefangene den Vorschlag in die freie Welt hinaustragen, diesen Tag als Tag der politischen Gefangenen zu begehen, was von der Weltgemeinschaft auch angenommen wurde.
Offiziell wurde der Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen im neuen Russland im Jahre 1991 eingeführt.
Als Gründe für die Verhaftung während des Höhepunktes der politischen Repressionen in der UdSSR waren recht unterschiedlich: wer sich missbilligend über die Führer äußerte – antisowjetische Propaganda; sienahmen auch diejenigen fest, mit denen du früher einmal zusammengearbeitet hattest oder die zu deinem Bekanntenkreis gehörten – Kontakt zu einem Volksfeind.

Für die Anklage fand der berühmte § 58 mit seinen 14 Punkten des Strafkodex von 1926 Anwendung. Aber als besonders „gebräuchlich“ erwiesen sich die Punkte 1 „a“ –„Vaterlandsverrat“, 2 – „bewaffneter Aufstand“, 6 – „Spionage“, 7 – „Schädigung der staatlichen Wirtschaft“, 8 – „Terrorismus“, 10 – „antisowjetische Propaganda und Agitation“, 11 – „Verschwörung“. Nur selten fand man in den Strafakten nur einen einzigen Punkt vermerkt, in der Regel gab es dort eine ganze Auswahl.

Am 11. Juli 1929 verabschiedete der Rat der Volkskommissare der UdSSR die Verordnung „Über den Arbeitseinsatz von Straf-Gefangenen“, der gemäß die Inhaftierung von Verurteilten ab einer Haftstrafe von drei Jahren und mehr in die Zuständigkeit der OGPU übertragen wurde.

1930 wurde die Hauptverwaltung der Arbeits- und Erziehungslager (GULAG) gegründet, das ursprünglich die Bezeichnung ULAG trug. Seine Entstehung wurde ausgelöst durch den „Ansturm“ von Verhafteten aus den Dörfern, der mit der Politik der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) im Hinblick auf die Liquidierung der Kulaken (Großbauern; Anm. de. Übers.) und der Durchführung der Massen-Kollektivierung einherging. Die „Erstlinge“ in diesem System waren die Solowetzker Lager und der Ust-Sysolsker Lagerkomplex zur besonderen Bestimmung, in denen sich schon 1930 etwa 100.000 Insassen befanden.

Nach dem Stand vom 1. März 1940 gehörten zum GULAG-System 53 Arbeits- und Erziehungslager (ITL), einschließlich Lager, die sich mit dem Bau von Eisenbahnlinien befassten); 425 Arbeits- und Erziehungskolonien (ITK), welche ab 1934 170 Industrie-, 83 Landwirtschafts- und 172 Bau-Kolonien in sich vereinten; außerdem Gefängnisse, 50 Kolonien für Minderjährige und 90 „Kleinkinder-Häuser“.

1943 wurden bei den Workuta- und Nordöstlichen Lagern Zwangsarbeiter-Abteilungen mit strengster Isolierhaft organisiert: die Zwangsarbeiter hatten einen verlängerten Arbeitstag. Sie wurden zu schwersten unterirdischen Arbeiten in Schachtanlagen, bei der Förderung von Zinn und Gold, eingesetzt.

Die Gefangenen des GLAG (Kriminelle, aber auch nach § 58 des Strafgesetztes der RSFSR „wegen konterrevolutionärer Verbrechen“ Verurteilte sowie deren Familienmitglieder) waren verpflichtet, unentgeltliche Arbeit zu leisten. Nur Kranke und Verhaftete, die als arbeitsunfähig anerkannt waren, arbeiteten nicht.

In den Jahren des großen Terrors stieg die Zahl der GULAG-Häftlinge rasant an. Im Juli 1937 befanden sich 788,000 Gefangene in den Lagern, im April 1938 waren es – mehr als 2 Millionen.

Der als Instrument und Ort der Isolierung konterrevolutionärer und krimineller Elemente im Interesse der Verteidigung und Festigung der „Diktatur des Proletariats“ entstandene GULAG verwandelte sich dank seines Systems „der Besserung durch Arbeit“, schnell in einen faktisch selbständigen Zweig der Volkswirtschaft. Gesichert durch billige Arbeitskräfte löste diese „Branche“ äußerst effektiv die Aufgaben der Industrialisierung der östlichen und nördlichen Regionen.

Während der Regierungszeit I.W. Stalins wurden in der UdSSR aus ethnischen Beweggründen Deportationen durchgeführt. Diese Verfolgungen hingen anfangs mit der Vorbereitung zum geplanten Krieg gegen Deutschland und Japan zusammen – also mit dem Krieg selbst. So wurde am 28. August 1941 (zwei Monate nach dem Beginn des Großen Vaterländischen Krieges) die nationale Autonomie der Wolga-Deutschen liquidiert und die Menschen nach Kasachstan verschleppt.

Die Deportationen nahmen nach dem Beginn des zweiten Weltkriegs größere Ausmaße an; aus der West-Ukraine, dem Westen Weißrusslands, Bessarabien sowie aus Lettland, Litauen und Estland wurden sie nun nicht aus nationalen Beweggründen, sondern aufgrund sozialer Kriterien durchgeführt, und sie richteten sich gegen die Beamten der alten Administrationen, Militärangehörige, Geistliche und sogar die sozial aktive Bevölkerung (Studentenschaft). Nach vorliegenden Forschungsergebnissen der Gesellschaft „Memorial“ wurden 1940 aus der West-Ukraine mehr als 160.000 Personen deportiert, aus dem Westen Weißrusslands über 100,000. In den baltischen Republiken fanden die Vorkriegs-Massendeportationen am 14. Juni 1940 statt. Im Mai-Juni 1949 wurden aus dem Baltikum etwa 35.000 Menschen nach Sibirien und in andere östliche Regionen des Landes ausgesiedelt, aus den westlichen Gebieten waren es mehr als 60.000.

Nach Einschätzung des Demographen Anatolij Wischnewskij, die auf Archiv-Angaben basieren, wurden zwischen 1930 und 1953 nicht weniger als 6,4 Millionen Menschen deportiert.
Von 1948-1953 besaßen die politischen Verfolgungen nach der Bewertung zahlreicher Geschichtsforscher einen antisemitischen Charakter.

Unterschiede in der Einschätzung des Ausmaßes der Repressionen durch die Forscher definieren sich durch die Auswahl der Personen-Kategorien, die zum Begriff „Repressierte“ gehören. Demzufolge variieren die Schätzungen zwischen 3,8 und 9,8 Millionen politischer Verfolgter, teilweise sogar bis hin zu mehreren Dutzend Millionen, einschließlich derer, die nach Strafrechts-Paragraphen als Kriminelle verurteilt wurden.

Analog dazu unterscheiden sich auch die Zahlen derer, die aufgrund der Verfolgungen ums Leben kamen – von hunderttausenden, die nach § 58 erschossen wurden, bis zu Millionen, die Anfang der 1930er Jahre an Hunger starben.

Auch Familienmitglieder der Verurteilten waren der Verfolgung ausgesetzt; sie konnten in den Dokumenten nicht als Verurteilte wegen „konterrevolutionärer Vergehen“, sondern als „sozial gefährliche Elemente“ oder „sozial schädliche Elemente“ geführt werden.

Nach Meinung der Historiker N.G. Ochotin und A.B. Roginskij, betrug die Zahl der Repressierten im Zeitraum 1921-1953 etwa 5,5 Millionen Menschen.

Freiwillige oder unfreiwillige Teilnehmer an den Verfolgungen waren die höchsten Führer der Kommunistischen Partei und der Sowjetunion jener Zeit, denn jeder von ihnen war gezwungen, zumindest für die Unterstützung der Verfolgung von „Volksfeinden“ zu stimmen und gelegentlich auch entsprechende Dokumente zu unterzeichnen…

Michail Sacharzow,
nach Materialien der Gesellschaft für historische Aufklärung und Menschenrechte „Memorial“

„Angara-Prawda“, 01.11.2013


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