In Norilsk gedenkt man traditionsgemäß Ende Oktober – Anfang November der unschuldigen Gefangenen der stalinistischen Lager – der wichtigsten Ersterbauer der Stadt und des Kombinats. Es handelt sich um den Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen. In diesem Jahr wurde in unserer Stadt auch der 60. Jahrestag des Aufstands der Gorlag-Häftlinge gedacht, wo Sklavenarbeit und die für Menschen äußerst erniedrigenden Existenzbedingungen besonders schlimm und folgenschwer waren.
Die Teilnehmer am runden Tisch (von links nach rechts): Alekander Charitonow,
Lew Netto,
Nikolaj Formosow, Alla Makarowa, Aleksej Babij, Talibschan Smirnow
Die Ereignisse, als tausende Gefangene sich gegen das unmenschliche Regime erhoben, entwickelte sich zwischen ende Mi und August des Jahres 1953. Bei denjenigen, die keine Waffen besaßen, reichte die Kraft des Geistes, um in organisierter Weise die Arbeit niederzulegen und ihre Forderungen zu stellen: Verkürzung des Arbeitstages, Abschaffung der Häftlingsnummern an der Kleidung, der Gitter vor den Fenstern, der Einschränkungen i9m Briefverkehr und Überprüfung ihrer Fälle. Bemerkenswert, aber es gelang den Aufständischen innerhalb kürzester Zeit ihre „Gefangenen-Republik“ zu schaffen. Der Aufstand wurde grausam niedergeschlagen, bis heute ist die Zahl der Opfer nicht genau bekannt. Doch bald nach seiner Beendigung wurden die Haftbedingungen entschärft, man gab den Leuten Rechte zurück, und 1954 wurde das Gornij Lager (Berg-Lager; Anm. d. Übers.) aufgelöst. Der Norilsker Aufstand bewies, dass es selbst unter schwierigsten Haftbedingungen möglich war, gegen das totalitäre Regime zu kämpfen.
Möglicherweise konnte man bislang die Bedeutung des Norilsker Aufstands noch gar nicht vollständig einschätzen. Sie liegt nicht nur darin, dass es sich dabei nach Stalins Tod um den allerersten Protest von Häftlingen gegen das System des Personenkults handelte, sondern auch darin, dass es sich um eine wirkliche Massenaktion handelte: am Norilsker Aufstand nahen mehr als 20.000 Häftlinge teil. Das Lagersystem hatte nie zuvor ein solches Ausmaß an Protesten gekannt. Mit so etwas hätte man überhaupt nicht rechnen können.
Alla Makarowa, Forscherin an der Geschichte des Norilsker Aufstands und erste Sammlerin von Material über den Aufstand, war während der Perestroika wissenschaftliche Mitarbeiterin des Museums der Geschichte der Erschließung und Entwicklung des Norilsker Industriegebiets. Sie setzte ihre Arbeit an diesem Thema auch fort, nachdem sie Norilsk bereits verlassen hatte. Jeder kann heute ihre Forschungsergebnisse im 6. und 7. Band der bekannten Ausgabe „Über die Zeit, über Norilsk, über sich selbst…“ nachlesen. Unlängst kam Alla Borisowna nach Norilsk geflogen, um an dem von unserem Museum organisierten runden Tisch teilzunehmen, der dem vor 60 Jahren stattgefundenen Häftlingsaufstand gewidmet war, welchen sie den „Aufstand der Seele“ nannte, dem höchsten Ausdruck gewaltlosen Widerstands gegen das unmenschliche System des GULAG.
Aus der Hauptstadt wurde nach Norilsk der 88-jährige Lew Aleksandrowitsch Netto, einstiger Teilnehmer an dem Aufstand, eingeladen. Dieser bewundernswerte Mensch (repressierter Frontsoldat, Bruder des bekannten Fußballers) war zu seiner Zeit der Initiator der in Moskau durchgeführten Internationalen Konferenz, welche dem 50. Jahrestag des Norilsker Aufstands gewidmet war. Die Ereignisse jener Jahre beschrieb er in seinem Buch „Der Eid“, dessen erste Exemplare er mit nach Norilsk brachte und dem Museum schenkte. Lew Aleksandrowitsch – einer der wenigen heute noch Lebenden, die sich daran erinnern können, was die furchtlosen Menschen, die sich für den Aufstand entschlossen, durchgemacht haben…
… Unsere erste Zusammenkunft im norilsker Gorlag kam aufgrund der eigenen Willenserklärung der Häftlinge zustande, und alle waren begeistert. Der Beschluss wurde gefasst. Es genügte nun ein winziger Anstoß, um den gewohnten Lagerkreislauf zum Stillstand zu bringen. Der innere Widerstand jedes einzelnen Gefangenen gegenüber dem grausamen Haftregime ging in eine neue Dimension über – den Massen-Widerstand gegen das System. Am Baukran – und der war immerhin in der ganzen Stadt zu sehen, flatterte eine schwarze Fahne mit rotem Streifen. Signal-Fähnchen, Luftschlangen mit Flugblättern, Gerüchte von Freunden in Freiheit verbreiteten die Nachricht – sie streiken, sie streiken…
Zum runden Tisch im Museum lud man auch bemerkenswerte Kampfgenossen – den Vorsitzenden der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation Aleksej Babij, und den Moskauer Nikolaj Formosow – Doktoren-Anwärter der Biologie, der ab Ende der 1980er Jahre die Geschichte des Widerstands im Gulag studiert. Im Auditorium waren nicht wenige Vertreter der höheren Klassenstufen und Pädagogen, Spezialisten, die sich mit Heimatkunde befassen, zusammen gekommen.
Besonderes Interesse löste die Frage über die Anzahl der Opfer des Norilsker Aufstands aus. Alla Makarowa teilte ihre Meinung mit den neuesten Forschungsergebnissen:
- Ich habe wohl Glück gehabt, ich erhielt aus Krasnojarsk ein privates
medizinisches Archiv, es wurde nicht veröffentlicht. Es handelt sich um eine
Liste von Gefangenen und Verbannten der Stadt Norilsk, die 1953 im Norillag
starben oder umkamen. Man erlaubte mir nur die Nachnamen derer anzuschauen, die
durch Schusswaffen ums Leben kamen … Diesen Angaben zu vertrauen fällt einem
schwer, denn das Archiv wird von Menschen geführt, und Menschen wollen in der
Regel stets der Leitung gefällig sein. Es gibt wahrheitsgetreue Zahlen, es gibt
offenkundige Halbwahrheiten, Lügen, Verschweigen… Nach dem Archiv zu urteilen
starben in dem Jahr 648 Personen in den Norilsker Lagern. Hauptsächlich waren
sie im Alter zwischen 20 und 30 Jahren. Und diese z
Ziffer beinhaltet sowohl die Arbeits- und Erziehungslager als auch das Gorla –
plus die Verbannten sowie einige freie Arbeiter. Mehr als 240 Mann starben in
dem Jahr aufgrund unterschiedlicher Ursachen – viele an Tuberkulose und durch
Arbeitsunfällen. Zu diesen Toten gehören auch solche, die an Schussverletzungen
starben. Es waren ihrer ungefähr so viele, wie es Häftlinge im Gorlag gab, wo
sich etwa dreieinhalb Mal weniger Gefangene befanden, als in den Arbeits- und
Erziehungslagern, aber die Zahl der Toten ist gleich. Nun versuchte ich die
Familiennamen anhand anderer Quellen zu bestätigen…
Schade, dass die Norilskerin Olga Iwanowna Jaskina, die Teilnehmerin des Aufstands war, nicht auch mit am runden Tisch saß. Sie hatte beschlossen, ganz bescheiden unter den Teilnehmern der öffentlichen Organisation „Schutz der Opfer politischer Repressionen“ zu bleiben. Folgendes erzählte sie uns, als sie im Saal saß:
- Ich befand mich im Frauenlager N° 6, wir waren 12.000 Frauen. Bei uns gab es während des Aufstands keinerlei Schießereien, aber sie haben uns geschlagen, geschlagen so viel sie wollten – mit Stöcken, allen möglichen Brettern, mit allem, was sie gerade zur Hand hatten. Auf unseren Baracken hingen schwarze Fahnen, in deren Mitte sich ein roter Streifen befand, der unser Leben symbolisierte; und die schwarze Farbe war ein Symbol dafür, wie wir lebten. Die Menschen machten den Aufstand weil sie gequält wurden. 12-stündige Arbeitstage, miserable Verpflegung… Sie riefen uns nicht mit unsern Familiennamen, sondern schrien unsere Nummern. Ich war die X-401…
Alla Makarowa bestätigte:
- Auf Frauen schossen sie tatsächlich nicht, aber zu ihnen kamen mit Stöcken bewaffnete Soldaten. Und auf Frauen richteten sie die Wasserschläuche von Feuerwehr-Fahrzeugen; unter dem heftigen Wasserdruck versuchten sie, den Ring der Frauen zu durchbrechen, die einander bei den Händen hielten… Aus dem Saal wurden den Augenzeugen jener Ereignisse eine Menge Fragen gestellt, unter anderem auch die, auf welche Weise freie Bürger die Aufständischen unterstützten. Lew Netto erinnerte sich:
- Ich arbeitete in verschiedenen Werkstätten, in denen auch Freie tätig waren. Wir hegten immer ein freundliches Verhältnis zueinander. Während des Aufstands fühlten wir, wie schnell sich die Informationen über den Streik verbreiteten. Und das war die erste Unterstützung für uns.
Unter den Teilnehmern des runden Tisches befand sich auch der norilsker Fotograf Aleksander Charitonow, der zum Gedenken an den Norilsker Aufstand beschloss, Fahnen im Zentrum der Stadt an genau den Häusern anzubringen, die seinerzeit von politischen Gefangenen errichtet worden waren. Sascha wurde von wachsamen Ordnungshütern buchstäblich vom Dach geholt und kam auch nicht um eine Geldstrafe wegen Verletzung der öffentlichen Ordnung umhin. Den „Schuldigen“ fragte man m Rahmen der Begegnung: weshalb sich zu einer derartigen Aktion entschieden hätte.
- Die ganze Welt weiß, was es damals mit dem Norilsker Aufstand auf sich hatte, aber in unserer Stadt ist DIESE Seite der Geschichte kaum jemandem bekannt. Darauf bin ich schon lange gestoßen, vor allem, wenn ich mit jungen Menschen, Studenten Kontakt hatte, und das ist sicher nicht deshalb so, weil man es sie nicht lehrt, sondern weil sie es gar nicht wissen wollen… Immerhin gab es nach meiner Aktion über den Aufstand doch einiges Material in den Massenmedien…
Auf dem Treffen wurde auch darüber gesprochen, dass es im Geschichtsunterricht für die jungen Menschen am interessantesten ist, die Schicksale der Menschen kennen zu lernen. Nach solchen Worten mischten sich die Pädagogen, die gemeinsam mit ihren Schülern zu dieser Begegnung gekommen waren, mit stürmischem Eifer in das Gespräch über die Wahrung der Erinnerung an uns ein. Wenn man alles Gesagte zu einem Resümee zusammenfasst, ergibt sich daraus, dass in unseren Lehreinrichtungen Vieles getan wird, damit den Kindern Kenntnisse über die Geschichte des GULAG vermittelt werden. Es werden Begegnungen mit ehemaligen Häftlingen, Konferenzen, obligate Museumsbesuche durchgeführt… Woraufhin Alla Makarowa bemerkte:
- Ich höre das alles mit Freude. Eine andere Sache ist die – wie man es erzählt… Als ich im Museum tätig war, wurde einmal während einer Führung ein Student ohnmächtig… Ich schlief die ganze Nacht nicht – dachte immer wieder darüber nach, wie ich den Kindern die Geschichte des GULAG am besten näherbringen könnte. Vielleicht muss ich einfach ganz hart abwägen, zwischen dem, was ich weiß, und dem, was ich den Schülern erzählen kann… Am wichtigsten ist: sie müssen verstehen, dass das Allerschlimmste für einen Menschen – die Unfreiheit ist, und nicht dass er von morgens bis abends hungern muss…
Und so lange es noch Zeugen jener Jahre gibt, muss man zusehen, dass man sie noch rechtzeitig zu den damaligen Geschehnissen befragen kann. Am wichtigsten ist jedoch die Frage nach der Relativierung jener tragischen Ereignisse mit der Gegenwart. Nikolaj Formosow meinte dazu:
-Zum ersten Mal erfuhr die Welt von dem Aufstand in Norilsk aus einem Brief von Häftlingen aus der Ukraine, den sie 1955, als sie schon frei waren, von ausländischen Gefangenen übergaben. Und darin schrieben sie, unter riesigen Opfern den Schutz der eigenen Würde und einen achtstündigen Arbeitstag erwirkt hätten… Doch auch heute noch erstreckt sich der Arbeitstag in manchen Erziehungs- und Arbeitslagern unseres Landes auf bis zu 16 Stunden… Das Problem des Schutzes der Menschenwürde ist – ein ewiges. Und wenn wir unseren Kindern das nicht beibringen können, dann wird sich für die Gesellschaft alles in ein schreckliches Elend umkehren…
Aber begreifen auch wir, die Erwachsenen, das heute? Aus der noch nicht so weit entfernten Vergangenheit schauen jene durch polares Schneegestöber auf uns, die wohl eine weitaus stärkere Seele besaßen als wir – Menschen des 21. Jahrhunderts, denen es nun wirklich gut geht…
Irina Danilenko
Autoren-Fotos
„“Polar-Wahrheit“, 15.11.2013