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Die Region der Sträflinge und Umsiedler

Speziell zum 80. Jahrestag der Region Krasnojarsk bereitet die „Komsomolskaja Prawda“ eine Serie von Jubiläumsinterviews vor. Ihre Helden sind Krasnokarsker, die unsere Region verändert haben. Und einer von ihnen ist der Vorsitzende der „Memorial“-Organisation – Aleksej Babij, der uns die Namen und Biographien zehntausender Repressionsopfer zurück gebracht hat.

Die Aktivisten der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation lassen die Schicksal derer wiederaufleben, die nicht aus freiem Willen nach Sibirien gerieten. Ihren großartigen Beitrag zur Entwicklung der Region Krasnojarsk leisteten hunderttausende Sowjetbürger, die in den Jahren der politischen Verfolgung entweder mit dem Etikett „Kulak“ (Großbauer; Anm. d. Übers.) versehen oder als „Volksfeind“ verschleppt und verbannt wurden. Erst in den letzten Jahrzehnten spiegelte sich die Geschichte der Region durch konkrete, häufig wenig bekannte Schicksale von Menschen wider, die in den 1930er Jahren gelitten haben. Ein Vierteljahrhundert der Erinnerung an sie lebt wieder auf – Dank der Bemühungen von Menschen aus der Krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft, die der Geschichte ihrer Region keineswegs gleichgültig gegenüber stehen.. Heute erstellen die Mitglieder der Organisation ein elektronisches Archiv – eine einzigartige Datenbase über Repressionsopfer, sie unterhalten ihre Internetseite und geben Bände des Buches der Erinnerung heraus.

Über die merkwürdigen Schicksale der Menschen, über die schrecklichen Jahre der Massenverhaftungen berichtete der Vorsitzende von „Memorial“ – Aleksej Babij.

- In den Jahren unserer Forschung gelang es ein interessantes Detail zu klären: während der politischen Verfolgungen hat sich die Bevölkerung der Krasnojarsker Region mindestens verdoppelt. Ich nenne eine wenig bekannte Zahl: im Verlauf der beiden letzten Jahrzehnte, in denen das Gesetz „Über die Rehabilitierung“ gültig war, konnten in der regionalen Staatlichen Verwaltung für innere Angelegenheiten mehr als 500.000 Bescheinigungen ausgestellt werden, mit denen man eineerfolgte Rehabilitation bestätigte. Und dabei handelte es sich lediglich um Umsiedler aus den Reihen der deportierten Wolga-Deutschen, enteigneten Großbauern oder ihren Angehörigen, die sich selber an die Rechtsschutzorgane wandten. Anfangs war der Ansturm derer, die nach diesen Dokumenten ersuchten, enorm groß – täglich wurden zwischen 200 und 300 Bescheinigungen ausgestellt. Und der Prozess dauert immer noch an.

- Heißt das: die Zahl derer, die seinerzeit unter dem Zwang der Sowjetmacht auf krasnojarsker Boden gerieten, konnte bis heute immer noch nicht exakt ermittelt werden?

- Wenn wir uns auf die Ergebnisse unserer Forschungstätigkeit stützen, kann man sagen, dass mit dem heutigen Tage nur ungefähr 20 Prozent derer rehabilitiert worden sind, die Repressionen unterworfen waren. Eine andere Sache ist die, dass manche zurecht und begründet wegen krimineller oder staatsfeindlicher Aktivitäten bestraft wurden, während andere aus absolut erdachten und erlogenen Gründen unter den Hammer der Repressionsmaschinerie gerieten. Wir dem auch sei, allein mit dem offiziell bestätigten Status von Sondersiedlern kommen in der Region mehr als eine halbe Million Menschen zusammen. Und es gibt Grund zu der Vermutung, dass es in Wirklichkeit doppelt so viele sind. Um es genau zu sagen, das ist einer der Gründe dafür, dass in der Region Krasnojarsk eine hinreichend große Gemeinde ethnischer Letten, Litauer und Deutscher lebt.

- Im Grunde genommen haben sie alle, Stein für Stein, das starke Fundament für die krasnojarsker Region gelegt…

- Zudem ist es so, dass die Mehrheit überhaupt keine bedeutenden Persönlichkeiten sind, sondern ganz gewöhnliche Menschen, die es einfach nur verstanden haben, mit ihrer Arbeit positive Spuren von sich in den Annalen der Region zu hinterlassen. Zum Beispiel: ls der Stadt den deportierten Deutschen endlich erlaubte, in ihre historische Heimat zurückzukehren und die Leute auszureisen begannen, entstand bei den örtlichen Behörden ein Problem: wer und wie wird nun der von den Deutschen so akkurat und wirtschaftlich bearbeitete Boden in Zukunft bestellt.

Außerdem hatten die Verbannten und Gefangenen aus den Reihen der Funktionäre von Kultur und Kunst nicht wenig Einfluss auf das kulturelle Leben in der Region. In diesem Zusammenhang wurde auf Initiative des ehemaligen regionalen Ministers für Kultur und heutigen Gouverneursberaters Gennadij Rukscha sogar ein Projekt zur Schaffung eines Gedenk-Almanachs gestartet, der über das Schicksal solcher Menschen erzählte.

- Soweit bekannt, hat es das Krasnojarsker „Memorial“ in dieser edelmütigen Angelegenheit der Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit zu nicht weniger gebracht.

- Schon ein Viertel Jahrhundert lang studieren die Forscher von „Memorial“ die Archiv-Quellen in verschiedenen Ecken der Region, in den Behörden-Archiven der regionalen FSB- und GUWD-Verwaltungen. Und all das Begann Anfang er 1980er Jahre, als ich ein paar mehr Informationen über meine eigene Familie zu sammeln beabsichtigte, welche in vollem Umfang die Wucht der Repressionen zu spüren bekam. Die Großeltern mütterlicherseits, die bei der Ostchinesischen Eisenbahn in Charbin arbeiteten, wurden nach Nowosibirsk verschleppt und dort erschossen. Der Großvater väterlicherseits war in den 1930er Jahren gezwungen, vor der Bauernenteignung gemeinsam mit seiner Frau aus der Ukraine zu fliehen. Er fand als technischer Waggon-Kontrolleur Arbeit an der Bahnstation Tschernoretschenskaja. Aber auch dort wäre er beinahe wegen seiner Gründlichkeit und seiner starken Ader für Wirtschaftlichkeit zum Betroffenen geworden. Einmal ließ er einen Zug nicht auf die Bahnstrecke hinausfahren, weil er an einigen Waggons Störungen bzw. Mängel an den Bremslagern festgestellt hatte. Man beschuldigte ihn der Sabotage, fand heraus, wer er war, woher er kam und wie er an diese Bahnhofsarbeit gekommen war. Die Situation erwies sich für den Großvater als ausweglos, denn hätte er den Zug losgeschickt, hätte dieser eine Havarie erleiden können – und dann hätten sie ihm Sabotage „angehängt“. Er musste erneut fliehen. Zuerst nach Blagoweschtschensk, anschließend nach Tschita. Und so lebte er bis in die 1950er Jahre „auf Koffern“.

Nachdem ich all dies Einzelheiten in Erfahrung gebracht hatte, beschloss ich mich auf Anraten von Freunden 1987 auch mit anderen Schicksalen zu befassen. Nach und nach entstand ein ganzer Kreis Gleichgesinnter. (Anm. von A. Babij: ungenau geschrieben – der Kreis der Gleichgesinnten bildete sich um W. Birger und W. Sirotinin, und ich geriet dort mit hinein). Wir machten uns an die Arbeit in den Archiven. Das ist eine schwierige Angelegenheit, die eine Menge Geduld erfordert. Das ist wohl auch der Grund, weshalb es in unseren Reihen nicht mehr so viele Enthusiasten gibt, besonders bei den jungen Leuten. Dafür gibt es Ergebnisse. Unter Mitwirkung der Regionsverwaltung bringen wir das Buch der Erinnerung heraus. Wir finden Menschen, die von Repressionen in Angst versetzt wurden, und veröffentlichen ihre Erinnerungen. Die gesammelten Informationen werden von uns digitalisiert und ins Internet gestellt – memorial.krsk.ru. Seit 2011 sind wir mit der Schaffung eines elektronischen „Memorial“-Archivs beschäftigt, mit einer Datenbase über politisch verfolgte Bewohner der Region. Außerdem führen wir schulische Wettbewerbe im Rahmen des Projekts „Der Mensch in der Geschichte . Russland – 20. Jahrhundert“ durch. Die teilnehmenden Schüler schreiben einen Aufsatz über die Geschichte ihrer Angehörigen. Einige dieser Arbeiten übersetzen wir in andere Sprachen und veröffentlichen s8ie a7uf unserer Internetseite.

- Gerade Dank der schulischen Arbeit fand eine Familie aus Deutschland ihre Verwandte in Bolschaja Murta …

- Ja, vor einigen Jahren ereignete sich eine wunderbare Geschichte, als der Aufsatz eines Schülers der Schule in Bolschaja Murta, welcher einer wolgadeutschen Umsiedler-Familie gewidmet war, auf Initiative von „Memorial“ auf Deutsch übersetzt und ins Internet gestellt wurde. Und plötzlich, nach einer gewissen Zeit, kam ein Echo aus Deutschland. Ich erhielt einen Brief, deren Autoren darum baten, ihnen die Kontaktdaten einer gewissen Oma Vera zur Verfügung zu stellen, Einwohnerin von Bolschaja Murta, von der in dem Aufsatz die Rede war. In dem Brief hieß es, dass sie eine seit langem gesuchte Verwandte sei. Mit Freude kam ich der Bitte nach. Später stellte sich heraus, dass die Heldin des Briefes tatsächlich in den 1930er Jahren in einer der deutschen Siedlungen an der Wolga lebte. Noch als junges Mädchen wurde sie mit ihren Angehörigen nach Sibirien verschleppt. Weitere Verwandte waren später nach Deutschland gelangt. Und nach vielen Jahren hatten sie sich nun wiedergefunden.

- Man kann wohl annehmen, dass dies nicht das Einzige ist, was die Seele im Verlauf der Forschungstätigkeit berührte?

- Aber sicher. Im Buch der Erinnerungen, und derzeit arbeiten wir bereits am 12. Band, kann man in ihrer Dramatik höchst ergreifende Geschichten finden. Das Leben selbst flicht den Handlungsstrang besser zusammen als jeder Schriftsteller es vermag. Hier ist beispielsweise einer von ihnen. Man enteignete einen Mann und seine Ehefrau und verschleppten sie nach Sibirien – auf Grundlage dessen, dass sie angeblich einen Knecht bei sich beschäftigt hatten. Aber dieser „Knecht“ teilte bei der Beweisaufnahme mit, dass er nicht für Geld gearbeitet hätte, sondern lediglich in der Hofwirtschaft ein wenig geholfen hätte und für die Enteigneten so viel wie ein angenommener Sohn gewesen sei. Die Information nahmen sie zur Kenntnis, gingen jedoch im Geist der Zeit vor – anstatt die Anklage wegen Großbauerntum fallen zu lassen, verschleppten sie nach dem Ehepaar auch noch den angenommenen Sohn als Mitglied einer „Kulaken“-Familie.

Oder ein anderes Beispiel aus dem Leben zweier Nachbarn. Sie lebten also nebeneinander, halfen einander in der Wirtschaft, bei der Heumahd. Und letztendlich wurden beide Familien wegen der Inanspruchnahme von Lohnarbeit bestraft. All ihre Erklärungen und Beteuerungen, dass sie einander lediglich Nachbarschaftshilfe geleistet hätten, ohne dafür Geld erhalten zu haben, blieben ungehört und erfolglos. So sieht sie also aus – die „soziale Gerechtigkeit“ jener Zeit. Die Forschung zeigt, dass die Schicksale einiger gesunder Bauernwirtschaften im Dorf in der Regel auf Versammlungen verarmter Bauern entschieden wurden. Die Kennzeichnung „Kulak“ wurde unverzüglich verhängt. Die sogenannten „Mittelbauern“ schrieben bisweilen Briefe zur Verteidigung ihrer Landsleute (solche Briefe wurden in den meisten Personenakten entdeckt), aber leider half das nur in den seltensten Fällen.

- Es ist och verwunderlich, dass bis heute in der Gesellschaft keine Einhelligkeit in der Bewertung der stalinistischen Repressionen herrscht…

- Um die Geschichte zu verstehen, muss man sie zumindest ein klein wenig kennen. Unsere Forschungstätigkeit hilft den Menschen in vielem die Fakten kennen zu lernen. Leider kollidieren wir immer wieder damit, dass die Bedeutung der politischen Verfolgungen in den Meinungen einzelner Bürger bisweilen mythologisiert wird und ein gewisses positives Vorzeichen im Kampf gegen die Korrupten an der Macht, Verrätern und anderen zweifelhaften Elementen bekommt. Aber die reale Statistik bestätigt etwas anderes – ein bedeutender Teil der Repressionen brach nämlich über völlig unschuldige Menschen herein. Und überwiegend auf einfache Bauern während der Zeit der Großbauern-Enteignungen. Auf der Webseite von „Memorial“ ist eine Liste von Menschen nach Familiennamen ausgestellt, die nach der Verhaftung auf das Territorium der Region gerieten und ab August 1937 bis Oktober 1938 erschossen wurden. Darin werden auch Angaben zu ihrer sozialen Lage gemacht. Die meisten von ihnen sind – Enteignete. Die „Politischen“ machen lediglich eine geringe Prozentzahl aus (Präzisierung A. Babij: eine geringe Prozentzahl von „Parteileuten“, nicht „Politischen“ – vermutlich ein Versprecher). Dieselbe Relation finden wir auch in den Listen des Buches der Erinnerung.

- Und nach allem zu urteilen, ist es noch weit hin, bis das letzte Wort geschrieben ist…

- Die Arbeit der Forscher wird nicht weniger. Manchmal entsteht der Eindruck, dass gerade das Gegenteil der Fall ist. Vielleicht rührt das daher, weil sich viele Jahre keiner der Geschichtsforscher in der Region überhaupt damit beschäftigt hat. Unlängst musste ich vier Monate lang im örtlichen Archiv in Atschinsk arbeiten. Und ich denken, dass die Forschungsarbeit dort noch die nächsten drei Jahre andauern wird. Es gelang, mehr als 2.500 Akten von Repressierten aufzufinden. Als ich die Archive in Bogotol durchforstete, dachte ich, dass ich innerhalb von zwei Wochen damit fertig wäre. Aber ein ganzer Monat verstrich, und bis jetzt ist immer noch kein Ende abzusehen. Statt der angenommenen 600 Akten wurden mehr als 1000 entdeckt. Ungefähr 1500 Familien, welche die Zeit der Repressionen durchliefen, finden sich im Abansker Bezirk. Das sind beeindruckende Zahlen…

Maria Mischkina,
Aleksander Majorow
Fotos: Maria Ananowa

“KP” Krasnojarsk, 29.03.2014


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