Die Russland-Deutschen, die zu Beginn des Krieges nach Sibirien verbannt wurden, feierten 1945 gemeinsam mit dem ganzen Land den Tag des Sieges über Deutschland. Nach dem Willen der Geschichte kennen sie heute den Wert des Wortes „Faschist“, mit dem wir so leichtfertig umherwerfen, besser als andere.
Im Frühling kann man nur mit dem Helikopter nach Jarzewo gelangen. Unpassierbares Gelände und häufige Überschwemmungen schneiden die sibirische Ortschaft vom Festland ab. Nachdem die Menschen Ostern gefeiert haben, rollen sie ihre Teppiche zusammen, tragen die alltäglichen technischen Geräte ein wenig höher hinauf und warten ab, wenn das Wasser ihnen ins Haus läuft. Die Gemüsegärten sind überflutet, die Wege verwandeln sich ständig in riesige Wasserlachen.
Mit den Jahren verstehen die Leute die Naturkatastrophe als unabwendbar, als Teil ihres Lebens – Fatum. Es scheint, als ob eine derartige Ergebenheit zur Standard-Auswahl dessen gehört, was man sich unter dem russischen Charakter vorstellt.
Fragt man die Ortsansässigen, wo die Deutschen wohnen, zeigen sie auf mehrere Häuser, die ganz verstreut im Ort liegen. Seit der Deportation sind mehr als 70 Jahre vergangen, aber die Verbannten kennt man hier von Angesicht zu Angesicht, und sogar ihre Kinder, die hier in Sibirien geboren sind, werden auch noch als Deutsche bezeichnet.
Foto: Wladislaw Moissejew
- Wir mussten ertragen, dass sie uns ganz umsonst aussiedelten. Uns traf keine Schuld, dass Hitler nach Russland einmarschiert war. Wir kannten jene Deutschen ja überhaupt nicht. Und mir scheint, dass auch niemand von uns für Hitler eingetreten wäre, - erzählt Emma Gorodezkaja, mit Mädchennamen Albrandt.
Emma Jakowlewna ist 91 Jahre alt; sie geriet aus dem reichen Wolga-Dorf Grimm nach Sibirien, als sie 20 Jahre alt war. – Wir hatten nichts anzuziehen, nichts zu essen, und mussten hart arbeiten, alles war für die Front bestimmt. Wir wollten doch den Sieg über die Deutschen erringen.
Indem sie „jene“ Deutschen besiegten, wurden „diese“ Deutschen zu einem Teil
des Sieger-Volkes. Und den 9. Mai zählt Emma Gorodezkaja zu ihrem persönlichen
Feiertag.
- Mich schickten sie aufs Feld, um die Arbeiter von der Arbeit zu holen. Die
Sonne scheint! Ich begab mich, auf einem Pferd sitzend, zum Acker und schreie
allen, die dort beschäftigt sind, zu: „Nach Hause! Nach Hause! Wir haben
gesiegt! Wir haben gesiegt!“ Die einen tanzen, andere weinen oder singen – ich
weiß das alles noch, als wäre es heute gewesen… Aber eine Lerche kannst Du mit
Versprechungen nicht füttern, - Emma Jakowlewna wechselt unerwartet das Thema,
steht auf und fängt an, den Tisch zu decken. Sie setzt den Teekessel auf, stellt
ein Osterbrot und Ostereier auf den Tisch. Ich drehe eines der Eier in meinen
Händen. Es wurde mit blauem Lack bemalt und mit einem ausgefallenen Blumen- und
Blatt-Muster verziert. Ich schaue zu, wie Emma Jakowlewna mit Mühe den Tee
einschenkt, und ich begreife nicht, wie sie eine so feine Malarbeit zustande
gebracht hat.
- All die hübschen hat sich mein Sohn schon ausgesucht, - sagt sie stolz. – Die Hiesigen kennen so etwas nicht, wissen nicht, wie man das macht. Meine Schwiegertochter hat die Eier in den Kochtopf gelegt und sie alle in einer Farbe eingefärbt – mehr nicht. Und ich feuchte die Eier nur ganz leicht an, nehme ein wenig Zwiebelschale, klebe Reis auf, bedecke das Ei mit Zwiebelschalen und wickle das Ganze ein. – Es sieht so aus, als ob man diese Technik zusammen mit Emma Jakowlewna direkt aus Grimm mit deportiert hat.
Das kleine Wolga-Deutschland gibt es schon lange nicht mehr, und andere Deutsche kennt Emma Jakowlewna nicht. Ihr ganzes Leben hat sie zusammen mit Russen verbracht, aber bis heute kann sie nicht ohne Tränen über die Vergangenheit sprechen. „In so vielen Jahren bin ich wohl selber Russin geworden, aber verzeihen kann ich nicht… Ich kann es einfach nicht“. Insgesamt wurde ihre Familie dreimal entkulakisiert, zwölfmal wurde ihr Vater zum Verhör gebracht und verprügelt.
- 1932 nahmen sie uns alles fort. Ich war 11 Jahre alt. Die Polizei kam und nahm
das Kälbchen mit. Ich erinnere mich, das war so ein kleines braunbuntes. Ich
trieb es ums Haus herum, und die Polizei immer hinter mir her. Und dann stießen
sie mir mit irgendetwas an die Beine, und ich fiel der Länge nach hin. Das war
unser letztes Kälbchen gewesen. Und das kann ich nicht verzeihen.
Aus ihrem Sprechen hört man einen ziemlich starken, beinahe witzigen deutschen
Akzent heraus, doch als sie vom Tod beinahe der Hälfte ihrer gesamten Familie
spricht, wird sie immer langsamer, und der Akzent verliert sich beinahe.
1933 gab es eine schlimme Missernte. Emma erinnert sich, wie ganz Grimm von Leihen übersät war. Sie beginnt zu weinen:
- Meine Schwester und ihr Mann hatten sich getrennt, und bei ihr war das zweijährige Kind. Der Mann lebte im Nachbardorf, er sagte: „Gib mir das Kind, und wenn der Hunger vorbei ist, holst du es wieder zu dir“. Sie gaben es fort. Aber die Mutter des Ehemannes steckte das Kind in einen dunklen Keller, während er in der Kolchose arbeitete. Die Nachbarn fragten, wo das Kind wäre, und sie antwortete, dass es schliefe. Zwei Tage und Nächte verbrachte es im kalten Keller, dann zog sie es von dort unten tot heraus. Es hatte seine Fingerchen, seine Zehen vor lauter Hunger aufgegessen.
Das schwere, träge Schweigen wird von einigen Motorrädern vor dem Fenster gestört – sie sind hier das Haupttransportmittel. Die Heranwachsenden rasen durch die Pfützen, lachen, und es kommt einem so vor, als ob die Geschichte vom Hunger und den toten Kindern einfach nur ein schrecklicher Traum ist. Die Ortschaft Grimm erholte sich mit der Zeit von der Hungersnot, doch mit Beginn des Krieges erwartete die Wolga-Deutschen eine neue Welle der Erschütterung: 1941 erging der Ukas über die Deportation, sie wurden auf Viehwaggons verladen und fuhren einen Monat lang durch die Sowjetunion, bis sie schließlich in Sibirien anlangten.
- =-0-0! Die Faschisten sind da“. – schrien die Ortsbewohner und rannten vor uns fort, - lacht Emma Jakowlewna. – Sie fürchteten sich, und wir hatten ebenfalls Angst sie anzusehen: sie hatten alle so komische Netze über den Kopf gezogen, und wir wussten nicht, was das sollte. So schützten sie sich vor den Mücken. Später trugen wir sie auch. Selbst ein halbes Jahrhundert später ist das Wort „Faschist“ noch nicht aus dem aktiven Dorf-Wortschatz verschwunden.
Emma Jakowlewna erinnert sich, wie ihr Anfang der 2000er Jahre eine Kuh abhandenkam:
- Wir fuhren mit dem Motorrad los, um sie zu suchen. Neben dem Feld gab es eine Garage, dort saßen drei Leute. Aber es waren keine Deutschen. Ich frage, ob sie die Kuh nicht gesehen haben. Sie antworten: „Doch, aber wir habe sie verjagt“. Und sie machen eine Geste, mit der sie mir bedeuten wollen „stell eine Flasche her“. Mein Mann öffnet im selben Augenblick die Garagentür, ich rufe: „Tschaika, bist da drin?“ – und da kam sie sofort auf mich zu gerannt. Da lief einer der Drei zu unserem Motorrad, drehte die Zündkerzen heraus, steckte sich in seine Jackentasche und sagt zu mir: „Ja, ihr seid Faschisten!“ Ich erwidere: “Ach, Faschisten?“ Und dann hab‘ ich ihm aber eine in die Fresse gehauen! Er ließ seine Hand in der Tasche verschwinden und gab die Zündkerzen wieder heraus. Der zweite Mann tritt hinzu und meint: „Emma Jakowlewna, machen Sie sich keine Sorgen, jetzt kriegen wir das mit Ihnen hin“. Und die Kuh weicht die ganze Zeit nicht von meiner Seite. Er fragt: „Ist die gezähmt – oder wie?“ Ich gebe ihm zur Antwort: „Ja, sie ist kultiviert. Aber ihr seid das nicht, sitzt hier nur rum und zieht den Leuten das Geld aus der Tasche, um euch zu besaufen“.
Vielleicht bin ich im Unrecht, ich will nicht sagen ungerecht, aber mir scheint, dass es noch Menschen gibt, denen dieses Böse innewohnt. Das ist schon lange offenkundig, aber jetzt… es ist immer noch da, es gibt das Böse noch, - sagt sie mit verhaltenem Flüstern, als ob dieses Böse unsere Unterhaltung belauschen könnte.
Vierzehn Jahre nach der Deportation erlaubte man den Deutschen, sich nicht mehr beim Kommandanten melden zu müssen. Die Rehabilitation begann. Emma half anderen verbannten beim Zusammenstellen der Dokumente auf Deutsch für einen Umzug nach Deutschland, aber sie selber entschied sich nicht auszureisen – die Kinder waren hier aufgewachsen, hatten ihre eigenen Familien gegründet, und das Thema Umzug hatte sich irgendwie erledigt. Emma Gorodezkajas Mann war Ukrainer, und auch ihn hatten sie nach Sibirien geschickt, nachdem er aus dem Konzentrationslager zurückgekehrt war.
- Er hat Hitler selber gesehen, - sagt sie, - er hat erzählt, wie man sie in Reih und Glied Aufstellung nehmen ließ. Hitler kommt, schaut sich um, stößt auf einen Juden und schreit: „Juden raus!“ Ach! Das war’s. Du stehst da und zitterst wie Espenlaub, plötzlich sehen sie dich als Juden an.
In den 2000er Jahren, als Deutschland Bereitschaft zeigte, seine Kriegsgefangenen zu entschädigen, verbrannte Emmas Ehemann alle Papiere, die bestätigten, dass er einst im Konzentrationslager war: er hatte Angst, dass sie ihn „erneut abholen und irgendwo hinbringen“. Sie überredete ihren Mann, alle Dokumente wieder zu beschaffen, aber er erlebte die Wiedergutmachung nicht mehr.
Emma Jakowlewna kann nicht genau definieren, was sie ist – Deutsche oder Russin. Wenn sie ihr Urteil über die Deutschen abgibt, bezeichnet sie sie als ein sehr ehrliches, sauberes und kultiviertes Volk – der Begriff „Kultiviertheit“ ist für sie ganz wichtig, und es scheint, als ob gerade er die Grenze zwischen uns und den anderen definiert.
- Sie stehlen nicht, und sie sind nicht der Trunksucht verfallen. Einer meiner Bekannten reiste nach Deutschland aus. Einmal im Jahr telefonieren wir miteinander. Wenn du da etwas in einem Geschäft gekauft hast, es am Eingang stehen lässt, weil du nicht weißt, wie du es nach Hause bekommen sollst, dann kannst du morgen wiederkommen – und alles ist noch vollzählig und unversehrt da. Dort siehst du diese Hunde nicht, während sie hier in Scharen herumstreunen. Sie haben mich malträtiert. Sie liegen auf dem Treppenabsatz, pinkeln und machen ihre Haufen dorthin – nennt man das Kultur?
Die Hausfrau begleitet mich zum Hauseingang und zeigt mir den Weg zu ihrer Freundin, mit der sie sich gelegentlich auf Deutsch unterhält. Sie heißt Jekaterina Adolph, und natürlich stammt sie auch aus den Reihen der Verbannten. Emma Jakowlewna schimpft, dass man sie manchmal anruft und ihr in den Hörer schreit „Hitler – Hitler – Hitler“ – das ist das übliche Programm, das für Betrunkene unbedingt zu jedem Dorfabend gehört.
Foto: Wladislaw Moissejew
- Was denkst du denn? Dass nur die Russen schlecht waren? Die Deutschen auch. Sie waren alle gleich, - sagt Jekaterina Grigorewna Adolph zu mir. Sie ist 86 Jahre alt und wuchs in der deutschen Ortschaft Pauer (Bauer; Anm. d. Übers.), fünf Kilometer vom Ort Grimm entfernt, auf. Sie erinnert sich an die deutsche Brigadeleiterin, welche die Aufsicht über die einfachen Arbeiter führte – ebenfalls Deutsche. Sie war mit dem Pferd unterwegs, an den Füßen trug sie Stiefel aus Schweinsleder. Einmal sah sie, dass die hungrigen Arbeiter ein Feuer entfachten und Kartoffeln brieten; da trampelte sie mit ihren Stiefeln die Flammen und die Kartoffeln nieder. Jede kleinste Ecke des Hofes war ausgefegt und sauber gekratzt, alle Oberflächen hatte man unlängst gestrichen. Ihr ganzes großes Haus – ein wieder zum Leben erwecktes Stereotyp der pedantischen und reinlichen Deutschen. Die Teppiche waren zusammengerollt, und alles Mögliche war auf die Tische gestellt worden: wie die anderen im Dorf wartet auch sie jedes Jahr auf das starke Hochwasser. Doch selbst diese Koffer-Situation stört nicht das Empfinden, dass hier jeden Morgen eine ganze Armee von Zimmermädchen saubermacht.
Die Sonne durchflutet das große Zimmer durch die neuen Kunststofffenster, überall stehen Vasen mit künstlichen Blumen. Liebevoll betrachtet die Hausherrin die Blumen, geht um die Vasen herum. Ich fühle mich ein wenig unwohl in diesem Plastik-Garten.
- 1941 kamen Polizisten, alle bewaffnet. Und sie gehen von Haus zu Haus und bewerten, welche Sachen, welchen Besitz die Leute haben, erstellen eine Inventarliste und händigen den Bewohnern ein Stück Papier aus. Sie erklärten, dass der Krieg ausgebrochen wäre und man uns von hier fortbringen würde, damit uns die Deutschen nicht holten. Sie sagten, dass sie uns am neuen Wohnort Häuser geben würden, ähnlichen denen, wie wir sie hier hätten. Und so erklärten sich die Leute einverstanden. Hätten wir doch nur gewusst, was sie in Wirklichkeit mit uns vorhatten, dann hätten wir gesagt: „Erschießen Sie uns lieber, hier, gleich auf der Stelle“. Die letzten Worte spricht Jekaterina Grigorewa so aus, als ob ich es wäre, die sie aus Bauer aussiedeln wollte.
Nicht alle Familienmitglieder kamen in Sibirien an – der Vater starb während der Fahrt. Man verbot den Kindern zu weinen, um nicht die Aufmerksamkeit der Begleitwachen zu erwecken und den Vater in Ruhe während eines Zug-Stopps bestatten zu können. Nachdem die Deutschen in Sibirien eingetroffen waren, holten sie alle Männer in die Arbeitsarmee; die Frauen wurden von Dorf zu Dorf weiterverteilt. Mancherorts wurden die Deutschen von den Ortsbewohnern gastfreundlich aufgenommen, in anderen Orten stießen sie auf schweigenden Hass, und in einem Dorf, bei einem Arbeitslager, wurden sie sogar verprügelt. In Kolmogorowo beispielsweise verhielt man sich den Deutschen gegenüber äußerst grausam.
- Dort gibt es keine Menschen, nur wilde Tiere! Du mein Gott! Die waren bereit uns zu verschlingen… In den Zeitungen fanden sich Zeichnungen von Deutschen, die nicht wie Menschen aussahen, mit schrecklichen Nasen, und sie dachten, dass wir auch genau solche wären.
Nach einer minutenlangen Pause erzählt Jekaterina Grigorewna, wie all ihre Geschwister und ihr Ehemann an Krebs starben, und sie selbst hat ebenfalls so eine eigenartige Beule: „Wahrscheinlich auch Krebs“. Allerdings hat Jekaterina Adolph es mit dem Krankenhaus nicht eilig. „Es kommt, wie es kommt, Herrgott…“ – sie spricht diese Worte ganz ruhig aus, als ob es etwas Alltägliches wäre, vermischt mit einem Anflug russischer Demut, die überhaupt nicht zu ihrem geräumigen, funkelnden deutschen Haus passt. Jekaterina Grigorewna hatte, wie auch die anderen deportierten Deutschen, die Möglichkeit, nach Deutschland auszureisen, aber sie lehnte das ab:
- Viele bei uns haben es versucht, aber sie sind wiedergekommen. In Deutschland ist das Leben auch kein Zuckerschlecken. Hier bei uns geht eine Frau mit 50 in Rente, dort erst mit 65. Denjenigen, die dort ankommen, geben sie eine Wohnung, aber sie finden nur Arbeit, welche die ortsansässigen Deutschen nicht machen wollen. Hier kann man frei sein Vieh halten; hier gefällt es mir, hier werde ich auch sterben – ich habe dort schon meinen Platz, ich werde neben meinem Mann begraben.
- Heute spreche ich sowohl mit den Russen, als auch mit den Deutschen Russisch. Wir leben hier und wissen nichts von jenem Deutschland. Und unsere Eltern wussten auch nichts von Deutschland.
Sie geht zur Kommode, nimmt ein Kästchen heraus, und darin liegen in Reih und Glied Glückwunsch-Umschläge aus dem Kreml. Die Briefe sind mit Georg-Bändern und den Unterschriften aller russischen Präsidenten versehen. Sie liegen in dem Kästchen zur Spirale angeordnet, ganz streng, wie im Uhrzeigersinn.
Foto: Wladislaw Moissejew
Iwan Rudolfowitsch Bulach fuhr einmal nach Deutschland und kehrte wieder nach Russland zurück. Jetzt lebt er in der Stadt Jenisseisk, 250 Kilometer von der Ortschaft Jarzewo entfernt, wo Emma Gorodezkaja und Jekaterina Adolph wohnen. Ich treffe ihn nach der Arbeit: zusammen mit den Nachbarn zaubert er am Treppenaufgang eines Mehrfamilienhauses herum – es sieht aus, als ob sie ihn mit Zement ausgießen wollen. Iwan Bulach ist Kommunist und befasst sich, Gerüchten zufolge, mit richtiger Politik – er kämpft um die Macht im örtlichen Veteranen-Rat.
Geboren wurde er in der Ortschaft Kandel, unweit von Odessa; nach Sibirien geriet er im Jahre 1945.
- Wir hatten ein großes Haus, ein gutsnahes Grundstück, allein 60 Ar Weingärten. Nach den Erzählungen des Vaters gab es damals keine Trunksucht und keine Ausnüchterungszellen – alle wussten, wann sie arbeiten mussten und wann sie sich ausruhen konnten, - berichtet Iwan Rudolfowitsch mit bitterer Stimme über seinen Heimatort, wenngleich er dort lediglich die ersten Jahre seines Lebens verbrachtet und sich an Vieles schon nicht mehr erinnern kann. – Die junge Generation ging in die Kirche, alle – ohne Ausnahme, das war damals Gang und Gäbe. Die Eltern vertraten die Ansicht, dass die Kirche den Menschen kultiviert, ihn geistig bereichert. Bevor die deutschen Truppen mit dem Rückzug begannen, lebten die Odessa-Deutschen unter deren Besatzung. Als die Nazis abzogen, trieben sie die Menschen mit sich fort. Aus Deutschland kehrten sie in die Sowjetunion dann als „Volksfeinde“ zurück, und man brachte sie nicht ins heimatliche Odessa, sondern direkt nach Sibirien.
Ein halbes Jahrhundert später, im Jahr 2000, fasste Iwan Rudolfowitsch den Beschluss, nach Deutschland umzusiedeln.
- Mein Bruder und mein Vater waren schon vorher dorthin umgezogen, und so entschloss ich mich, wenigstens einmal zu Besuch zu fahren und mir anzuschauen, wie man dort lebt. Früher hatten sie uns in Russland im politischen Unterricht immer erzählt, dass in den kapitalistischen Ländern Ausbeuter leben. Na ja, mit der doppelten Staatsbürgerschaft habe ich nichts verloren. Ich musste lediglich eine Bescheinigung an den Pensionsfond senden, dass ich noch am Leben bin.
In Deutschland gefiel es Iwan Rudolfowitsch so wenig, dass er, „wenn es möglich gewesen wäre, sogar zu Fuß zurückgekommen wäre“. Er reiste im Dezember ab und verbrachte die Neujahrsnacht in einem Lager für Emigranten.
- Und da liege ich nun auf meinem Bett und denke, dass ich jetzt in Russland mit meinen Kindern den wundervollen Neujahrstag begehen könnte, während ich hier noch nicht einmal weiß, wohin sie mich nun weiterschicken, wo ich wohnen und arbeiten werde.
Während er auf die Entscheidung der deutschen Behörden wartete, fing Iwan Bulach an, sich mit Reparaturarbeiten zu beschäftigen: zusammen mit anderen neu eingetroffenen Aussiedlern fertigte er einen kleinen Pilz für den Kinderspielplatz an.
- Aber die Leitung sagte mir: „Für alles, was du da machst, müssen wir bezahlen. In Deutschland ist das so üblich: mach einen Schritt – bezahle“.
Über Deutschland berichtet Iwan Bulach mit der merkwürdigen kinematografischen Intonation eines müde gewordenen Abenteurers. Als wahrer Kommunist bezeichnet er die Deutschen missbilligend als „Kapitalisten“. Wahrscheinlich hätte er von der angerechneten deutschen Rente in der Sozialwohnung auch leben können, aber dort hätte sich kaum ein asphaltierter Treppenaufgang gefunden, den man mit allen Hofbewohnern gemeinsam hätte reparieren können:
- Ich habe es dort eine Zeit lang ausgehalten: die Schönheit, die Blumen. Du sitzt im Garten, ruhst dich aus, die Sonne scheint, aber dir geht immer nur eines durch den Kopf – die Gegend, aus der du hergekommen bist. Du denkst – wenn sich doch nur jemand zu dir setzen würde, mit dem du reden könntest. In Deutschland meidet man einander, dort kenn kein Nachbar den anderen. Wenn man dich nicht ausdrücklich einlädt, gehst du auch nicht dorthin. Dort ist alles anders: der ganze Aufbau, der Stil.
Iwan Bulach kann gut genug Deutsch, um sich in Deutschland schnell einzugewöhnen; daher war der Grund für seine Rückkehr nach Russland existenziell:
- Ich dachte, dass ich zum Sterben nach Russland zurückgehe, - sagt er. Übrigens trägt dies eine pragmatische Note in sich: - Hier zu sterben ist viel billiger. In Russland bleibt ein Grab, wenn sich die Verwandten darum kümmern, ewig. Aber wenn du dort stirbst und das Grab für 10 Jahre bezahlt wird, dann bleibt es nach deinem Tod auch nur für 10 Jahre erhalten. Sobald man dafür nicht mehr bezahlt, begraben sie dort jemand anderen.
Iwan Bulach lässt die Gelegenheit nicht aus, gegen den ideologisch fremden Kapitalismus zu sticheln. Er glaubt an den Frieden in der ganzen Welt und den Sieg der kommunistischen Internationale.
- Als ich meinen Pass erhielt, war ich nach der Nationalität Deutscher, aber meine Muttersprache ist Russisch. Als wir aufwuchsen, freundeten wir uns mit jenen russischen Jungen an, die uns einst als Faschisten beschimpft hatten und mit denen wir uns damals deswegen prügelten. Da wirst du nachdenklich: meine Eltern leben in Deutschland. Möge Gott verhüten, dass mein Bruder eines Tages von dort mit einem Gewehr herkommt und ich von hier auf ihn losgehe. Wie soll man denn da schießen?
Wladislaw Moissejew
„Snob“, 08.05.2014