Sehr lange Zeit war es angebracht, über diese Zeit im Leben von in Russland und auch im Ausland bekannten Schriftstellern, Musikern, Künstlern Schweigen zu bewahren. Und wenn man schon davon sprach – dann nur mit halber Lautstärke. Aber wie viele von ihnen – talentierten, jungen Menschen, die glänzende berufliche Zukunftsperspektiven hatten, aber „ungeeignet“ waren, weil sie große Zweifel in Bezug auf ihre Loyalität gegenüber der Staatsmacht hervorriefen, gerieten in den GULAG. Für viele von ihnen wurde er zur „letzten Unterkunft“. Anderen gelang es wie durch ein Wunder zu überleben. Es wäre beschämend, das in Vergessenheit geraten zu lassen. Und davon kann man sich wieder einmal mehr überzeugen, wenn man das Buch von Schülern aus der Region „Gute Taten – schwere Schicksale“ durchblättert…
Es enthält dutzende Forschungsarbeiten junger Einwohner von Norilsk, Jenisseisk und Igarka. Das Buch ist das Ergebnis der regionalen Suchaktion Verfolgte Akteure aus Kultur und Kunst in der Geschichte und Kultur der Region Krasnojarsk“, die von der regionalen Jugendbibliothek in Zusammenarbeit mit der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation für Geschichtsaufklärung und Menschenrechte organisiert wurde. Helden der Mini-Chronik waren Toivo Rjannel, Robert Stilmark, Wladimir Kutowskij, Igor Guberman… Es gelang die Biographien vieler bekannter Leute durch Erinnerungen, Fotografien aus Familienarchiven, aus den verbannungsorten zu ergänzen.
Die Idee für einen solchen Sammelband ist dem ehemaligen Kulturminister Gennadij Ruksche zuzuordnen… Jetzt scheint es verwunderlich, dass es nicht schon zehn Jahre vorher realisiert worden ist: eine Sache ist es, in einem Lehrbuch für Literatur etwas über einen Menschen zu lesen, eine ganz andere – zu versuchen jene zu finden, mit denen er mehrere Jahrzehnte zuvor in deiner Heimatstadt Umgang hatte, sich zu freuen, neue Informationen zu bekommen, die man mit Mühe im Archiv herausgefunden hat…
Wie die Region Krasnojarsk die Verbannten – selbst die allerbekanntesten im Lande – aufnahm, muss man nicht erst erklären. Aber darüber, was sie für die Region, für das abseits jeglicher „Zivilisation“ gelegene Sibirien bedeuteten, schrieb im Vorwort zum Buch der Vorsitzende der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation Aleksej Babij:
- Das waren Menschen aus einem anderen Leben, und dank ihnen erfuhren viele, dass ein anderes Leben überhaupt existierte. In diesem anderen Leben gibt es kreatives Schaffen, es gibt Musik und Gedichte, dort sprechen und denken sie ganz anders.
Das war eine Entdeckung, die zahlreiche Schicksale veränderte. Nicht selten entstanden um die Verbannten Musik-, Dramaturgie- und Künstler-Zirkel. Wunderbare Kollektive wurden gegründet, Aufführungen inszeniert. Man muss schon sagen: es war eine Offenbarung für die Ortsbewohner, als im Dorf-Klub eine professionelle Opernsängerin auftrat, als ein Nachfahre Benois den Bühnenhintergrund im Dramaturgie-Theater von Igarka malte, als der Autor des Filmdrehbuchs „Fröhliche Jungs“ und „Wolga-Wolga“ in Jenisseisk an der Vorbereitung der Aufführung teilnahm.
Der Nachfahre Benois hatte eine Zeit lang als Bühnenbildner im Mariinskij-Theater in Sankt-Petersburg gearbeitet. Die „Umstände“ versetzten ihn in ein 4000 km weiter östlich gelegenes Theater – nach Igarka… Das Publikum gewann ihn sofort lieb. „Das war Zauberei der höchsten Klasse“, - erinnerten sich die entzückten Zeitgenossen an seine Arbeit. Die Dekoration zog die Aufmerksamkeit der Menschen bisweilen mehr an, als die eigentliche Handlung auf der Bühne.
Selenkow selbst litt zutiefst unter der Tatsache, dass er nicht zu normalen Existenzbedingungen zurückkehren konnte.
Im Buch werden Zeilen aus seinem Brief an die Verwandten zitiert: „Mit jedem Jahr, das ich in dieser Gegend verbringe, wird es schwieriger… Es gibt keinerlei Hoffnung, sich jemals an all diese Gemeinheiten, von denen ich umgeben bin, zu gewöhnen. Ich wende die letzten Kräfte auf, zwinge mich, mich zu rasieren… Mit schrecklicher Pedanterie zwinge ich mich, die Regeln der äußeren Kultur einzuhalten… denn das ist das einzige Mittel sich bei völligem seelischen Verdruss auf einem „menschlichen Niveau“ zu halten. Unsere Alten sagen, dass viele das nicht beherzigen und sehr schnell in einen tierisch-groben Zustand und in den Verderb geraten. Ich möchte nicht SO aus diesem Leben gehen“.
Bemerkenswert, aber unter derartigen Bedingungen verloren die Menschen nicht ihre Fähigkeit, anstrengende künstlerische Arbeit zu leisten.
Das bezeugen zahlreiche Fakten, die im Buch angeführt werden: beispielsweise schrieb Ksenia Schorochowa aus Norilsk, wie Lew Gimilew – Philosoph, Poet – eine Baugrube für das Fundament des Norilsker Kombinats aushob und gleichzeitig an seiner Dissertation arbeitete…
Eine Ausnahme bildet da auch nicht die Tätigkeit des Chirurgen Valentin Wojno-Jassenezkij (des Geweihten Luka von Krasnojarsk und der Krim). Erfolg begleitete den jungen Forscher Pawel Semjonow aus Jenisseisk; es gelang ihm, gleich mit mehreren Alteingesessenen zu sprechen, die sich an die Ankunft des Mannes in der Stadt erinnerten, der so vielen Menschen die Gesundheit zurückgab. Sie berichteten von einem bemerkenswerten Fall, als der Chirurg einer ganzen Familie die Sehkraft wiedergab: „Von sieben Personen konnten sechs nach der Operation wieder sehen. Ein von der Blindheit geheilter neunjähriger Junge trat zum ersten Mal auf die Straße hinaus. Staunend betrachtete er die Welt, die er sich ganz und gar anders vorgestellt hatte. Man brachte ein Pferd. Siehst du? Wessen Pferd ist das wohl? Der junge wusste keine Antwort. Aber als er das Pferd anfasste, rief er erfreut aus: „Das ist unser, unser Mischka!“
Man kann das Buch in der Tat als einzigartig bezeichnen – sowohl im Hinblick auf die Grundidee, als auch seine Verwirklichung… Gedruckt in einer Auflage von mehreren tausend Exemplaren, hat es bereits Eingang in die Bibliotheken gefunden, und ich glaube, dass keiner der Leser enttäuscht sein wird.
Swetlana Burenko, „Unsere Krasnojarsker Region“, 26.05.14