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Lichtstrahl

Wir setzen die Veröffentlichung der Erinnerungen des Jurij Warygin fort. In seinem Künstlerleben gab es viel Interessantes – Trauriges, aber auch Lustiges.

Selbstgebrannter Schnaps und gesalzener Kohl

Unter den politischen Verbannten gab es sowohl Schriftsteller, als auch Journalisten, Sekretäre der Gebietskomitees und Wissenschaftler. Und sie alle brachten den Sibirjaken Licht – so gut sie es vermochten. Der Bezirkskulturpalast stellte für viele die Rettung dar. Die Verbannten leiteten die Künstlerzirkel, indem sie die junge wie die alte Generation der Kasatschinsker an die Kunst heranführten. Unter ihrer Anleitung erreichte die Laienkunst ein professionelles Niveau.

In dieser fernen Zeit lebte und lernte ich in Roschdestwenskoje. Die Ankunft der Bezirkskulturbrigade erwartete ich stets mit Ungeduld. Im Dorf gab es jedes Mal einen Festtag, wenn die Kasatschinsker Artisten auftauchten. Später reiste auch ich mit ihnen durch die Ortschaften und Dörfer.

Einmal trug ich auf der Bezirksolympiade lachend Fabeln von Sergej Michalkow vor; man wurde auf mich aufmerksam und meinte: „ Jura, hast du Lust, mit uns zusammen aufzutreten?“ Ich antwortete: „Na, und ob!“ So geriet ich also unter die „Professionellen“, worüber ich ganz besonders stolz war.

Doch dieser Meister, diese Maitres, waren gewöhnliche Menschen – wie wir alle. Ich erinnere mich noch daran, wie sich in einem der am rechten Ufer gelegenen Dörfer Folgendes ereignete. Der Geiger und akkordeon-Spieler Zypljaskaus, nahm, wie gewöhnlich, eine Kleinigkeit Selbstgebrannten zu sich, und nachdem er dann auch noch ein wenig gesalzenen Kohl verspeist hatte, betrat er mutig die Bühne.

Aber es gelang ihm noch nicht einmal sein Akkordeon zu entfalten, um Schalajews „Karussell“ zu spielen, als sein Körper auch schon von heftigen Krämpfen geschüttelt wurde. Später erzählte er: „Es hat in meinem Magen rumort“. Kaum hatte der Musiker sein „Karussell“ hinter sich gebracht, rannte er von der Bühne und befand sich im Nu im Vorbau des heruntergekommenen Dorfclubs, wo wir an diesem Tag auftraten. Nur gut, dass sich das Ganze im Sommer abspielte.

Eigentlich hätte das Konzert fortgesetzt werden sollen, aber den Künstler plagte der Durchfall. „Das Lied „Auf Heimaturlaub““, - verkündete ich, - singt Klawdija Schimochina, begleitet von Zypljaskaus“. Und dann begann ein echtes „Karussell“. Kaum hatte er sein Instrument auseinandergezogen, als ei neuerlicher Schmerzanfall seinen Bauch durchzuckte. Unser Musikant rannte erneut auf die Straße, unter das schützende Vordach. Und so ging es das gesamte Konzert hindurch, bestimmt zehnmal.

Wir mussten lachen, während Zypljaskaus tränenüberströmt, weißt du, losrannte, um im Freien „sein Geschäft zu verrichten“. „Elender Säufer!“, schrie seine Frau Maria Syrnewa ihn an und versetzte ihrem Ehemann unter Anschuldigungen eine Ohrfeige.

Das Konzert ging trotz allem gut aus, und Zypljaskaus gelobte nach diesem Vorfall nicht mehr zu trinken und sauren Kohl zu essen. Allerdings gelang ihm das nicht immer. Und auch die anderen Künstler verachteten nicht das eine oder andere Schlückchen Schnaps, um sich Mut anzutrinken, um vor dem Auftritt auf der Bühne gegen die Aufregung anzukämpfen.

Unsere Konzerte waren von Hurra-Rufen gekrönt. Meistens fuhren wir im Frühjahr oder Herbst, beglückten die Feldarbeiter und die ortsansässige Bevölkerung. Von einem Dorf ins andere gelangten wir auf unterschiedliche Art und Weise: zu Fuß, mit Leiterwagen oder auf Traktoren. Für gewöhnlich waren wir dann einen ganzen Monat unterwegs, und überall empfing man uns mit offenen Armen. Radio gab es nicht, Fernsehen auch nicht – also erwiesen wir uns als „Lichtstrahl“ in den entlegenen ländlichen Gegenden.

Pas d’Espagne, Foxtrott und alte Walzer

Das kreative Leben im Bezirk erstarb auch im Winter nicht. Im Kultur-Palast, der in jenen Jahren von Leonid Bussygin geleitet wurde, hatten die Leute ihren eigenen Chor, eine Tanzgruppe und ein Dramaturgie-Studio. Dieser ganze Reichtum wurde von den von mir bereits aufgezählten Menschen, Spezialisten der höchsten Klasse, geleitet. Und samstags und sonntags dröhnte im Foyer des Kultur-Palastes Tanzmusik. Pas d’Espagne, der in Mode gekommene Foxtrott und alte Walzer zogen Jung wie Alt in ihren Bann. Die Leute lebten in ärmlichen Verhältnissen, aber sie verstanden es fröhlich zu sein. Sie hatten unter den Tanzenden auch ihre Idole. Wunderschön tanzten die damals noch junge Lehrerin Tamara Wolkowa und der in jenen Jahren anerkannte Schürzenjäger Viktor Kosulin (Arbeitslehrer an der Schule). Hervorragend tanzte mit ihrem Ehemann auch Veronika Alexandrowna Schafer, ebenfalls Lehrerin.

Und das Instrumental-Ensemble (Gitarre, Geige, Akkordeon, Klavier) verzauberte alle mit seiner bemerkenswerten Musik. Alewtina Arkadjewna Warygina (damals Lytkina) erinnert sich daran, dass sie nicht vorrangig zum Tanzen in den Kultur-Palast ging, sondern vielmehr, um die wunderbare Musik zu hören. Kann man das etwa in irgendeiner Diskothek hören?

Die hervorragenden Musiker Sibengar, Zypljaskaus, Perun, Pjotr Iwanowitsch (den Nachnamen habe ich leider vergessen), hoben die Stimmung der Menschen, indem sie ihnen für die ganze Woche Freude verschafften. Und in den Tanzpausen sang die Sängerin Ljubezkaja Romanzen. Am Bezirkskulturpalast gab es auch ein Blasorchester, welches im Sommer am Tanzplatz spielte - und an den Festtagen bravouröse Märsche.

Die Ortsbewohner zog es zur Kultur. Ich schrieb bereits von den Künstler-Olympiaden, welche Naturtalente aus dem Volk herbeizogen. Unter der sachkundigen Leitung von Verbannten konnten viele ihre Talente enthüllen.

In den Dramaturgie-Schauspielen stand Lisa Janowna Sibengar, Arkadij Antonow, Aleksander Saborujew, Vera Kemowa und andere auf der Bühne. Viele sangen und tanzten in herausragender Weise, glänzten mit ihren Talenten auf den Bezirks- und Regionalfestivals.

Ein Philosoph beim Wasserfahren

Von diesem Mann muss ich gesondert erzählen. An ihn erinnerte mich eine der Einwohnerinnen von Roschdestwenskoje nach der Veröffentlichung des Kapitels über die Verbannten, die in ihrem vergangenen Leben nicht nur in unserem Lande, sondern auch im Ausland bekannt waren. Zu diesen Leuten gehörte auch der Doktor der philosophischen Wissenschaften, Professor der Universität Riga, Boris Petrowitsch Merkulow.

Weswegen sie ihn in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Repressionen aussetzten, weiß ich nicht. Er erzählte nichts, und wir fragten auch nicht – das war in unserem Dorf nicht angebracht. Ich besaß das Glück, mich einige Zeit mit Boris Petrowitsch in freundschaftlichen Beziehungen zu befinden. Die Unterhaltungen mit ihm brachten mir großen Nutzen – er war nicht nur klug, sondern auch ein mutiger Mann. Er lebte in Roschdestwenskoje in der Wohnung von Jewdokia Kalimowskaja. Landsleute berichteten mir (nachdem ich bereits nach Kasatschinskoje umgezogen war), dass er , wenn er nicht arbeitete, an der Schreibmaschine saß und mit den Tasten klapperte – er arbeitete an irgendwelchen wissenschaftlichen Artikeln.

In den Bibliotheken gab es nur wenige Bücher. Valentina Kapitonowna Iwanowa, die Roschdestwensker Bibliothekarin, sandte auf Bitten von Boris Petrowitsch Anfragen an die Bezirks- und von dort an die Regionsbücherei. Er las, neben wissenschaftlichen Ausgaben, nur russische und ausländische Klassiker: Tolstoi, Dostojewskij, Flaubert, Dickens… Die sowjetische Literatur erkannte er nicht an.

Mit ihm über Literatur zu plaudern war ein einziges Vergnügen. Wenngleich das für mich, der nach dem Beispiel Pawka Kortschagins und Gorkijs Roman „Die Mutter“ erzogen worden war, kein leichtes Unterfangen darstellte.

Sein Arbeitsleben in der Verbannung begann Professor Merkulow mit dem „Amt“ eines Viehpflegers und Wasserfahrers in der Kirow-Kolchose. Vom Flüsschen Tschornaja brachte er Wasser für die Kühe in den Viehhof. Ungeschickt saß er auf seinem Pferd, die Beine weit spreizend (wie Paganel aus „Die Kinder des Kapitän Grant“) und … las ein Büchlein.

Das Wasser plätscherte aus dem Fass auf den Weg, aber er bemerkte es nicht. Oft kam er nur mit ein paar Tröpfchen an – nur auf dem Fassboden war noch ein wenig Wasser stehen geblieben. Auch folgendes kam vor: er fuhr bis zum Flüsschen – und da ertönt das Signal zum Mittagessen. Ohne lange nachzudenken kehrt er um – reitet zurück zum Viehhof: Mittagessen ist Mittagessen!

Schließlich befreiten sie den Philosophen von diesen Pflichten.

Beim Kolchosvorstand hatte man sich daran erinnert, dass er immerhin Wissenschaftler war, und ihn zum Ober-Buchhalter ernannt. Und zu der Zeit begann gerade der ständige Wechsel zwischen Zusammenlegungen und Trennungen von Kolchosen. Bei uns wurden zunächst die Kolchosen „Kirow“ und „Lenins Vermächtnis“ vereint und dann wieder getrennt.

Der Ortsansässige Witzbold Jurka Gladyschew erzählte mir später, wie Professor Merkulow die gemeinsamen Kolchos-Tiere auf die Konten verteilte, während er elegant mit den Knöcheln knackte: „Der Hahn hierher, der Hahn hierher, die Kuh hierher, die Kuh hierher…“. So gesehen war das sehr komisch, aber letztendlich wurde alles ganz genau aufgeteilt, ohne dass eine der beiden Wirtschaften gekränkt war.

Die Kolchosarbeiter stellten fest, dass er den Lohn aus irgendeinem Grund immer vor religiösen Feiertagen auszahlte. Gleichzeitig erlaubte man ihm sogar Vorlesungen vor der Bevölkerung zu halten, doch das Bezirkskomitee der Partei glaubte darin etwas Verbotenes zu erkennen und verbot es sehr schnell wieder. Übrigens hinderte das den Professor jedoch nicht daran, der klügste und gebildetste Mensch im Bezirk zu bleiben.

Einmal fuhr ich mit ihm zusammen in demselben Auto von Roschdestwenskoje in die Bezirksstadt und, wie immer, sprachen wir von ernsthaften Dingen. Plötzlich sah er mich aufmerksam an und fragte, ohne den Buchstaben „r“ auszusprechen: „Wie oft in der Woche asieren Sie sich?“ Ich antwortete verlegen: „Zweimal“. „Ein Mann mit Kultu, - meinte er schulmeisterlich, - sollte sich jeden Tag asieren, damit er in den Augen der Leute elegant aussieht“. An diese Lehrstunde erinnerte ich mich mein ganzes Leben.
Unterwegs lasen wir die ganze Zeit Gedichte: sowohl Puschkin, als auch Schiller und Goethe. Aber mich mit Boris Petrowitsch messen – das konnte ich nicht. Ich las eher sowjetische Dichter, während er sie nicht für Poeten hielt. Der Professor erzählte mir eine Menge über Paris, Warschau, Berlin, London.... Dort war er einst häufig gewesen. Ich hörte seinen Bericht über die westliche Kultur und Kunst, über Theater und Museen, und dachte traurig: wie wenig ich weiß. wie wenig ich gesehen habe.
Viel später begriff ich etwas anderes: sowohl Boris Petrowitsch Merkulow, als auch andere Leute hatten ein schweres Schicksal. Das damalige System zerstörte ihr Leben, konnte ihnen selber jedoch nicht brechen. Auch in der Zwangsansiedlung blieben sie intelligente Menschen – in Großbuchstaben geschrieben. Und unsere Pflicht ist es heute, uns mit guten Worten an sie zu erinnern.

Jurij Warigin, Kasatschinskoje

Auf dem Foto: Szene aus einem Theaterstück der Kulturbrigade
Foto aus dem Archiv des Autors

„Krasnojarsker Arbeiter“, 17.07.2014


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