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Ihre Heimat - Sibirien

In der Zeitung vom 1. Juli erschien ein Artikel zum Thema «Die Geschichte meiner Urgroßmutter» — über J.A. Gorbunowa schrieb deren Urenkel Nikita Korytow. Quellen für das Verfassen des Artikels waren Archiv-Dokumente sowie Erzählung der Großmutter – Tochter Jelisaweta Augustowna. Wie die Heldin des Berichts selbst zu den Schwierigkeiten und Wendungen in ihrem Leben stand, wissen wir schon nicht mehr. Aber nachdem die Zeitung herausgekommen war, rief eine Leserin bei der Redaktion an und teilte mit, dass ihre Mutter – die leibliche Schwester von J.A. Gorbunowa und ebenfalls Teilnehmerin an jenen Ereignissen — die Vergangenheit in einem ganz anderen Licht sehen würde. Um die Geschichte aus dem Mund einer unmittelbaren Augenzeugin zu erfahren, machte ich mich auf den Weg, um Jelisaweta Augustowna Simonowa (auf dem Foto) zu besuchen. Es war ein trüber, regnerischer Tag, wetterfühlige und betagte Menschen fühlten sich nicht sonderlich gut. Ungeachtet ihrer Indisposition war Jelisaweta Augustowna einverstanden, sich mit mir zu unterhalten.

Als ich einige Minuten nach Beginn der Unterhaltung erfahren hatte, dass die Mutter meiner Gesprächspartnerin ebenfalls Jelisaweta (Elisabeth) Augustowitsch hieß, keimte die Frage auf: weshalb gab es innerhalb einer Familie so viele Elisabeths mit gleichem Vatersnamen. Es stellte sich heraus, dass es bei den Deutschen (zumindest bei denen, die in Russland leben) Tradition war, die erste Tochter nach dem Namen der Mutter zu benennen und den ersten Sohn nach dem Namen des Vaters.

Die Familie Bopp (Mädchenname unserer Heldin) lebte im Dorf Straub, Bezirk Kukkus, Gebiet Saratow. Die Eltern arbeiteten in der Kolchose und hatten ihren Haushalt. 1927 wurde der erste Sohn August geboren, zwei Jahre später Tochter Lisa. An der Wolga war das Leben nicht leicht.

— Mama erzählte, dass in den 1930er Hungerjahren viele Angehörige starben, — sagt Jelisaweta Augustowna. — Es herrschte eine schreckliche Hungersnot: von Mamas leiblicher Schwester starben der Ehemann und drei Kinder. Und wir überlebten nur, weil Onkel Daniel sich um uns kümmerte, der auf einem Traktor arbeitete und Getreide erhielt. Die Eltern meines Vaters wurden nach der Revolution als Großbauern enteignet; sie hatten eine große Hofwirtschaft, ließen aber keine Angestellten für sich arbeiten - sie erledigten alle Arbeiten allein. Der Vater wurde später als Sohn eines Kulaken in den 1930er Jahren verhaftet. Die Mutter blieb allein mit zwei kleinen Kindern auf den Armen zurück. Erst 1936 kehrte der Vater nach Hause zurück; Tochter Rosa wurde geboren. Der Vater arbeitete auf dem Feld: montags fuhr die Brigade ab und kam erst samstags wieder ins Dorf zurück, um sich im Badehaus zu waschen; und am folgenden Montag ging es erneut los aufs Feld. An einem Samstag, mitten in der Nacht, kamen unbekannte Leute und befahlen dem Vater seine Sachen zu packen. Wir sollten ihn nie wiedersehen. Allerdings berichtete mein Vetter Peter Doos nach dem Krieg, dass 1943, als er sich in der Trudarmee befand, unseren Vater gesehen habe: die Arbeitskolonne ging auf einer Straßenseite, auf der anderen wurden Gefangene vorübergeführt, unter denen der Cousin meinen Vater erkannte. Er bat den Begleitsoldaten, mit seinem Verwandten sprechen zu dürfen, und er berichtete dem Vater, was mit uns geschehen war; er wollte ihm unsere Adresse geben, aber Briefwechsel war den Gefangenen verboten. Das war die letzte Nachricht über unseren Vater. Diese Wunde in meinem Herzen wird nie verheilen. (Dieser Satz erklang nicht nur einmal aus dem Munde von Jelisaweta Augustowna).

Rosa wurde nur zwei Jahre alt – sie starb an Masern. August und Jelisaweta gingen, wie alle anderen Kinder des Dorfes auch, zur Schule. Übrigens wurde im Dorf nur Deutsch gesprochen, Russisch lernten sie erst in der vierten Klasse.

Am 1. September 1941 nahmen die Kinder traditionsgemäß in der Schule Aufstellung. Aber aus dem Unterricht wurde nichts: den Einwohnern von Straub, wie auch allen anderen Bewohnern der sogenannten Republik der Wolga-Deutschen, wurde verkündet, dass man sie nach Sibirien umsiedeln würde. Sie bekamen eine bestimmte Zeit zum Packen ihrer Sachen. Jelisaweta Augustowna erinnert sich, dass sie die Kühe, Schafe abliefern mussten und nur das mitnahmen, was sie selbst tragen konnten; und am 17. September, am Geburtstag der Mama, fuhren sie mit dem Zug nach Abakan. Lange waren sie unterwegs – einen ganzen Monat, der Zug hielt oft an und stand dann drei Tage und Nächte an den Bahnstationen.

— In Abakan angekommen, wurden die Umsiedler auf verschiedene Dörfer und Ortschaften verteilt: die Familie des Onkels kam nach Katschulka im Sagai-Karatusker Bezirk, während Mama und wir nach Katschulka kamen, — berichtet unsere Gesprächspartnerin. — Aber Onkel Daniel bat darum, dass unsere Familie mit einer anderen tauschen durfte. So kamen wir ebenfalls nach Sagaisk. Hier gab man uns sofort eine Wohnung. Um etwas zu essen zu erhalten, verkauften wir unser mitgebrachtes Hab und Gut. Zum Brennholz holen gingen wir in den Wald. Mama arbeitete in der Kolchose, und wir gingen zur Schule. Sie sollten uns in die erste Klasse schicken, damit wir das ABC und russische Worte lernten. Aber man bestimmte uns gleich für die vierte Klasse. Wir gehen hin, setzen uns, sprechen untereinander Deutsch; wir verstehen kein einziges Wort von dem, was die Lehrerin sagt – und gehen nach Hause. So brachten wir eine Woche herum, und dann ließen wir den Unterricht ganz sein.

Im Frühjahr 1942 holten sie Jelisaweta Augustowna in die Arbeitsarmee. Nur unter Tränen kann unsere Heldin sich daran erinnern. Sie rannte hinter dem Fahrzeug her und bat die Mutter sie mitzunehmen. Was es bedeutet, wenn zwei 12- und 14-jährige Minderjährige allein zurückbleiben, kann sich von unseren heutigen Zeitgenossen wohl kaum jemand vorstellen. Aber man konnte nichts machen, man musste weiterleben.

— Aus Tscherepanowka kam die Schwester und berichtete, dass sie beinahe im Wald lebten, nur wenige Meter vom Haus entfernt würden sie Brennholz finden: er sammelte ein Bündel zusammen, lud es auf die Schulter und trug es nach Hause. Auch wenn Hunger herrschte, hatte man es doch wenigstens warm, — erinnert sich J.A. Simonowa. — Der Bruder und ich packten unser kümmerliches Hab und Gut zusammen und machten uns auf den Weg zu den Verwandten. Damals gelangten wir überall zu Fuß hin; wir gingen durch Alt-Kop, auf dem Amyl wurde das Eis bereits brüchig. Wir waren schon fast bis ans gegenüberliegende Ufer gelangt, als das Eis plötzlich brach und August und ich unter eine Eisscholle gerieten. Zum Glück standen Männer am Ufer, die mit Holzsägearbeiten beschäftigt waren. Sie retteten uns.

In Tscherpanowka nahmen die Halbwüchsigen eine Arbeit in der Thälmann-Kolchose auf. Bald teilte man ihnen ein Häuschen, eine Kuh und ein Schaf zu. Um die Kuh zu füttern, brachten die Minderjährigen Stroh auf einem Schlitten herbei und sammelten im Wald Birkenblätter. Jelisaweta pflanzte und verarbeitete in der Kollektivwirtschaft Kartoffeln und mähte Heu. Und mit 14 Jahren zersägte sie bereits zusammen mit den erwachsenen Männern dicke Baumstämme mit einer Zweihand-Säge. In den Wald fuhren sie mit Wams und Filzstiefeln bekleidet, die Knie umwickelten sie mit irgendwelchen Lumpen, damit sie nicht erfroren. Im Winter beschafften sie Holz, im Frühjahr wurde es auf dem flussabwärts geflößt. Im Sommer arbeiteten sie auf dem Feld.

— Den Tag, an dem sie verkündeten, dass der Krieg zu Ende sei, werde ich niemals vergessen, — berichtet die Frau. — Die Einen weinen, andere lächeln, alle singen, tanzen. Aber ich habe nur den einen Gedanken – nun wird die Mama bald wiederkommen. Sie arbeitete in einem Kohleschacht in der Stadt Leninsk. Sie kehrte erst 1946 zurück, und dass auch nur unter der Bedingung, dass man stattdessen uns als Arbeitskräfte dorthin brächte. Natürlich wollte Mama nicht, dass wir im Schacht arbeiteten, denn dort ereigneten sich zahlreiche Einstürze. Sie erzählte, dass sie nur wie durch ein Wunder am Leben geblieben war. Während einer Schicht hörte man in ihrem Abbauort (so bezeichnete man den Arbeitsplatz der Schachtarbeiter) hörte man plötzlich Sirenengeheul. Und der Arbeitskollege sagte: «Wenn wir beide heute unversehrt wieder nach oben kommen, heißt das, du wurdest in einem Hemd geboren». Und tatsächlich gelangten nur sie heil nach oben; sie hatten sich noch nicht einmal in der Kaue zu Ende gewaschen, als eine Explosion ertönte, und Mamas Schichtkollegin kam zusammen mit den anderen Schachtarbeitern ums Leben.

Ins Dorf zurückgekehrt, durchlief Mama eine medizinische Untersuchung, und ein bekannter Arzt dokumentierte, dass sie auf Grund ihres Gesundheitszustands für die Arbeit im Schacht nicht geeignet war. Auf diese Weise waren die Eltern und wir wieder beisammen.

Die Aufgewecktheit und Schläue ihrer Tante retteten Jelisaweta Augustowna und ihren Bruder August vor der Arbeitsarmee. Von der Wolga waren sie ohne Dokumente gekommen, und bei der Volkszählung gab sie an, dass Lisa 1932 und der Bruder 1930 geboren wären. Nach dem Krieg schrieb der Buchhalter der Dimitrow-Kolchos, German, ein Gesuch ans Archiv des Gebiets Saratow, das ihm die richtige Geburtsurkunde zuschickte.

— Ende der vierziger Jahre schloss sich die Thälmann-Kolchose mit der Karatusker Dimitrow-Kolchose zusammen, — berichtet Jelisaweta Augustowna. — Obwohl es in Tscherepanowka einen Kuhstall, einen Schweinestall und einen Hühnerstall gab, und sie auch Schafe hielten und Tabak anbauten. Im Großen und Ganzen taten sie alles zum Wohle der Heimat. Nach der Zusammenlegung bestellt der Kolchos-Vorsitzende Filippow mich und meine Freundin Walja Sorokina zu sich und sagt: «Du arbeitest als Melkerin, und du (auf Walja weisend) als Kälberpflegerin». Wir fingen an zu weinen, denn wir wussten doch nicht, wie man das machte. «Macht nichts, man wird es euch beibringen». Und so kamen wir nach Karatus. Meschtscherjakow, der Leiter des Milchviehbetriebs, teilte mir eine Gruppe von 12 Kühen zu; am ersten Tag nach dem Melken waren meine Hände dick angeschwollen. Man konnte nichts machen, arbeiten mussten wir. Danke an die erfahrenen Melkerinnen, die uns zeigten, was und wie wir es anstellen sollten. Nach und nach gewöhnte ich mich ein wenig an die Arbeit.

Hier lernte Jelisaweta einen jungen Burschen kennen, ebenfalls ein deutscher Umsiedler; sie heiratete ihn, eine Tochter wurde geboren. Die junge Familie begab sich nach Krasnoturansk, um dort ein „besseres“ Leben zu führen. Doch bald darauf kehrte Lisa mit ihrem kleinen Kind zur Mutter nach Tscherepanowka zurück. Inzwischen hatte auch der Bruder schon seine eigene Familie mit drei Kindern. Sie wohnten nun alle zusammen.

— Mama kümmerte sich um den Tabakanbau, die Nachbarplantage wurde von einer Frau bearbeitet, — erinnert sich unsere Heldin. — Als sie mich sah, meinte sie, sie hätte einen Neffen, es würde schön, wenn wir heiraten würden. Und was hatte ich schon zu verlieren: ich hatte ein kleines Kind im Arm, und beim Bruder gab es auch ohne mich genug Sorgen. Ich willigte ein. Die Simonows kamen aus Karatus, um mich als Ehefrau vorzuschlagen. Sie brachten uns in die Bezirksstadt. Im Winter wohnten wir bei Wanjas Eltern, im Frühjahr zogen wir aus – wir hatten eine kleine Hütte gekauft. Iwan arbeitete auf dem Traktor, und wir fuhren mit ihm Holz besorgen. Zu zweit zersägten wir es, und schafften es heran. Unsere Holzhütte nahmen wir auseinander und bauten den ganzen Sommer an einer neuen, und in der Zwischenzeit hausten wir im Schuppen. Die unteren Balkenreihen verlegten mein Mann und ich allein, danach baten wir einen Bekannten um Hilfe, denn wir hatten ja kein Geld, um einen Arbeiter einzustellen. Wir errichteten das Haus bis zum Dach und überwinterten in dem noch unverputzten Haus; die Hauptsache war, dass wir ein Dach über dem Kopf hatten. Im folgenden Jahr verputzten wir alles – die Arbeit nahm Mama auf sich. Mein Iwan hat sein Leben lang auf dem Traktor gearbeitet und ich als Melkerin, Kälber- und Schweinepflegerin. Wir bekamen zwei Söhne. Wir zogen sie groß, so dass sie auf eigenen Füßen stehen konnten.

54 Jahre lang haben die Eheleute Simonow einvernehmlich zusammengelebt. Heute wohnt Jelisaweta Augustowna bei ihrer Tochter, alle sind zufrieden. Mit ihren 85 Jahren legt sie Beete an und hilft im Haushalt. Ihre Energie und ihre Liebe zum Leben können selbst die jungen Leute in Erstaunen versetzen. Die schweren Schicksalsherausforderungen haben ihren Körper und ihren Charakter abgehärtet. Jetzt wartet J. A. Simonowa ungeduldig auf die Ankunft ihres älteren Bruders – er hat in Deutschland gelebt und beschlossen, in die Heimat zurückzukehren. Ja, als Heimat bezeichnen die Wolgadeutschen unser Sibirien, denn schließlich sind sie hier aufgewachsen, alles Gute in ihrem Leben hat sich hier in unseren Gefilden ereignet.

Tatjana MENSCHIKOWA
„Banner der Arbeit“ (Karatuskoje), 29.07.2014


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