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Fassen wir einander bei den Händen, Freunde

In der vergangenen Woche hielt sich eine kleine Gruppe Norilsker, deren Schicksale mit den stalinistischen Repressionen im Zusammenhang stehen, am Lama-See auf.

Diese Tradition ist schon beinahe zwei Jahrzehnte alt. Zur Sommerzeit organisiert die Norilsker Gesellschaft zum Schutz der Rechte der Opfer politischer Verfolgungen gemeinsam mit dem Museum der Geschichte der Erschließung und Entwicklung des Norilsker Industrie-Gebiets und mit finanzieller Unterstützung der Norilsker Stadtverwaltung eine Fahrt des Gedenkens an den Lama-See. Ich erinnere mich, wie Ende der 1990er Jahre, zusammen mit alten Leuten, unter denen sich auch ehemalige Insassen des Norillag und ihre bereits ergrauten Kinder befanden, eine große Gruppe Journalisten reiste. Bei der kürzlich stattgefundenen Fahrt waren viele von ihnen schon nicht mehr unter uns. Vor ein paar Jahren verstarb am Vorabend seines 95. Geburtstags der berühmte Veteran Wassilij Feoktistowitsch Romaschkin – der1939 nicht aus freien Stücken zum Norilsker wurde. Ich weiß noch, wie er zum ersten Mal an den malerischen Lama kam und meinte, dass er „sich wie im Paradies fühle“…

Aber für jene verbannten baltischen Artillerie-Offiziere aus Lettland, Litauen, Estland, die 1941 unter absichtlicher Täuschung in ihren leichten Parade-Uniformen in den Hohen Norden gebracht wurden, wurde der Lama zur Hölle. Traditionsgemäß legten wir immer zuerst am symbolischen Dorffriedhof an, den Ende der 1990er Jahre hier ihre Landsleute schufen. Sie stellten Gedenksteine aus Lama-Findlingen und hölzerne Kreuze auf und halten es für ihre Pflicht, alle gewissenhaften Touristen, Teilnehmer verschiedener Expeditionen, in diese legendären Gefilde zu bringen.


Maria, Irma, Jewegenia (von links nach rechts)

Wir zündeten Kerzen an und standen lange schweigend am „baltischen“ Friedhof. Jeder gedachte seiner einst verfolgten Verwandten und Nahestehenden. Meine Mama, Klara Sawkowa, Teilnehmerin an der Partisanen-Bewegung in Weißrussland, die in faschistische Gefangenschaft geraten war, gelangte Ende der 1940er Jahre ins Norillag. Ich betete auch für den Seelenfrieden der berühmten Norilkserin Jefrosinia Kersnowskaja, die ich sehr bewundere und zu deren Grabstätte ich mit meiner Freundin nach Jessentuki fuhr. Ich gedachte auch der lieben alten Freunde – Doktor Serafim Snamenskij, die Alleskönner Wilis Traubergs und Matwej Dudutis… Sie alle haben würdevoll die Herausforderungen des Norillags durchlaufen, blieben nach dem „Absitzen“ ihrer Strafe im Norden und taten für unsere Stadt eine Menge Erstaunliches.


Witalij Kuryschew mit seiner Frau

Im historischen Gebäude dr Touristenstation „Lama“, mit deren Bau Häftlinge im Jahre 1939 begannen, war es gemütlich, aber trotzdem kühl. Anhänger der stillen Jagd wie wir fürchteten die Bären nicht (ehemals Verfolgte kann man wohl kaum durch irgendetwas erschrecken!), und so machten wir uns sogleich auf Pilz- und Beerensuche, die es in dieser Jahreszeit in Hülle und Fülle gibt. Und gegen Abend versammelten sich alle in kleinen Gruppen am wohlgeordneten Lama-Ufer und wärmten sich an ihren Feuerchen. In unserer Gesellschaft befanden sich die Mitarbeiter des Museums der Geschichte des Norilsker Industrie-Gebiets Anastasija Schischkina und Stas Stepanow, der Künstler Aleksander Slessarew, der Fotograf des „Polar-Boten“ Nikolaj Schtschipko und die russische Französin Jelena Tschernyschowa, die in unseren Gefilden Aufnahmen für ihr Fotoprojekt machte. Am letzten Abend vor der Abreise beschlossen wir, an unserem Tisch alle Teilnehmer unserer Gedenk-Expedition zu vereinen.


Am Denkmal für die baltischen Offiziere

Wir luden alle ein; etwa die Hälfte der Reisenden folgte unserem Aufruf, nur die bescheidenen Einwohner von Dudinka genierten sich. Wir bereiteten für die Gedenkfeier Brotstückchen mit zuvor geweihtem Honig, einige andere Speisen und Tee vor. Während des gemeinsamen Mahls erzählte jeder der Anwesenden kurz seine Geschichte oder die Geschichte seiner ihm Nahestehenden. Die gesellige Norilskerin Jelisaweta Dobronrawina, Tochter des Deutschen Karl Knoll, wurde in der Verbannung geboren. Ihr meisterlicher Vater liebte Norilsk so sehr, dass er bis zum Ende seiner Tage nur Gutes über die Stadt seines schweren, aber markanten Schicksals sagte. Jetzt leben hier seine Enkel und Urenkel. Oma Maria Chmelewskaja, die nie schreiben und lesen gelernt hatte, schämte sich anfangs sehr. Aber nachdem sie aufmerksam die Berichte ihrer Norilsker Mitschwestern vernommen hatte, erzählte sie eine Geschichte, bei der die Tränen rollten. Eine Posse – als junger Mensch in den Hohen Norden zu geraten, um dort die ganze „Anmut“ der demütigenden Sklavenarbeit zu erfahren. Aber Maria Aleksandrowna stammt aus einer unverzagten Generation, ebenso wie die liebenswerten Frauen Irma Belowa und Jewegenia Babikowa, mit denen sie sich dank der Gesellschaft zum Schutz der Rechte der politisch Verfolgten angefreundet hat und die von Jelisaweta Obst geleitet wird.


Aleksander Slessarew

An unserem „Gedenk-Feuer“ erzählten auch der Künstler Aleksander Slessarew, der Baumeister und Erforscher der Norilsker Geschichte Stas Stepanow und einer der ältesten Einwohner von Norilsk Anatolij Karpowitsch von ihren einst verfolgten Verwandten. Alle gehörten Geschichten sind aufgezeichnet worden und werden zusammen mit Fotos dieser Reise an den Fond des Museums der Geschichte der Erschließung und Entwicklung des Norilsker Industrie-Gebiets übergeben. Auch unsere sympathische „Französin“ Jelena, die zum ersten Mal nach Norilsk geflogen war, bat darum, ihr ein Exemplar der Aufzeichnungen unserer Gespräche zu schenken – verständlich, dass sie, wie kein anderer, die Berichte der alten Norilsker in sich aufsog. Möglicherweise kommen sie ihr für ihre weitere Arbeit zugute.

Nicht einmal der Regen störte uns, während wir den ganz besonderen Gesprächen lauschten. Wir gedachten aller uns bekannten Norilkser Verfolgungsopfer. Der gutmütige Großvater Witalij Kuraschew erzählte uns die Geschichte seiner Ehefrau Walentina Petrowna, die inzwischen gehörlos ist, und er erinnerte sich auch an Wassilij Feoktistowitsch Romaschkin.


Stas Stepanow mit seiner Beerenauslese

Die Norilskerin Liudmila Tscherednitschek, die 55 Jahre im Berufsleben stand, erinnerte sich an Bekannte, die die Repressionen miterlebt hatten, - den Vater des Pfahlbaus in Norilsk – Michail Kim und den hervorragenden Chirurgen Viktor Kusnezow, der sich nach Norilsk begeben hatte, um den Verfolgungen zu entgehen. Nachdem unsere Abschiedsfeier bis zum nächsten Morgen gedauert hatte, fassten wir uns am Ufer der schlafenden Lama zum Zeichen unserer Freundschaft und unseres Wunsches, auch künftig miteinander in Kontakt zu bleiben bei den Händen. Wegen der Erinnerung, wegen unserer Liebe zu Norilsk, dem schönen und zugleich tragischen, das uns alle durch den Willen des Schicksals miteinander vereint hat. Und unser Feuerchen am Ufer, an dem wir uns die Hände gewärmt haben, glomm noch lange Zeit vor sich hin, wie ein Leuchtturm der Erinnerung für die Seelen, die längst in die Ewigkeit eingegangen sind…

Irina Danilenko
Fotos der Autorin

„Polar-Wahrheit“, 21.08.2014


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