Foto: Walerij Buschuchin / ITAR-TASS
Die Region Krasnojarsk war immer ein Gebiet mit schwierigen Lebensbedingungen. Das riesige, schwierig passierbare Territorium, das raue Klima, die geringe Bevölkerungszahl ein idealer Ort für Zwangsarbeiter, Verbannte, Kriminelle. Ein Korrespondent des „Russischen Planeten“ war im Archiv der Staatlichen Verwaltung des MWD der Region Krasnojarsk und machte sich mit den Personenakten berühmter Verbannter vertraut.
Auf der Vorderseite des Aktendeckels die Aufschrift: Schwarzburg, Ananij Jefimowitsch. Die Mitarbeiter der Abteilung kommentieren: „Das ist ein bekannter Krasnojarsker Pianist, er leitete die Philharmonie“. Fast in jeder Akte eine eigenhändig geschriebene Biographie des Verbannten. „Geboren in der Stadt Charbin 1918. Die Eltern lebten und arbeiteten in der Mandschurei. Nachdem ich die Mittelschule absolviert hatte, studierte ich am musikalischen Technikum für Staatsbürger der UdSSR, anschließend an der Glasunow-Musikhochschule, die ich 1935 beendete. Später befasste ich mich mit Konzert-Aktivitäten…“ 1936, nach dem Verkauf der Ostchinesischen Eisenbahn fuhr er mit der Mutter nach Moskau, wohin er vom sowjetischen Konsul zur Verfügung des Allunionskomitees für Kunst beim Rat der Volkskommissare der UdSSR geschickt wurde. Nachdem er in Moskau eingetroffen war, schrieb er sich am Moskauer Konservatorium ein. 1937 zog er aufgrund familiärer Umstände nach Leningrad und wechselte gleichzeitig ans Leningrader Konservatorium. 1938 wurde er verhaftet und wegen konterrevolutionärer Tätigkeit nach §§ 59-10, 11 des Strafgesetzes der RSFSR zu 10 Jahren verurteilt, die er in der Stadt Magadan verbüßte. Ab 1944 arbeitete er bereits als Solist-Pianist sowie Konzertmeister am Magadaner Unterhaltungstheater. „Für hervorragende Arbeit und beispielhaftes Verhalten wurde er mit der höchsten Belohnung ausgezeichnet – der Verkürzung seiner Strafdauer. Nach seiner vorzeitigen Freilassung im Juli 1947 wurde er zum Leiter der musikalischen Abteilung und zum Dirigenten in Magadan ernannt. Im Frühjahr 1948 wurde er aus dem Dalstroj entlassen. Mit einem Gewerkschaftsreiseschein schickte man ihn zur Behandlung in die Stadt Suchumi. Von dort begab er sich nach Kutaissi, wo er Lehrer an der Fachschule für Musik wurde. Im Januar 1949 wurde er erneut wegen Spi9onage verhaftet. Anschließen verbannte man ihn zur Ansiedlung im Uderejsker Bezirk, Region Krasnojarsk, wo er eine Arbeit gemäß seiner Berufsausbildung fand. Später erlaubte man ihm in die Stadt Jenisseisk umzuziehen, wo er am 18. November 1949 eintraf. Hier ließ er sich mit seiner Ehefrau und Tochter nieder, die ihm aus Kustaissi gefolgt waren.
Nach seiner Rehabilitation machte sich Ananij Schwarzburg mit seiner Familie auf den Weg nach Krasnojarsk und kehrte bis zu seinem Tod im Jahre 1974 zum aktiven Schaffen und der Tätigkeit als Lehrer zurück.
Tatjana Kilina, Leiterin der Abteilung Rehabilitation der Opfer politischer Repressionen bei der Staatlichen Verwaltung des MWD in der Region erzählt:
„Nachdem das Norillag liquidiert worden war, wurde die gesamte Dokumentation an uns übergeben. Die Akten derer, die bereits aus dem Lager entlassen worden waren, wurden sofort nach Entlassung der Person in die Freiheit vernichtet. Sie gelangten schon nicht einmal mehr bis zu uns. Verwahrt wurden lediglich die Akten der Verstorbenen. Zum Verständnis: für jedes Individuum, das eine Verbannungsstrafe verbüßte, konnten fünf-sechs Akten angelegt sein. Die erste war die Ermittlungsakte. Sie befindet sich jetzt beim FSB jener Region, in der das Urteil gesprochen wurde. Die zweite – die Personenakte am Ort der Verbannung. Praktisch alle Akten, die sie gerade in den Händen gehalten haben, - sind Personenakten, welche hier (in der Verbannung – Anm. d. Autors) angelegt und geführt wurden. (In ihnen finden sich keine Verhörprotokolle, Zeugenaussagen u. ä. Das ist alles in den Strafakten enthalten. Nehmen wir beispielsweise die Akte von Georgij Schschonow. Die Akte liegt beim Moskauer FSB, versehen mit dem Buchstaben „P“, d-h- „eingestellt“. Aber bei uns liegt sie mit dem Vermerk „C“ – „Ermittlungsakte“. Und wenn ein Mensch im Norillag seine Strafe verbüßte, dann gab es dort auch noch eine „Häftlingsakte“.
Oder nehmen wir Robert Aleksandrowitsch Stilmark – Autor des Abenteuerromans „Der Erbe aus Kalkutta“. „1929 beendete er das Höchste literarische-künstlerische Institut namens W.J. Brjussow im Bereich Lingusitik und Redaktion. Er war in den internationalen Abteilungen von Redaktionen und Verlagen tätig, unterrichtete an mehreren höheren Lehreinrichtungen der Hauptstadt. 1941 ging er als Freiwilliger an die Front. Er kämpfte an der Leningrader Front; nach der dritten Verwundung im Jahre 1943 wurde er ins Hinterland evakuiert. In demselben Jahr traf er in der Leningrader Rotbanner-Militärtopografischen Fachschule ein, wo er als Lehrer arbeitete. Im weiteren Verlauf wechselte er an den Lehrstuhl für operative Kunst am Höchsten Institut der Roten Armee für Fremdsprachen. 1945 wurde er verhaftet, und nach § 58-10 zu 10 Jahren Erziehungs- und Arbeitslager verurteilt: „wegen verleumder8ischer Äußerungen über die sowjetische Realität“. Seine Strafe verbüßte er im Norillag beim Bauprojekt N° 503 (der stalinistischen unvollendeten Eisenbahnlinie, die von der Stadt Igarka in der Region Krasnojarsk, durch die Siedlung Jermakowo, bis zum rechten Ufer des Flusses Pur führte – mit einer Gesamtlänge von 601 km, sowie dem Bau eines See- und Binnenhafens, einer Schiffsreparatur-Werft und einer Wohnsiedlung in Igarka am Fluss Jenissei – Anm. d. Autors), wo er als Topograph arbeitete. Von 1947 bis 1949 war er als Leiter der technischen Bibliothek tätig“. 1953, nach seiner Strafverbüßung, wurde er, weil er Deutscher war, zur Sonderansiedlung in die Stadt Jenisseisk geschickt. Im Februar 1953, nach zahlreichen Überprüfungen, in deren Verlauf festgestellt wurde, dass seine Verwandten in Moskau lebten und nicht der Aussiedlung ausgesetzt waren, wurde Robert Stilmark aus der Sonderansiedlung entlassen. Den Roman „Der Erbe aus Kalkutta“ schrieb Stilmark, während er sich noch im Lager befand. 1958 wurde er veröffentlicht.
In jeder Akte gibt es Berichte von Lager-Mitarbeitern über die Führung der Gefangenen, Unterschriften über mögliche Strafen wegen eigenmächtigen Verlassens des Verbannungsterritoriums, Kennkarten zu der betreffenden Person mit Spalten, in die in der Kommandantur Bemerkungen eingetragen werden mussten, ferner Gesuche der Häftlinge und Erklärungen dazu.
- Tatjana Nikolajewna, warum sind denn viele politische Verurteilte zum wiederholten Male in unsere Region geraten?
- Diejenigen, die Anfang 1937 verurteilt wurden, fielen unter den Geltungsbereich des Erlasses vom 1. Februar 1948, - sagt Tatjana Kilina. – Über die Verschickung in die Verbannung von besonders gefährlichen Staatsverbrechern, d.h. allen, die früher schon einmal eine Strafe nach § 58 verbüßten. Sie alle wurden automatisch zu besonders gefährlichen Staatsverbrechern, selbst jene, die bereits wieder ins gewohnte weltliche Leben in ihren Heimatstädten zurückgekehrt waren oder sich in der Nähe der Orte niedergelassen hatten, an denen sie ihre Strafe abgesessen hatten. Sie wurden von niemandem vorgeladen; es war lediglich so, dass eine Sondersitzung des Gerichts, die sich beispielsweise im Gebiet Rjasan befand, verhängte über den bereits zuvor Verurteilten das Urteil der unbefristeten Verbannung. Später holte man sie ab und transportierte die Verurteilten entsprechend der Anordnung an die jeweiligen Verbannungsorte. Später wurden sie, das war schon 1954 und 1955, entlassen. Diese Art Gefangener nannten wir „Wiederholer“, das ist unser inneres Lexikon. Das erste Mal hat er schon gesessen, das zweite Mal drückten sie ihm für dasselbe Verbrechen eine andere Strafe auf – die Verbannung. Auf diese Weise entstanden zwei Zyklen von Repressionen, und als der Rehabilitationsprozess anlief, da wurden die Menschen für die erste Haftstrafe in Moskau rehabilitiert, für die zweite Strafe jedoch am Verbannungsort, also in unserer Region. Unter dieses Dekret fielen diejenigen, deren Haftstrafe 1948 noch nicht beendet war und die sich noch im Lager befanden. Sie wurden ebenfalls zur Verbannung verurteilt. Es kam sehr häufig vor, dass die Lagerverwaltung jemandem, dessen Haftstrafe 1950 zu Ende ging und der dann in die Freiheit entlassen werden sollte, die Mitteilung machte – „nach Hause wirst du nicht kommen; du fährst zur Verbannung in die Region Krasnojarsk“. Und anstelle einer Strafdauer von 7 Jahren zog sich die Gefangenschaft bei solchen Leuten dann über 10-12 Jahre hin. Es gibt Fälle, dass Menschen sich bereits in die Verbannung begeben und dort niedergelassen hatten, die Anordnung für die Verbannung jedoch erst mit einem Monat Verspätung eintraf. Das Sondergericht hatte es einfach nicht geschafft, diese Welle der Wiederholer-Akten rechtzeitig aufzuarbeiten. Sehr selten kam es vor, dass Menschen nicht in die Welle der Wiederholer-Repressionen gerieten.
Die nächste Akte – Jewsej Gustawowitsch Schirwindt.
- Das ist der Onkel des Schauspielers Aleksander Schirwindt, - erklärt Tatjana Nikolajewna.
Unter der Leitung von Jewsej Gustawowitsch wurde der Besserungskodex der RSFSR verfasst, nachdem er dann eine Strafe verbüßen musste.
Geboren 1891, gebürtig aus Kiew. 1914 beendete er die juristische Fakultät der Staatlichen Moskauer Universität. Danach schrieb er sich an der medizinischen Fakultät derselben Universität ein, beendete sie jedoch aufgrund der beginnenden Revolution nicht. Von 1922 bis 1930 hatte er das Amt des Leiters der Hauptverwaltung der Haftverbüßungsorte des NKWD der RSFSR inne, gleichzeitig war er Mitglied des Kollegiums des NKWD der UdSSR und Chef er Hauptverwaltung der Begleitwachen des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten der UdSSR. Unter seiner Leitung wurde das Staatliche Institut für das Studium der Kriminalistik organisiert, das heute in Moskauer Juristisches Institut umbenannt ist. Er war erster Kommandierender der Begleittruppen der UdSSR (1925-1932). Von 1933 bis 1938 Ober-Assistent der Staatsanwaltschaft der UdSSR und Ober-Staatsanwalt für die Aufsicht über Gefängnisse und Besserungslager des NKWD der UdSSR. 1938 wurde er verhaftet und von einem Militärkollegium nach §§ 58-8 und 58-11 zu 10 Jahren Erziehungs- und Arbeitslager verurteilt. Die Strafe verbüßte er im Kraslag. Während der Haftzeit erledigte er allgemeine, ungelernte Arbeiten, war aber auch entsprechend seiner Berufsausbildung tätig und leitete zudem die Massenkultur-Brigade und die Geiger. Nach seiner Freilassung lebte und arbeitete er auf dem Gebiet der Musik in Aleksandrow, Gebiet Wladimir. 1948 wurde er von einem Sondergericht beim MGB der UdSSR erneut verurteilt und nach denselben Paragraphen zur Verbannung verurteilt – „wegen Zugehörigkeit zu einer sozialrevolutionären Organisation“. Zur Verbüßung der Verbannungsstrafe wurde er in die Ortschaft Aban im Abansker Bezirk, Region Krasnojarsk, geschickt, wo er in der Waldwirtschaft arbeitete. Während der Verbannungszeit nahm er aktiv an künstlerischen Laientätigkeiten im Haus der Kultur teil. Im September 1954 wurde er freigelassen. Er ist rehabilitiert.
- Durch das Rehabilitationsgesetz werden die Namen der Repressionsopfer bei uns in den Büchern der Erinnerung verewigt, - kommentiert Ttjana Kilina. – Derzeit wird zr Veröffentlichung in unserer Region gerade der 12. Band vorbereitet. 10 Bände wurden anhand von Akten verfasst, die beim FSB aufbewahrt werden, - dabei handelt es sich vor allem um Menschen, die erschossen oder zur Lagerhaft verurteilt wurden. Band 11 ist ausschließlich den enteigneten Bauern gewidmet, die in die Region Krasnojarsk verschleppt wurden. Schaut man sich einmal die Proportionen an, so stellt man fest, dass in den Bauten des Norillag 40% politische Gefangene und 60% Kriminelle ihre Strafe verbüßten, sie saßen alle miteinander ein. Und das Leben dort war ke8in Zuckerschlecken, weil sie dorthin Straftäter mit langjährigen Haftstrafen brachten, welche für schwerwiegende Verbrechen gegeben wurden.
Der nächste Aktendeckel: Ariadna Sergejewna Efron, die Tochter der Dichterin Marina Zwetajewa und Sergej Efrons. Von 1921 bis 1925 lebte sie mit den Eltern in der Tschechoslowakei, von 1925-1937 – in Paris. Sie studierte Malerei und Graphik und erhielt 6 französische Literatur-Prämien. 1937 fasste sie den Beschluss nach Russland zurückzukehren. Nach ihrer Rückkehr beginnt sie in einer Künstler-Einrichtung zu arbeiten. 1939 wurde sie verhaftet und 1940 wegen Spionage-Tätigkeit verurteilt. Nachdem sie die Strafe verbüßt hatte, ging sie nach Rjasan zurück. Der Vater wurde 1941 erschossen; bald darauf nahm die Mutter sich das Leben. 1949 wurde sie erneut verhaftet und zur unbefristeten Verbannung in den Turuchansker Bezirk, Region Krasnojarsk verschleppt. In dieser Zeit arbeitete sie als Reinmachefrau in einer Schule, anschließend wurde sie Künstlerin im örtlichen Klub. 1955 wurde sie rehabilitiert.
- Bei uns bitten Angehörige sehr häufig darum, die Akten an sie herauszugeben, zum Beispiel im Museum der Mutter von Bulat Okudschawa – erzählt Tatjana Nikolajewna. – Aber wir können das nicht machen. Die Akte darf nur im Archiv aufbewahrt werden. Um für jede Akte die Geheimhaltung aufzuheben, müssen wir sie per Hand durchlesen und nachschauen, ob es darin nicht irgendwelche Materialien gibt, die gar nicht öffentlich zugänglich gemacht werden dürfen. Für Erben und nahe Verwandte können wir Fotokopien einzelner Blätter vornehmen, mehr nicht. Georgij Schschonow hat zum Beispiel einen Film über seine Haft gedreht, die er in unseren Lagern verbüßte. Und er wandte sich an uns mit der Bitte, ihm seine Akte herauszugeben. Von Gesetzes wegen haben wir dazu kein Recht, selbst bei einem so berühmten Menschen dürfen wir keine Nachsicht üben. Wir machten praktisch von allen Blättern Fotokopien, bei denen das Gesetz dies zuließ. Diese hefteten wir dann mit dem Originalumschlag zusammen und schenkten sie ihm. Der Umschlag stellt keinen besonderen Wert dar, er kann auch beschädigt oder schon einmal gegen einen neuen ausgetauscht worden sein. Nach einer Reportage über dieses „Geschenk“ brach über uns ein ganzer Schwall von Anrufen und Anträgen herein, mit der Bitte, auch ihnen ihre Akte herauszugeben – „bei Schschonow haben Sie das doch auch gemacht!“ Doch leider müssen wir das immer ablehnen.
Noch ein weiterer berühmter Name – Viktor Saweljewitsch Kramarow, Vater des sowjetischen Schauspielers Sawelij Kramarow. Geboren wurde Viktor Saweljewitsch 1900. Im Jahre 1924 beendete er das Kiewer Institut für Volkswirtschaft auf dem Spezialgebiet Jurist. Ab 1917 arbeitete er in verschiedenen sowjetischen staatlichen Einrichtungen. Von 1926 bis 1927 – bei der Staatsanwaltschaft. Ab 1928 war er beim Moskauer Gebietskollegium der Verteidiger beim Moskauer Gebietsgericht tätig. 1931 wurde er juristischer Berater. 1938 verhafteten sie ihn und verurteilten ihn nach §§ 58-10 und 58-11 zu 8 Jahren Erziehung- und Arbeitslager. Die Strafe verbüßte er in den Besserungslagern des Dalstroj. Nach Strafverbüßung zog er nach Bijsk im Altai-Gebiet.1950 wurde er erneut wegen derselben Paragraphen zur Verbannung in die Ortschaft Turuchansk, Region Krasnojarsk, verurteilt. Im März 1951 beging er Selbstmord.
In der Akte befindet sich die Geburtsurkunde Sawelij Kramarows, des berühmten sowjetischen Schauspielers: „Moskauer Standesamt, Baumann-Abteilung, 25. Oktober 1934. Geburtsurkunde N° 4220 Herr Sawelij Viktorowitsch Kramarow wurde 1934, am 13. des Monats Oktober, geboren. Worüber im Buch der Personenstandsurkunden ein entsprechender Vermerk gemacht wurde. Vater: Viktor Saweljewitsch Kramarow, Mutter: Benedikta Solomonowna Kramarowa. Geburtsort: Stadt Moskau“.
- In mehreren Jahrzehnten meiner Arbeit wurde mehr als eine halbe Million Menchen rehabilitiert, die ihre Strafe in der Region Krasnojarsk verbüßt hatten. Ansonsten hat uns niemand rehabilitiert – teilt Tatjana Kilina mit. – Jetzt sind es schon 516,000 Rehabilitierte, doch die Ziffern werden Jahr für Jahr korrigiert und steigen. Seit Jahrhunderten hat man Menschen zu uns verbannt. Sogar Stalin hat höchstpersönli9ch hier bei uns im Turuchansker Bezirk seine Verbannungsstrafe verbüßt. Als ich schon im Archiv tätig war, interessierten wir uns selber für die Dokumente über seine Verbannungszeit. Wir fingen an nachzuforschen und erfuhren, dass Josef Stalin noch zu Lebzeiten darüber verfügte, alles zu beschlagnahmen und nach Moskau zu senden. Nun gibt es keine Informationen mehr zu diesen Dokumenten.
Olga Stefanowna Budnizkaja (Budjonnaja) (Bühnen-Pseudonym Michailowa. – Anm. d. Autors). Zweite Frau des legendären sowjetischen Marschalls. Schauspielerin am Staatlichen Akademischen Großen Theater. 1924 heiratete sie Marschall Budjonnij. 1937 wurde sie verhaftet und 1939 wegen Spionage-Verbindungen zu 8 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. 1945, bei Beendigung der Haftstrafe wurde sie nicht freigelassen, sondern blieb weiter in Haft. 1948 wurde sie als sozial gefährliches Element zur unbefristeten Verbannung in den Jenisseisker Bezirk, Region Krasnojarsk, geschickt.
Später rehabilitierte man sie. Nach der Rückkehr aus dem Lager half Semjon Michailowitsch Budjonny ihr bei der Behandlung und Rückkehr in ein normales Leben.
In diesem Aktenstoß lagen noch ein paar Heftmappen mit bedeutenden Namen, doch für diese Ordner ist die Geheimhaltung noch nicht aufgehoben worden.
In der Region Krasnojarsk ist bereits seit mehreren Jahrzehnten die „Memorial“-Gesellschaft tätig, die von Aleksej Babij geleitet wird. Wir baten Aleksej Andrejewitsch, etwas über die Lebensbedingungen der Häftlinge und Verbannten zu erzählen.
- Insgesamt gesehen unterschieden sich die Bedingungen nicht von denen anderer Lager der UdSSR, - antwortet Aleksej Babij. – Schwere körperliche Arbeit, unzureichende Ernährung, Gewalt und Willkür, sowohl von Seiten der Lagerverwaltung, als auch durch die Kriminellen. Ein wenig unterscheidet sich diesbezüglich (zum Besseren) das Norillag zur Zeit Sawenjagins und das „Bauprojekt N° 503“ zu Zeiten Barabanows. Nicht wenige Menschen haben es ihnen zu verdanken, dass sie sie von den allgemeinen Schwerstarbeiten abzogen und an Arbeitsplätze schickten, die ihrer beruflichen Qualifikation entsprachen. Im Norilsker Kombinat waren die technischen Posten praktisch vollständig von Gefangenen besetzt.
- Wie sahen die sozialen Alltagsbedingungen im Leben der Verbannten und Siedler aus?
- Im ersten Jahr nach der Deportation waren die Bedingungen besonders hart: die Familien waren aus ihrem gewohnten Umfeld und dem gewohnten Klima herausgerissen, besaßen praktisch nichts, es gab für sie keine Behausung, die Verpflegung war spärlich, zudem konnten viele von ihnen kein Russisch (Wolgadeutsche, Balten, Ukrainer). Des Weiteren wurden die Männer in der Regel in die Arbeitsarmee oder ins Lager geholt, so dass alle Widrigkeiten des Lebens auf den Frauen lasteten. Daher war die Sterblichkeitsrate im ersten Jahr der Verbannung extrem hoch. Später, als die Menschen sich ein wenig eingelebt hatten, bauten sie Häuser, legten Gemüsegärten an, und die Beziehungen zu den Ortsansässigen normalisierten sich.
Kann man sagen, dass die Verbannten die Region kulturell bereichert haben?
- Ja, natürlich. Nicht nur kulturell, sondern auch in technischer Hinsicht. In der Region befand sich eine Vielzahl berühmter Persönlichkeiten aus den Bereichen Wissenschaft, Kultur und Kunst. Neben Berühmtheiten gab es zahlreiche hervorragend gebildete, intelligente Menschen. Selbstverständlich löste allein ihre Anwesenheit eine Revolution aus: in den Ortschaften entstanden Chöre, dramaturgische Kreise, man organisierte Konzerte, und die Leute fingen ganz einfach an, gute Bücher zu lesen. 2011-2012 wurde vom Kultusministerium der Region Krasnojarsk sowie der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation die Sonderaktion „Verfolgte Akteure aus dem Bereich der Kultur und Kunst in der Geschichte und Kultur der Region Krasnojarsk“ durchgeführt. Junge Leute schrieben Forschungsarbeiten über Menschen, die nicht aus freiem Willen in die Region gerieten und die Welt der Kultur mit hierher brachten. Es wurde ein Almanach herausgegeben „Gute Taten, schwierige Schicksale. Verfolgte Akteure aus den Bereichen der Kultur und Kunst in der Geschichte der Region Krasnojarsk“.
In der Region Krasnojarsk existierten das Norillag und das Kraslag. Das Norillag wurde geschlossen und seine Akten an die Staatliche Verwaltung des MWD in der Region übergeben. Das Kraslag existiert noch, heißt aber heute anders und gehört zur Staatlichen Verwaltung des Föderalen Strafvollzugsdienstes, wo die Akten des Kraslag verwahrt werden.
Außerdem gab es einige Abteilungen des Siblags (es lag auf dem Territorium des Gebiets Kemerowo) und des Oserlags (im Gebiet Irkutsk), außerdem das „Bauprojekt N° 503“, alle glauben, dass es zum System des Norillag gehörte, aber das ist nicht der Fall. Es handelte sich dabei um ein selbständiges Objekt. Und die damit im Zusammenhang stehenden Dokumente lagern heute in der Republik Komi.
Dmitrij Trapesnikow
„Russischer Planet“, 03.09.2014