Laut offizieller Statistik wurden 50.000 Einwohner der Region Krasnojarsk zwischen 1929 und den 1960er Jahren verhaftet und verbüßten ihre Strafen in Stalins Gefängnissen und Lagern. 18.000 von ihnen wurden erschossen.
Doch gab es noch viel mehr Opfer politischer Repressionen. Da waren auch noch die Verbannten, sowohl die Sonderansiedler, als auch jene, die in Gebiete außerhalb der Region verschleppt wurden. Bis heute hat die Staatliche Verwaltung für innere Angelegenheiten bereits 500.000 Rehabilitationsbescheinigungen ausgegeben.
„Die Stimmung ist nicht schlecht, ringsherum die nördliche Taiga, eintönig, aber
im Wal ist es schön. Ich zersäge Brennholz, hier sind viele Menschen, und alle
schwirren wie die Ameisen durcheinander. Meine Haare sind ganz grau geworden,
auch mein langer Bart ist ergraut.
Ich küsse euch alle ganz kräftig. Euer Papa“.
Alexander Jaworskij, Wissenschaftler, Heimatkundler, Künstler, Gründer und erster Direktor des Naturschutzparks „Stolby“, geriet 1937 zwischen die Mahlsteine des Stalinistischen Systems. Er wurde verhaftet, der antisowjetischen Agitation angeklagt und verbrachte 10 Jahre in Lagern. Im Wjatlag schrieb er das Gedicht „Stolby“. Und in den Briefen an seine 10-jährige Tochter Alewtina versuchte er das zu geben, was dem Mädchen ohne seinen Vater fehlte. Ständig fragte er sie, wie es mit dem Lernen in der Schule ginge, wollte wissen, was um sie herum geschehe, was sie beunruhige. Nach seiner Freilassung kehrte Alexander Leopoldowitsch nach Krasnojarsk zurück. Doch 1948 wurde er erneut verhaftet und zu unbefristeter Verbannung verurteilt. Es gelang ihm, bis zu Stalins Tod zu überleben und mit in die erste Rehabilitationswelle hinein zu kommen – im August 1954 wurde er freigelassen.
„Häufig sehe ich dich im Traum, du kommst mir schon recht groß vor. Nun bist
du schon im dritten Jahr des Waisen-Daseins, und wer weiß, wann das alles endet.
Verliere nicht den Mut, sei stark und lerne fleißig, kämpfe standhaft gegen alle
Schwierigkeiten an. Und nimm den letzten väterlichen Rat entgegen. Liebe deine
liebe Mamotschka, so wie du es immer getan hast.
Ich küsse euch immer wieder. Papa“.
Diese Worte schrieb Jonathan Diestergoft seiner Tochter Nina. 1937 wurde er aufgrund einer Anklage wegen der Schaffung einer antisowjetischen Organisation zu 10 Jahren verurteilt. Er geriet ins Amurlag, später kam er mit einer Häftlingsetappe ins Soroklag (ASSR Komi). Diestergofts Frau Maria Dmitrijewna wurde im August 1941 wegen des Verdachts antisowjetische Agitation betrieben zu haben verhaftet. Und Nina schloss man als Tochter eines Volksfeindes aus dem medizinischen Institut aus. Jonathan Gottliebowitsch schrieb der Tochter rührende Briefe in Gedichtform, auf der Rückseite seiner Fotos vermerkte er Ermahnungen „Vergiss uns hier im fernen Norden nicht und lass nicht zu, dass jemand uns die Augen aussticht. Vielleicht begegnen wir uns noch einmal“. Zu jener Zeit kam es nicht selten vor, dass man „Volksfeinden“ auf Fotos die Augen ausstach. Im Dezember 1941 starb Diestergoft im Lager, rehabilitiert wurde er erst 1955.
Das sind nur zwei Schicksale. Aber es waren so viele – die bei lebendigem Leibe in den Lagern verfaulten, vernichtet, erniedrigt wurden… Allein nach offiziellen Statistiken durchliefen 50.000 Einwohner der Region Krasnojarsk zwischen 1929 und den 1960er Jahren Stalins Lager. Über sie erzählt die Ausstellung, die gerade im Zentrum für Kulturhistorischen Zentrum eröffnet wurde. Die Geschichte der Häftlinge der stalinistischen Lager, die von ihnen selbst mit Hilfe von Briefen erzählt wird, welche sie ihren in Freiheit lebenden Kindern schickten. Es sind ungewöhnliche Briefe: mit eingefügten Zeichnungen, handgefertigten Arbeiten, ausgedachten Erzählungen, Märchen. Die von ihren Angehörigen fortgerissenen Menschen versuchten, mit ihren Kindern in Verbindung zu bleiben, Einfluss auf sie zu nehmen, sie zu erziehen, indem sie ihnen ihre Liebe und Fürsorge gaben. So verwandelte beispielsweise der Gefangene der Solowki-Inseln, Aleksej Wagenheim, Organisator und erster Leiter des vereinten hydrometeorologischen Dienstes in der UdSSR, seine Briefe an die Tochter in ein Herbarium von auf der Insel wachsenden Pflanzen und ein Lehrbuch für Arithmetik. Professor Gawriil Gordon schickte seinen Kindern zwei Hefte – in der Art eines Traktats zur Weltgeschichte und Philosophie. Wladimir Lewitskij, Vorsitzender der philatelistischen Gesellschaft, verfasste für seinen Sohn ethnografische Essais, versah die Briefe mit Zeichnungen von Briefmarken. Von sieben Personen kehrten nur zwei zu ihren Familien zurück. Doch eine derartige „Erziehung aus der Ferne“ war nicht umsonst. Ihre Kinder setzten die Tätigkeiten ihrer Väter fort – sie wurden Wissenschaftler, Pädagogen, Forscher, Philatelisten.
Swetlana Chustik
„Argumente und Fakten am Jenissei“, 17.09.2014