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Der Vorsitzende von „Memorial“: Das Hauptproblem der Russland-Deutschen ist der Verlust der Identität

Darüber, wie die Russland-Deutschen sich heute verstehen und wie man sich ihnen gegenüber in der Gesellschaft verhält, erzählte Aleksej Babij, der das Leben der Deutschen erforscht hat, die in der UdSSR Repressalien ausgesetzt werden.


Ethnische Deutsche bei der Abgabe von Ausreise-Dokumenten im deutschen
Konsulat in Moskau (1992)

Die Repressalien in der Sowjetunion unterschieden sich dadurch, dass an ihnen nicht nur einzelne Menschen, Familien litten, sondern auch ganze Völker. Im letzten Fall bestand die Haupt-“Schuld“ der Repressionsopfer ausgerechnet darin, dass sie einer ganz bestimmten Volksgruppe angehörten. Auf diese Weise wurden die Russland-Deutschen, die bis zum Beginn der Deportationen in Siedlungen entlang der Wolga, im Gebiet Odessa und anderen Regionen gewohnt hatten, aus ihren angestammten Wohnorten herausgerissen und nach Sibirien verschickt. Der Vorsitzende der „Memorial“-Gesellschaft in Krasnojarsk, Aleksej Babij, der speziell das Problem der Rehabilitationen der in der Sowjetunion verfolgten ethnischen Deutschen erforschte, berichtete in einem Interview mit der Deutschen Welle (DW) darüber, wie sie heute leben.

DW: Wie verlief die Rehabilitation der ethnischen Deutschen, die in der UdSSR Repressalien ausgesetzt waren?

Aleksej Babij: Die kennzeichnende Besonderheit der Rehabilitation der ethnischen Deutschen in Deutschland war, dass sie keinerlei Schwierigkeiten mit Dokumenten hatten, die den Tatbestand der Repressalien bewiesen, was bei anderen Massen-Deportationen, insbesondere bei der Enteignung der Großbauern, nicht der Fall war. Melde-Dokumente der Deutschen sind bei der GUWD hervorragend aufbewahrt worden, und das sogar, obwohl es im Jahre 1959 eine Direktive gab, die vorschrieb, alle Schriftstücke zu vernichten, welche den Zeitraum der Repressionen im Zusammenhang mit der Verjährungsfrist für ihre Aufbewahrung betrafen. Aus diesem Grund tauchen mit der eigentlichen Rehabilitation der ethnischen Deutschen in Russland und vor allem mit ihrer juristischen Seite keinerlei Probleme auf: auf Ansuchen nimmt man die Dokumente entgegen und stellt sogleich die Bescheinigung aus.

- Aber die Rehabilitation beschränkt sich doch nicht allein auf die Ausgabe eines Dokuments?

- Doch, das ist so. Das Problem der ethnischen Deutschen besteht darin, dass man sie lange Zeit, über ganze Generationen hinweg, nicht an jene Orte zurückkehren ließ, aus denen sie nach Sibirien deportiert worden waren. Im Zusammenhang damit konnten die verfolgten Deutschen auch nicht in ihr gewohntes, wohlgeordnetes Leben zurückkehren, in das Leben, das sie beispielsweise an der Wolga, im Gebiet Odessa und anderen Gegenden geführt hatten, wo es dicht beieinander liegende Siedlungen ethnischer Deutscher gegeben hatte. Deswegen sind die ethnischen Deutschen heute nicht nur im gesamten Land, sondern in der ganzen Welt verstreut.

- Wie würden Sie die Einstellungen gegenüber den ethnischen Deutschen in der Gesellschaft heute charakterisieren?

- Die Einstellung ist nicht wirklich negativ, aber man kann auch nicht sagen, dass es überhaupt keine Probleme gibt. In Russland hält man sie nach wie vor für Deutsche. Und wenn heute in diesem Wort schon nicht mehr dieser negative, beschimpfende Sinn liegt, wie es zu Sowjetzeiten, und hier ganz besonders in den Nachkriegsjahren, der Fall war, existiert doch ein gewisses Maß an Verfremdung in dieser Definition. Zudem bezeichnete man sie in Deutschland, wohin viele ethnische Deutsche aus Russland ausreisten, nachdem sie die Möglichkeit dazu bekommen hatten, als Russen und hielt sie auch für solche. Das heißt – es gelang nicht allen, die dorthin ausreisten, in der Heimat ihrer Vorväter „sie selbst“ zu werden. Im Großen und Ganzen sind viele derer, die in ihrer historische Heimat Fuß fassen wollten, irgendwann wieder nach Russland zurückgekehrt.

- Und wie sieht heute das Leben der ethnischen Deutschen in Russland aus?

- Die ethnischen Deutschen in Russland heute – das ist ein ruheloses, überall im Lande verstreutes Volk. Die heutige Generation, also die Enkel und Urenkel der einst zu Sowjetzeiten deportierten Deutschen, haben Kultur, Sprache und Traditionen nicht beibehalten, was ja eigentlich die Zugehörigkeit des Menschen zu einer Volksgruppe definiert. Die Mehrheit der jungen Russland-Deutschen spricht die Sprache der Vorfahren schon nicht mehr, liest keine Bücher in deutscher Sprache. Ich würde sagen, dass ihr Hauptproblem heute der Verlust der Identität ist.

Dabei haben sie den Hang zur Ordnung bewahrt. Bei uns in der Region Krasnojarsk leben bis heute viele Wolga-Deutsche. Praktisch in jedem Dor gibt es wenigstens eine deutsche Familie. Also – in welchen Häusern Deutsche leben, kann man unfehlbar an den eingezäunten Vorgärten erkennen. Das ganze Dorf kann verwildert und ungepflegt sein, aber ein, zwei Häuser stehen akkurat da, mit Blumen in den Vorgärten und einem stets gepflegten Grundstück. Wenn du auf ein solches Haus stößt, kannst du ganz sicher sein: da wohnen Deutsche. Ich habe es ausprobiert.

Deutsche Welle, 27.09.14


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