1987 starteten zwei Jurijs, der Journalist Schtschechotschichin und der Menschenrechtler Samodurow, einen Aufruf an die „Literatur-Zeitung“, um in der gesamten UdSSR Unterschriften für die Errichtung eines Denkmals zu Ehren der Opfer politischer Repressionen zu sammeln. Die Notiz wurde zum Katalysator für die Entstehung von „Memorial“ und veränderte das Schicksal tausender Menschen in der UdSSR. Einer von ihnen war auch Aleksej Babij, damals oberster wissenschaftlicher Mitarbeiter und Geschäftsmann, und heute – Vorsitzender der „Memorial“-Gesellschaft und Vorstandsmitglied der internationalen „Memorial“-Organisation.
- Aleksej, sie hatten eine Arbeit, die Ihnen gefiel, Business und die ersten erfolgreichen literarischen Versuche. Wozu war nun auch noch die Geschichte der politischen Repressionen nötig?
- Mich hat dazu der Gründer des Krasnojarsker „Memorial“, Wolodja Birger, angeregt. Wir lernten uns im Literaturstudio „Debut“ bei Eduard Iwanowitsch Russakow, kennen. Ich betätigte mich dort, und Wolodja kam, um Unterschriften für die Aufstellung eines Gedenksteins zu sammeln. Sein Vater hatte im Norillag gesessen.
- Haben Sie an ein erfolgversprechendes Ergebnis der Unterschriftenaktion geglaubt? Konnten sie auf die Verabschiedung einer signifikanten Entscheidung Einfluss nehmen?
- Sie haben sogar noch mehr bewirkt – sie haben nämlich geistesverwandte Menschen im ganzen Krasnojarsker Gebiet miteinander verbunden. Die Unterschriften-Sammlung hat uns vereint, wir waren bereit, weiter zu handeln, es wurden sogar Vorschläge laut, die für die damalige Zeit ziemlich aufrührerisch klangen – warum Opfern der Repressionen nicht ebenso Vergünstigungen zugesprochen werden sollten, wie den Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges. Aber in erster Linie wollten alle das Schicksal der repressierten Menschen recherchieren..
Ich hatte zu dem Zeitpunkt etwas über meine Verwandten erfahren. Meine Mutter konnte sich an ihrer Eltern kaum erinnern: „Papa war wohl Dirigent, ich weiß noch, wie er mit dem Rücken zu mir dasteht und mit einem Stöckchen die Hand vor einem Orchester hin und her bewegt; und ich glaube Mama war Lehrerin“. Beide wurden verhaftet, als meine Mama noch nicht einmal sechs Jahre alt war. Zur Zeit des Tauwetters schrieb sie Gesuche, erhielt eine Bescheinigung darüber, dass sie im Lager gestorben waren. Und dann begann ich zu suchen. Ihre Akten einsehen konnte ich damals nicht, denn es gab noch keinen Zugang zu ihnen, aber ich konnte ermitteln, dass Großvater im Radiokomitee arbeitete und die Großmama im Haus der Kinderkreativität unterrichtete.
- Aber war es denn nicht riskant, Informationen über repressierte Verwandte zu suchen? Immerhin waren das doch Volksfeinde.
- Damals war das schon nicht mehr so; man hatte mir sogar vor dem Eintritt in die mathematische Fakultät im Jahre 1971 den Rat gegeben, im Fragebogen anzugeben, dass die Großeltern Repressionsopfer waren, weil mir das einen gewissen Vorteil verschaffen könnte.
Aber ich habe nicht nur die Unterdrückungsgeschichte der Familie aufgerollt, sondern auch die bürgerlich-zivile. Es hat sich herausgestellt, dass wir eine Dynastie von Lehrkräften waren, die bei mir endete. Die Urgroßeltern unterrichteten bei der KWSchD (der Chinesisch-Östlichen Eisenbahnlinie). Aus Jekaterinoslaw (dem heutigen Dnjepropetrowsk) bestellte man sie nach Charbin, wo es viele Russen gab.
1928, als aus China mit der Aussiedlung der sowjetischen Bediensteten der KWSchD begonnen wurde, musste man sich entscheiden, was nun weiter geschehen sollte. Sie gerieten in einen heftigen Streit, weil es den Urgroßvater in die Heimat, nach Russland, zog, während die Urgroßmutter der Meinung war, dass man nach Amerika reisen sollte. Schließlich reiste die Urgroßmutter mit einer ihrer Töchter in die USA, während der Urgroßvater sich mit der anderen, meiner Großmama, in die UdSSR begab. Urgroßmama eröffnete ein Gymnasium und führte ein gedeihliches Leben; der Großvater aber wurde 1937, als man alle Mitarbeiter der KWSchD der Spionage zu Gunsten Japans beschuldigte, inhaftiert; bis heute konnte ich nicht feststellen, wie und wo er gestorben ist. Und seine Tochter, meine Großmama, wurde zusammen mit dem Großvater erschossen. Das fand ich schon heraus, nachdem die KGB-Archive geöffnet worden waren.
Wir begriffen, dass man sich, abgesehen von dem Denkmal, auch mit dem Recherchieren der Schicksale der Menschen befassen musste. So wurde auch die erste Bezeichnung geboren – „Die Schicksale der Menschen“ („zum „Memorial“ wurden wir etwas später, als die allrussische Gesellschaft entstand). Zur ersten Amtssache wurde die Kartothek. Auf perforierten Karten. Wir hatten noch nicht einmal eine Vorstellung davon, auf was für einen Umfang an Informationen wir stoßen würden. Die ersten zehn Karten füllten wir bei Wladimir Sirotinin aus, der unserer Gesellschaft voranstand. Heute umfasst diese Kartothek 130.000 Personen – alles Menschen, die mit den Repressionen in der Region Krasnojarsk im Zusammenhang standen. Tatsächlich aber sind es über eine Million.
Der „Krasnojarsker Komsomolze“ stellte uns einen Raum zur Verfügung, in dem wir unsere Sprechstunden abhalten konnten. Es kamen viele Menschen, ein Großteil von ihnen suchte verloren gegangene Verwandte, wollte Einzelheiten über ihre Schicksale erfahren; andere brachten ihre Materialien mit – Fotografien, Dokumente. So entwickelte sich unser Bestand. Dann dachte Birger darüber nach, ob man eventuell Leute befragen sollte. Als jemand mit einem interessanten Schicksal auftauchte, befragten wir ihn zu allem, zu den kleinsten Einzelheiten des Alltagslebens. Damals waren die Leute noch am Leben, die Verfolgung, Verbannung und Gefängnisaufenthalte durchgemacht hatten und konnten davon erzählen.
- Hatten sie den keine Angst das zu tun?
Es gab immer solche, die sich an diese Zeit nicht erinnern wollten – es fiel ihnen einfach zu schwer. Doch in dieser Hinsicht stellten die 1990er Jahre einen glücklichen Zeitraum dar.
Stellen Sie sich vor, man hätte sie einst wegen nichts und wieder nichts zum Volksfeint erklärt, sie hätten Ihr Leben lang diesen Stempelaufdruck mit sich herumgetragen, und plötzlich fängt man dann an sie zu befragen. Ausgerechnet 1991 wurde das Rehabilitationsgesetz verabschiedet. Die Rehabilitierten bekamen irgendwelche Vergünstigungen zugesprochen (Krasnojarsk war dabei eine der ersten Städte in Russland). Man fing an, sie gemeinsam mit Kriegsveteranen zu Veranstaltungen einzuladen, menschliche Aufmerksamkeit zu zeigen. Zum ersten Mal fühlten sie sich als vollwertige Staatsbürger.
Ganz allgemein verhält man sich in Krasnojarsk diesem Thema gegenüber besser. Chloponin fasste den Beschluss über die Finanzierung der Ausgabe des „Buches der Erinnerung“. Es handelt sich dabei um Namenslisten von Repressierten mit einer Kurzbiographie zu jeder genannten Person. 11 Bände sind bereits herausgekommen.
- Wofür braucht man das?
- Viele wurden nicht nur körperlich vernichtet, sondern man versuchte auch, jede nur erdenkliche Erwähnung dieser Person auszulöschen, als ob es ihn buchstäblich nie gegeben hätte: Veröffentlichungen wurden aus Sammelwerken herausgerissen, Fotos von Menschen entfernt. In Familien-Fotoalben fand übrigens die gleich Geschichte statt: die Leute hatten oft Angst davor, die Fotos ihnen nahestehender Verwandter aufzubewahren.
Der zweite Grund war eher praktischer Natur – er diente nämlich dazu, Spekulationen über die Anzahl der Repressionsopfer im Keim zu ersticken. Die einzige Möglichkeit sie zu erfassen war – sie nach ihren Familiennamen einzelnen aufzuschreiben. Ich kann sagen, dass in unserer Region seit 1920 mindestens 50.000 Menschen verhaftet wurden. Sie alle sind mit ihren Nachnamen in unseren Büchern der Erinnerung genannt.
Oder eine andere Zahl: nachdem Erscheinen des Rehabilitationsgesetzes begann unsere Staatliche Verwaltung für innere Angelegenheiten für die Region Krasnojarsk mit der Rehabilitierung der auf administrativem Wege verfolgten enteigneten, deportierten Deutschen und Kalmücken, ehemaligen Kriegsgefangenen usw. Innerhalb von 20 Jahren haben sie mehr als 540.000 Personen rehabilitiert. Und diese Zahlen sind nicht aus der Luft gegriffen, sondern wurden anhand der tatsächlichen Anfragen ermittelt. In jeder Bescheinigung stehen die konkreten Nach-, Vor- und Vatersnamen. Aber viele haben sich in Sachen Rehabilitierung noch nicht an die Behörde gewandt. Ich habe die Listen der Enteigneten zum Vergleich auf die Listen der in der Region Rehabilitierten gelegt; nur jeder Zehnte einer Familie, in manchen Bezirken jeder Fünfte, erhielt seine Rechte zurück.
- Welches war der am meisten verbreitete Anlass für die Repressionen?
- Die Repressionen waren vor allen Dingen gegen die Bauernschaft gerichtet. Die Enteignung ist bis heute selbst für Forscher eine terra incognita, und umso mehr ist sie es für die Bürger. Wir können keinen Historiker finden, der zum „Buch der Erinnerung“ einen einleitenden Artikel über die Entkulakisierung hätte schreiben können.
- Wer galt als Kulak (Großgrundbesitzer; Anm. d. Übers.)?
Jemand, der Lohnarbeiter oder Tagelöhner einstellte. Oder wenn bei ihm eine, wenn auch nur kleine, Form von Produktion stattfand, angefangen mit dem Vorhandensein eines Milchentrahmers, einer Mühle, einer Kornschwinge. In Archiv-Dokumenten begegnet man häufig der Formulierung „wegen Nutzung landwirtschaftlicher Maschinen“. Allein der Tatbestand, dass eine Mühle oder ein Fleischwolf vorhanden waren, zeugte bereits von einem verdächtigen Niveau an Erträgen.
Bei uns sagte man üblicherweise: die Bauern-Enteignung begann deswegen, weil die Dorf-Armen sich gegen jene erhoben, die wohlhabender waren als sie. Und wie reagierte die Armut in Wirklichkeit? Sie schrieb Briefe: „ Wir, die Bauern aus dem Dorf Soundso, sind der Meinung, dass N. ungerechterweise verbannt (seiner Rechte enthoben) wurde, weil …“ und dann folgten die unterschiedlichsten Erklärungen. Beispielsweise warb einer einen Knecht an, der sich um das Kind kümmern sollte, weil die Frau gerade ein weiteres Kind bekam oder erkrankt war. Und weiter – die Bitte, den Ausgewiesenen zurück in sein Dorf zu schicken, damit man dort für ihn bürgte. Der Brief ist nicht sonderlich lang, aber das gesamte restliche Blatt im Format DIN A 4 ist auf beiden Seiten mit Unterschriften vollgeschrieben, einige hundert; für gewöhnlich unterschrieb das ganze Dorf.
- Zu der Zeit war das Unterzeichnen solcher Briefe ein Verbrechen…
- Ja, in der Reihenfolge schlimmer als der heutige „Sofa-Heldenmut“. Wenngleich Ende der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nichts auf die Gräueltaten des Jahres 1937 hindeutete, und die Bauern sich beschützt und relativ unabhängig fühlten. Sie lebten innerhalb ihrer Dorfgemeinschaft, das heißt in der Kommune, die stark war und alle wichtigen Entscheidungen traf.
- Wie war die Reaktion auf solche Briefe?
- Es gab keine. Ich habe 6000 Akten durchgesehen und kenne nur einen einzigen Fall, bei dem auf der Sitzung des Bezirksexekutiv-Komitees das Gesuch eines Bauern erörtert und die Verbannung für diesen Menschen offiziell aufgehoben wurde. In allen übrigen Fällen ließ man die Briefe einfach bei den Dorfräten liegen und wies die Leute aus.
- Und wohin kann man Menschen aus Sibirien verbannen?
In den Norden. Aber da man nur wenig Geld für die Umsiedlung zugeteilt bekam, jagte man sie häufig nur in den Nachbarbezirk: aus dem Abansker Bezirk in den Bogutschansker, aus dem Bogutschansker nach Ewenkien oder Schitkino, das damals zum Irkutsker Gebiet gehörte. Im Wesentlichen dorthin, wo die Ausführung großer Bau- oder Produktionsprojekte beabsichtigt war. Aber es geht nicht nur darum, dass man die Menschen aus ihren heimatlichen Orten fortriss. Man beschlagnahmte auch ihren gesamten Besitz, der ihrer Lebensweise jahrhundertelang standgehalten hatte. Sie waren daran gewöhnt, sich selber zu versorgen, und nun sollten sie plötzlich auf irgendjemandes Anweisung hin Arbeiten verrichten.
Ganz zu schweigen von den Lebensbedingungen. Die Leute wurden oft in die wildesten, unwirtlichsten Gegenden geschickt, in denen sich nicht einmal eine Behausung fand. Während sie sich damit abquälten eine Erdhöhle auszuheben oder eine Baracke zu errichten, starben in der Regel ihre kleinen Kinder und die alten Leute.
Und hier findet sich ein weiterer scharfer Kontrast: während der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik gab man den Bauern endlich ein Stück Land und ließ sie in Ruhe. Sie rafften sich auf, gewannen an Kraft, und von 1920 bis 1930 bauten sich viele ärmer Familien eine Hofwirtschaft auf, schafften sich technische Gerätschaften an. Und aus dieser Situation warf man die Leute in eine ganz andere – in der es kein Essen gab, keinen Schutz vor der Kälte und unfreiwillige Arbeit …
- Sie befassen sich mit dieser Thematik seit 26 Jahren, ein ganzes Leben lang. Was treibt Sie dazu an?
- Lange Zeit war „Memorial“ nicht meine wichtigste Beschäftigung. Gleichzeitig war ich in Business-Angelegenheiten involviert, entwickelte Lern-Methoden, um den Menschen die Arbeit mit dem Computer nahe zu bringen, dann kam das Internet, dem ich aus lauter Dummheit fast vier Jahre widmete.
- Wieso aus lauter Dummheit? Das ist interessant.
Heute habe ich meine Einstellung dazu geändert. 1998 waren wir der Meinung, dass das eine total revolutionäre Sache sei, buchstäblich ein elektronisches Grenzland, ein Territorium der Freiheit. Es gab nur wenige Leute damals, die mit diesem damals engen Raum Umgang hatten, und sie waren alle Persönlichkeiten. Zum Jahr 2000 strömte…. sagen wir, ein unterschiedliches Publikum ins Internet. Und alles wurde dort schlecht gemacht. Auf der einen Seite fingen die Projekte an sich zu bewähren, jener Internet-Läden; andererseits – musste man sich vor dem Internet auch schützen.
Das Internet verfügt leider über Eigenschaften, welche die Person entstellen: jene Anonymität, Distanziertheit oder der Effekt des Artilleristen, wenn du lebendige Menschen als abstrakte Personen wahrnimmst. Und dieses oberflächliche Empfinden – wie mit einem Spatzenhirn. Das heißt, der vom Internet erzogene Mensch – ist ein Wesen, der zu keiner tiefen Wahrnehmung fähig ist, nicht in der Lage ist zu analysieren, usw.
- Sind Sie der Ansicht, dass das Internet entsittlicht? Sind das nicht Eigenschaften konkreter Menschen, die auch ohne Internet nicht tiefgründig denken könnten?
- Nein. Das Internet entsittlicht tatsächlich. Für mich selber urteile ich folgendermaßen: sobald ich angefangen hatte, das Internet intensiv zu nutzen, hörte ich auf Bücher zu lesen. Und es wäre gut gewesen, einfach auf die elektronische Variante umzusteigen – aber nein. Die Wahrnehmung des Textes war eine ganz andere. Mein Lieblingsbuch war lange Zeit „Das Glasperlenspiel“ von Hesse; irgendwann beschloss ich, es noch einmal zu lesen, aber … ich konnte nicht. Die Gedanken ringelten sich auf eine ganz andere Weise zusammen. Für das Internet wird auch ganz anders geschrieben – kurz, strukturiert. Alles nimmt den Weg der Vereinfachung.
Die ganze Zeit war ich bei „Memorial“ mehr in finanzieller Hinsicht tätig, half mit Ressourcen, war verantwortliche für die Schaffung, Unterhaltung und den Fortbestand der Web-Seite, die bis heute in unserer Arbeit eine wichtige Rolle spielt. Und die Jungs haben die Archive durchgepflügt, Befragungen durchgeführt, Ausstellungen vorbereitet… Sie haben eine Menge getan. Wolodja Birger ist vor zwölf Jahren verstorben, doch ich bin bis heute dabei sein Archiv auszuwerten. Wowa hat tausenden von Menschen geholfen: er schrieb Gesuche, wandte sich an die Gerichte. Er war ein Musterbeispiel von einem Menschen.
Als Birger starb und Sirotinin krank wurde und ich vom Internet hinreichend enttäuscht war, da konnte ich meine Arbeit zu 100% in „Memorial“ einbringen. Gerade zu dem Zeitpunkt erhielten wir von der Regionsverwaltung den Bescheid über die Herausgabe des „Buches der Erinnerung“, und seitdem stellen wir jedes Jahr einen neuen 500-Seiten-Band fertig. Exemplare des Buches gibt es in allen Bibliotheken und natürlich stellen wir auch die gesamte Information auf unsere Internetseite. Ein Teil der Auflage schicken wir den Angehörigen von Repressierten.
- In den Jahren ihrer Arbeit in den Archiven sind an Ihnen so viele verstümmelte Schicksale, so viele Ungerechtigkeiten vorübergezogen. Hat es Ihnen nicht das Herz zerrissen?
Das hängt vom Charakter ab. Birger war ein vollkommen phlegmatischer Mensch, der äußerlich keinerlei Emotionen zeigte, aber er ließ alles bis zu seinem Innersten vordringen; vielleicht ist das auch der Grund, weshalb er einem Infarkt erlag, obwohl er noch keineswegs alt war. Sirotinin dagegen ist ein Choleriker, und er hat Schreckliches durchgemacht. Seine Frau hat erzählt, wie er gelegentlich nachts aus dem Bett auffuhr, durch die Wohnung lief und ihr, außerstande es für sich zu behalten, furchtbare Einzelheiten aus den Akten berichtete.
Ich bin der Pragmatischste aus der ganzen Mannschaft und kann mich deshalb ausschließen. Die meisten ungewöhnlichen Sujets, einzigartigen Dokumente… Ich hoffe, dass ich, wenn unsere Epopöe mit dem „Buch der Erinnerung“ zu Ende ist, etwas Publizistisches darüber schreiben werde, was ich erfahren habe.
So konnten beispielsweise gemäß den damals geltenden Instruktionen auszusiedelnde Eltern ihre Kinder in die Obhut von Verwandten oder sogar einfach nur Bekannten geben. Und diese Aktion wurde in einer Empfangs- und Übergabe-Bescheinigung festgehalten: „Ich, Soundso, übergebe mein Kind… Ich, Soundso, nehme das Kind in meine Obhut und verpflichte mich, es bis zur Volljährigkeit zu ernähren und zu erziehen…“. Bei meiner Arbeit im Aginscker Archiv stieß ich auf einen ganzen Ordner solcher Aktennotizen, die einfach nur auf Papierfetzen geschrieben worden waren. Und als ich sie vor mir ausbreitete, lief mir ein Schauer über den Rücken. Vor meinen Augen erschienen diese Mütter, die ihre Kinder abgegeben hatten. Und es ging ein so unsägliches Grauen von diesen Blättern aus…
Oder die Geschichten ganz konkreter Menschen. Ein kinderloses Par wurde enteignet, weil bei ihnen ein Knecht arbeitete. Man wies sie aus, und der Knecht fing an, einen Brief nach dem anderen an das Bezirksexekutiv-Komitee zu schreiben, dass er überhaupt kein Knecht sei, sondern wie ein Sohn in die Familie aufgenommen worden wäre: sie hätten so lange für ihn gesorgt und ihm bei Volljährigkeit versprochen, ihm einen Teil des Hofes zuzuteilen. Zwei Jahre lang schrieb er immer wieder. Und dann bekam er die offizielle Antwort: da du so beharrlich behauptest ihr Sohn zu sein, bist du also Mitglied einer enteigneten Familie und die gleichen Maßnahmen sind auch auf dich anzuwenden. Und sie siedelten ihn aus.
- Die Arbeit mit derartigen Geschichten zwingt einen, das Leben anders zu betrachten…
- Ja, du fängst an, gewisse Mechanismen zu begreifen. Aber im Großen und Ganzen hat mir meine Ausbildung die nüchtern-vernünftigen Ansichten auf das Leben verschafft. Schließlich glaubt die wahre Mathematik niemandem etwas. Mathematik – das ist eine ganz andere Denkweise, eine andere Art der Wahrnehmung der Wirklichkeit und Verarbeitung von Informationen.
Ich habe fünf Jahre lang Mathematik studiert, wurde jedoch innerhalb eines einzigen Tages zum Mathematiker. Ich absolvierte meine Vorprüfung in der Theorie der Mengenlehre und begann meine Antwort mit: „Nehmen wir das Infinum…“. Der Lehrer fällt mir ins Wort: „Und – hat den jede Menge ein Infinum? Beweisen Sie es“. Zwei Stunden trödelte ich herum, bewies – dann fahre ich fort: „Und jetzt nehmen wir das Infinum…“. Wieder unterbricht mich der Lehrer: „Welches der Infinima nehmen Sie? Beweisen Sie, dass es nur ein einziges gibt!“ Wieder quälte ich mich ab, aber ich bewies. Und ein weiteres Mal wurde der Beginn meiner Antwort vom Lehrer unterbrochen: „Und Sie sind überzeugt, dass Sie es begreifen?“ Ich dachte bis zum Abend nach. Es war schon dunkel und alle waren längst auseinander gegangen. Ich gab auf:
- Ich kann es nicht beweisen.
- Richtig. Es ist eine Frage des Kontinuums, es ist in mehreren Jahrhunderten nicht gelungen, das Problem zu lösen.
- Warum haben Sie mir die Aufgabe dann gestellt?
- Vielleicht wäre es Ihnen ja plötzlich gelungen.
In dem Moment geschah ij mir eine Wandlung. Seit der Zeit kann ich keiner Sache mehr Glauben schenken – jede beliebige Information, die ich erhalte, wird von mir erst einmal angezweifelt. Übrigens befand sich unter den Dissidenten eine unverhältnismäßig große Anzahl Mathematiker.
- Sind Sie der Ansicht, dass Dissidenz – effektiv ist?
- Je nachdem, was man darunter versteht. Es gibt Menschen, die immer querschießen. Ich weise nicht alles zurück, was unser Stadt tut. Aber ich habe meine Meinung, und ich rücke nicht davon ab, ohne die Folgen und Umstände zu berücksichtigen.
Beispielsweise wandte ich mich Ende der 1970er Jahre Gott zu. Und als ich dieses Thema im Kollegenkreis ansprach, sah man mich schief von der Seite an; unter den Atheisten galt ich als Dissident. Umso mehr, als meine Vorstellung von Gott recht eigentümlich war – nicht orthodox, sondern eher tolstoistisch.
Später wurde der Glaube modern, viele Kollegen ließen sich taufen, besuchen den Gottesdienst. Und ich gehörte wieder zu den Dissidenten – denn ich gehe nicht in die Kirche, halte die Fastenzeit nicht ein. Aber ich habe mich in der ganzen Zeit nicht geändert.
Für mich waren die 1990er Jahre eine unglaublich interessante Zeit, es eröffneten sich zahllose Möglichkeiten. Wir setzten verrückte Projekte in Gang, und sie gelangen – oder auch nicht. Doch das war eine Frage der Kreativität. Und wir verdienten damals eine für uns unwahrscheinliche Menge Geld. Die Expedition nach Nordwik, und das liegt ganz im Hohen Norden, hinter Chatanga, wurde von allen zehn Forschern mit Leichtigkeit selber finanziert. Geld – ist immer nur ein Werkzeug für Projekte: humanitäre, Business, egal welche.
- Weshalb leisten dann heute Geschäftsmänner, die vergleichbar viel Geld verdienen, ungern Beiträge zu ähnlichen Projekten?
- Sie litten zu Sowjetzeiten Hunger. Wenn man sich dann einmal satt gegessen hat, darf es nicht mehr anders sein. Nehmen sie die boshafteste Gestalt des westlichen Business – Bill Gates. Es ist einfach die Hölle, wenn man dem Glauben schenkt, was im Internet geschrieben wird. Und er verließ die „Microsoft“-Führung, um sich mit humanitären Projekten zu befassen. Beispielsweise digitalisierte er alle Meisterwerke der bildenden Kunst.
- Wer hilft Ihnen bei der Arbeit?
- In der Region sind wir ein halbes Dutzend Leute. Aber die meisten sind schon sehr betagt, wenngleich einige von ihnen mitarbeiten – Swetlana Borisowna Sirotinina, zum Beispiel, die zehn Bände des Buches der Erinnerung „hinter sich her zieht“. Gut arbeiten die Leute in den Bezirken – beispielsweise im Jenisseisker, im Biriljussker. Aber am Buch der Erinnerung arbeite ich jetzt allein: es fanden sich keine neuen Enthusiasten. Ja, die Zeit lenkt in Richtung Pragmatismus.
- Wie definieren Sie sich heute?
- Inwiefern?
- Nehmen wir an, sie geraten in ein fremdes Land, wie stellen Sie sich dort vor?
- Ah! Als Humanitarier mit breitem Profil. Auch wenn ich von Beruf Mathematiker bin.
Ich hatte übrigens nach der Schule die ernsthafte Qual der Wahl, wohin ich mich wenden sollte: zur Journalistik oder … Astrophysik. Die Mathematik lag irgendwo dazwischen. Nach Abschluss der Staatlichen Krasnojarsker Universität war ich eine Zeit lang Technokrat, befasste mich mit mathematischer Soziologie, war überzeugt, dass es im Menschen nicht allzu viel Menschliches gibt.
Aber Dank Lew Tolstoi und der Arbeit D. Weizenbaums „Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft“ wurde ich zum Humanitarier. Als das Internet aufkam, war es für die meisten noch ein weiteres Mittel der Datenübertragung: es gab ein Protokoll, ein anderes – langweilig.
Aber als ich mir darüber klar geworden war, begriff ich plötzlich, was das für eine mächtige Sache ist, wie es das Leben eines gewöhnlichen Menschen, das gesellschaftliche Leben, verändern kann, was für ein Instrument des Schaffens es ist. Zu dem Zeitpunkt gab es in Krasnojarsk nur wenige Menschen, die das begriffen. Ich gehörte zu denen, die verstanden, weil ich eher Humanitarier als technischer Wissenschaftler war. Es ist lächerlich zu sagen – ich war Leiter eines erfolgreichen Web-Laboratoriums und kannte nur zehn Kennungen auswendig. Aber nicht die wichtigsten. Das Leben ist interessant, wenn es darin kreative Bestandteile gibt, wenn du selber etwas Neues schaffen kannst.
- Ist die Wahl zwischen Journalistik und Astrophysik nicht ziemlich seltsam für ein Jungchen vom Lande?
- Ich wuchs im Lehrer-Milieu auf. Von Kindheit an habe ich vielgelesen. Mit vier Jahren schrieb ich Mama einen Brief, als man mich zu Besuch zu den Großeltern geschickt hatte. Und als ich in die erste Klasse kam, flog Gagarin gerade in den Kosmos, danach Titow. Ein Haufen Bücher über den Kosmos wurden verlegt, Science Fiction. Ich war ganz wild auf Astronomie, baute mir selber ein Teleskop zusammen.
Daher wurde das Dilemma sofort erkannt. Und es ist gut, dass ich die Mathematik gewählt habe. Besonders, nachdem ich gelernt hatte, wie Journalisten leben und arbeiten, bedaure ich meine Entscheidung keineswegs.
- Gibt es irgendetwas, das Sie bereuen?
Wenn man von einigen Fehlern im persönlichen Leben absieht – dann ist es das leidige Trommelspielen. Man hat mich damals aus dem studentischen Vokal-Instrumental-Ensemble hinausgeworfen.
- Wie kam das denn?
- Sie nahmen mich auf, ohne vorher eine Hörprobe gemacht zu haben. Sie brauchten dringend einen Schlagzeuger. Und ich erbot mich auch einzuspringen. Nach der ersten Probe meinten sie zu mir: „Na, das verstehst Du wohl selber“… Ich legte die Stöckchen hin und ging. Wir hatten in der Schule „Caravan“ von Ellington und „Kleines Blümchen“ gespielt. Und die sangen laut “Venus” von Shocking Blue. Kränkend war das. Ansonsten ist im Leben alles gelungen. Absolut. Mit Ausnahme dieses einen Augenblicks. Unlängst habe ich mir eine Schlagzeug-Ausrüstung gekauft und über regelmäßig.
- Und was ist mit den Nachbarn?
- Deswegen stehen die Instrumente im Büro. An den Wochenenden trommle ich. Und jetzt schon viel besser, als in meiner Studentenzeit.
Aleksandra Kasanzewa
Sibirisches Forum, 16.10.2014