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Niemals dürfen wir die Vergangenheit vergessen

Norilsk verfügt über eine besondere Geschichte. Sie besteht aus Zeiten, die sich Schicht um Schicht aneinander gefügt haben. Seine Erschließung – der Beginn der Erforschung der Reichtümer der Taimyr-Region. Seine Geburt – der Bau der ersten Norilsker Unternehmen, die Förderung der ersten Nickelmengen. Und dann urplötzlich die Zeit des Norillag – menschliche Tragödien und Schmerzen, die man sich nur schwer vorstellen kann. Danach – die Zeit der Blüte, des aktiven Aufbaus der Stadt und des Kombinats. Eine Zeit großer Hoffnungen. Und eine Zeit der Erinnerung an jene, deren Schicksal zerbrochen wurde. Davor kann man nicht fliehen, das ist unsere Geschichte.

Am 30. Oktober wird in Russland der Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen begangen. Das Datum wurde zur Erinnerung an den Hungerstreik der Lager-Häftlinge gewählt, der an diesem Tag des Jahres 1974 in Mordwinien begann. Der Hungerstreik wurde von politischen Gefangenen zum Zeichen des Protests gegen die Repressionen verkündet. Im Oktober 1991 wurde auf Beschluss des Obersten Sowjets der RSFSR der 30. Oktober zum Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen erklärt.

Heute gibt es in einer Reihe von Regionen, unter anderem auch in Norilsk, Gedenk-Veranstaltungen, Versammlungen und Zusammenkünfte, an denen Politiker, Personen des öffentlichen Lebens, Menschenrechtler, ehemalige politische Häftlinge, Verwandte und Nahestehende jener Menschen teilnehmen, die in sowjetischen Lagern ihr Leben ließen.

Worin liegt seine Schuld, worin liegt meine Schuld?!

In der nördlichen Stadt existiert die gesellschaftliche Vereinigung „Schutz der Opfer politischer Repressionen“ seit 1991. Ihr erster Vorsitzender war Mitrofan Petrowitsch Rubeko, der einst selber zu den Gefangenen des Norillag zählte. Die Vereinigung wurde gegründet von der Internationalen „Memorial“-Organisation für Geschichtsaufklärung, die sie mit dem Studium der Geschichte des GULAG in Russland und unter anderem auch in Norilsk beschäftigt. Damals lebten in unserer Stadt etwa 300 politische Gefangene.

Seit 16 Jahren wird die Vereinigung von Jelisaweta Obst geleitet. Heute finden sich in ihr nicht nur ehemalige Lagergefangene, sondern auch Sondersiedler, die ebenfalls über keinerlei bürgerliche Rechte verfügten. Das Einzige, was sie und ihre Kinder von den Häftlingen Unterschied, war, dass sie nicht von Wachen begleitet wurden.

In der Stadt gibt es nur noch drei Häftlinge des Norillag. Einige sind auf das Festland umgezogen, andere weilen bereits nicht mehr unter den Lebenden. Sondersiedler, ihre Kinder und Kinder ehemaliger Gefangener von Konzentrationslagern gibt es hier - 250.

Damals wurden zum größten Teil nicht diejenigen ins Lager geschickt, die sich mit Politik befassten oder gegen die Staatsmacht kämpften, - erklärt Jelisaweta Obst, - sondern ganz gewöhnliche Menschen, die lediglich deswegen in die Gefängnisse geraten waren, weil sie, wie mein Vater, einer anderen Nationalität angehörten, oder jene, die, weil sie am Verhungern waren, nach der Ernte heimlich die in der Erde gebliebenen Kartoffeln ausgruben oder herabgefallene Ähren von den Feldern aufsammelten. In dem berüchtigten Art. 58 gab es 11 Unterpunkte. Damit konnte man jeden beliebigen Menschen zusammen mit seiner gesamten Familie auslöschen. Im Grunde genommen – was sage ich, ganze Volksgruppen waren es, die umgesiedelt wurden.

Die Repressionen gingen auch an der Familie Obst nicht vorüber.

Josef Obst ist der Nationalität nach Deutscher, und genau darin lag auch seine ganze Schuld. Bis 1941 lebt die gesamte Familie Obst in der Nähe von Kiew. Zu Beginn des Krieges wurde der zwanzigjährige Josef an die Front einberufen und 1943 direkt im Schützengraben verhaftet; er bekam acht Jahre Lagerhaft und wurde hierher, ins Norillag, geschickt. 1948 wurde er freigelassen und zur ewigen Sonderansiedlung in Norilsk bestimmt: ohne Pass, ohne das Recht auf Verlassen des Ortes und das Recht auf Briefwechsel. Er besaß keinerlei bürgerliche Rechte, ging aber ohne Wachbegleitung zur Arbeit. Hier, in den nördlichen Gefilden, liegt er auch begraben und erhielt, allerdings erst posthum, Dank der Bemühungen seiner Tochter, die Rehabilitation.


Jelisaweta Obst: „Die Menschen sollen sich erinnern und erfahren, wie es war“

- Meine Mama lernte er in Norilsk kennen, - erinnert sich Jelisaweta Obst. – Zu der Zeit wurde Papa bereits nicht mehr von Wachen begleitet. Meine Mama, Klaudia Pawlowna, war Kriegsteilnehmerin, ehemalige Funkerin an der Front. Sie war aufgrund einer organisierten Anwerbung hier her gekommen, um das Kombinat zu errichten, und so lernten sie sich kennen. Mama erinnerte sich, dass es damals praktisch keine Frauen in der Stadt gab, aber Bräutigame – da hatte man die freie Wahl, einfach beneidenswert.
Und was für Bräutigame – die klügsten Leute ihrer Zeit, weshalb sie auch zu leiden hatten.

Ich wurde in der Siedlung Norilsk geboren, bin also alteingesessene Norilskerin. Und da ich die Tochter eines ehemaligen Gefangenen war, dem man die Vorstrafen nicht erlassen hatte, wurden auch mir die bürgerlichen Rechte entzogen; allerdings wurde ich später, ebenso wie mein Bruder, rehabilitiert. Zum ersten Mal konnte Mama mich aus Norilsk herausbringen, als ich acht Jahre alt war und im Lande bereits die Tauwetter-Periode eingesetzt hatte.

In unserer Familie war nur die Mama Staatsbürgerin der UdSSR; sie arbeitete in der Fabrik im Labor, und Papa – sein Leben lang als Vorarbeiter auf dem Bau. Im Lager saß er zusammen mit Wassilij Nilowitsch Koljada, unserem bekannten Erbauer und ehemaligem stellvertretenden Direktor des Kombinats, der später Preisträger der Lenin-Prämie wurde. Für den Rest seines Lebens bewahrte Papa auch die Freundschaft mit Wladimir Janowitsch Pelmanis, die hinter dem Stacheldrahtzaun entstanden war. Nach dem Verlassen des Lagers unterstützten alle Insassen sich gegenseitig, halfen einander so gut sie konnten; unter anderem versuchten sie auch, für jeden einen Arbeitsplatz zu finden.

Wir wohnten in einem zweistöckigen Holzhaus, gegenüber dem derzeitigen Geschäft „Poljarnyj“… oder vielleicht heißt es inzwischen auch anders… Damals lag gegenüber unseren Fenstern die Lagerzone, einer der Lagerpunkte. In der Kommunal-Wohnung belegten wir ein Zimmer, und in den Zimmern neben uns war ein NKWD-Mitarbeiter untergekommen. Ich kann mich an seinen Namen nicht mehr erinnern. Unsere Familien freundeten sich sehr eng an, trotz der Tatsache, dass unser Vater ein „Rechtloser“ war und der andere ein Vertreter der Organe. Aber dieser NKWD-Mitarbeiter, ich will seinen Namen nicht nennen, war ein kluger und aufrichtiger Mann – auch in ihrer Mitte gab es Menschen. So konnte seine Seele auch diesen Häftlingsaufstand nicht ertragen; er wurde ein starker Trinker; später erschoss er sich. Das war eine große Tragödie für uns alle.

Außerdem erinnere ich mich, wie wir als kleine Kinder den Abhang herunter kugelten, und daneben führten sie die Häftlingskolonnen vorbei. 1953 waren es allein in Norilsk 68.000, und wir hatten schreckliche Angst. Die Hunde bellen, solche bösartigen Schäferhunde hatten die Wachsoldaten, einfach schrecklich, ringsumher hörte man nur Geschrei und Kommandos; und wenn einer sich etwas zu Schulden kommen ließ, brüllten sie – „hinlegen – aufstehen“, egal ob dort Schnee oder Dreck lag; diejenigen, die zurückblieben, wurden mit dem Gewehrkolben geschlagen. Dieses Bild habe ich mein ganzes Leben vor Augen behalten.

Aber die schlimmsten Erinnerungen aus der Kindheit sind die an den Aufstand der Gefangenen. Wir Kinder wurden damals zu Hause eingesperrt, man erlaubte uns auch nicht an die Fenster heran zu treten; in der Umgebung waren Schüsse und Geheul zu hören, über den Lagerpunkten wehten schwarze Fahnen – das Konnte ich durch ein kleines Guckloch erkennen. Und so saßen wir Kinder praktisch einen halben Monat lang zu Hause und durften draußen nicht herumtollen.

Gedenken an die Toten

Nach der Schule studierte Jelisaweta an der Universität Marxismus-Leninismus und arbeitete ihr Leben lang in einem Bau-Laboratorium. Vielleicht erscheint uns das, den heute Lebenden, unverständlich, doch trotz der Repressionen, der Schrecken im Lager, sind viele derer, die sie durchlaufen haben, aufrechte Kommunisten geblieben, der Sache Lenins treu ergeben; und sie glauben, dass die Partei es schon recht macht. So haben sie auch ihre Kinder erzogen. Bis zum Letzten glaubte auch Josef Obst daran, doch er erlebte seine Rehabilitierung nicht mehr, war behaftet mit dem Aufdruck „Volksfeind“, und er sah seine Eltern und Brüder nie wieder. Erst nach seinem Tod, Jahre später, als die Perestroika einsetzte, wurden nach und nach die KGB-Archive geöffnet, und es gelang Jelisaweta den ehrbaren Namen des Vaters wiederherzustellen.

- Ich war wegen meines Vaters furchtbar gekränkt; er starb 1982, und erst 1998 kamen die Dokumente über unsere Rehabilitation. Und so kam es, dass ich mich mit den Akten der Opfer der politischen Repressionen beschäftigte. Zuerst stellte ich den Namen des Vaters wieder her, anschließend die Namen anderer ehemaliger Gefangener, indem ich den Angehörigen beim Ausfüllen von Dokumenten half und Anfragen an die Archive richtete.


An der Gedenkstätte „Golgatha“ versammeln wir uns und weinen gemeinsam

Heute hilft die gesellschaftliche Vereinigung „Schutz der Opfer politischer Repressionen“ nicht nur beim Sammeln von Dokumenten zur Rehabilitierung unschuldig Leidtragender, erweist ehemaligen Häftlingen, Sondersiedlern und ihren Kindern materielle und moralische Unterstützung – sie bewahrt auch die historische Erinnerung.

- Jedes Jahr am 30. Oktober versammeln wir uns alle an er Gedenkstätte „Golgatha“, um aller Gefangenen zu gedenken, die unschuldig gelitten haben. Die Menschen sollen sich erinnern und erfahren, wie es war – sagt Jelisaweta Obst. – Ich fürchtete, dass alle diese Schrecknisse sich noch einmal wiederholen können, wenn wir die Erinnerung verlieren. Wir müssen die Namen derjenigen im Gedächtnis behalten, die diese Stadt im ewigen Eis erbaut haben, ihnen unsere Ehrerbietung erweisen – das müssen wir tun, die Überlebenden.

2001haben wir gemeinsam mit der Stadt-Verwaltung ein ganzes Programm für die soziale Unterstützung rehabilitierter Bürger erarbeitet, das bis heute noch aktiv ist. Ich kann sagen, dass wohl nur in Moskau und bei uns in Norilsk die Stadtverwaltung auf einem derart würdigen Niveau ehemalige Repressionsopfer unterstützt. Dank der Firma „Norilsker Nickel“ sind wir sehr oft in Heldenstädte gefahren, wo wir mit Mitgliedern von „Memorial“ zusammengetroffen sind, Erfahrungen ausgetauscht und die gesammelten Daten ausgetauscht haben. In Norilsk stehen wir in engem Kontakt mit unseren Veteranen-Räten. Zusammen mit dem Museum der Geschichte der Entstehung und Entwicklung des Norilsker Industriegebiets führen wir umfangreiche Forschungsarbeiten durch – man schreibt uns sogar aus dem Ausland. Es gibt noch so viele weiße Flecken in der Geschichte, so viele unentdeckte Namen.

Fotos: Denis Koschewnikow, Nikolaj Schtschipko

Text: Larissa Stezewitsch

„Sapoljarnyj Vestnik“, 30.10.2014


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