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Wir werden uns an die Lehren der Geschichte erinnern

Aufruf an die Bewohner der Krasnojarsker Region

Mit der Verabschiedung der Anordnung des Rates der Volkskommissare vom 5. September 1918 „Über die unmittelbare Notwendigkeit des Terrors zur Sicherung des Hinterlandes (nach dem Bericht des Vorsitzenden der Allrussischen Tscheka des Rates der Volkskommissare)“ begann in unserem Lande offiziell der Rote Terror.

In der Verodnung ist unter anderem von „der Notwendigkeit einer Isolierung der Klassenfeinde in Konzentrationslagern“ die Rede…, davon, dass „alle Personen dem Tod durch Erscghießen ausgesetzt sind, die Berührung mit den Weiß-Armisten, mit Verschwörungen und Revolten … und so weiter haben“… Mit dieser Anordnung waren einem die Hände gebunden. Es begann die erbarmungslose Vernichtung von Menschen aufgrund von Klassen-Merkmalen. Vernichtet werden sollten ganze Stände: Adel, Kaufleute, Offiziere, Geistliche, Intelligenz. Möglicherweise kamen gerade in jener Zeit die geflügelten Worte auf: „Wo kein Mensch ist, da gib t es auch keine Probleme“.

Mit Beginn der Kollektivierung der Landwirtschaft und der Industrialisierung Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre, sowie auch der Festigung der persönlichen Macht Stalins, nahmen die Repressionen Massencharakter an. Im Verlauf der gewaltsamen Kollektivierung wurde die Unterdrückung antisowjetischen Auftretens der Bauern und die damit verbundene „Liquidierung der Kulakenschaft als Klasse“ zu einem der Zielrichtungen der Staatspolitik – der „Entkulakisierung“. Die aktivsten Familien-Oberhäupter aus den Reihen der Kulaken wurden verhaftet und vernichtet. Ihre Familien und auch diejenigen, die keinerlei gemeinsame Aktivitäten mit den Verwandten zeigten, wurden in entlegene Gebiete ausgewiesen.

Insgesamt wurden in den Jahren 1930er und 1940er Jahren, laut Information der Abteilung Sonderumsiedler des GULAG der OGPU, 2.293.214 Personen mit dem aufgedrückten Stempel „Kulak“ in Sonderansiedlung geschickt. Gemäß einer geheimen Auskunft, die 1934 von der operativen stalinistischen Registrierungsabteilung der OGPU ausgefertigt wurde, starben etwa 90.000 Kulaken während der Fahrt und weitere 300.000 kamen aufgrund unzureichender Ernährung und Krankheiten an ihren Verbannungsorten ums Leben.

Am 30. Juli 1937 kam der operative Befehl des NKWD der UdSSR N° 00447 „Über die Operation zur Unterdrückung ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente“ heraus, in dem angeordnet wurde, alle Verhaftungen entsprechend den aus Moskau in die Regionen weitergeleiteten Pläne vorzunehmen und nach zwei Kategorien vorzugehen. Die Verhafteten der ersten Kategorie unterlagen vor der Gerichtsverhandlung (!) bereits dem Tod durch Erschießen. Die der zweiten Kategorie – der Inhaftierung in Lagern und Gefängnissen.

Von diesem Moment an begannen die Massen-Verhaftungen. Der Zeitraum 1937-1938 erhielt später die Bezeichnung „Großer Terror“.

Am 26. Juni 1940 kam der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR über die strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen Verletzung der Arbeitsdisziplin (verspätetes Eintreffen am Arbeitsplatz, eigenmächtiges Verlassen des Arbeitsplatzes, Bummelei mit einer Dauer von 20 Minuten). Nach diesem Ukas wurden allein vor dem Ausbruch des Krieges gegen Deutschland 2 Millionen Menschen verurteilt.

Unter Stalin wurden ganze wissenschaftliche Richtungen unterdrückt und verboten und gegen zahlreiche renommierte Wissenschaftler, Ingenieure und Ärzte eine Hetzjagd organisiert, die der vaterländischen Wissenschaft und Kultur einen kolossalen Schaden zufügte. In dem einen oder anderen Maße betraf die ideologische Einmischung Disziplinen wie die Physik, Chemie, Agronomie, Sprachenwissenschaft (Linguistik), Statistik, Literaturwissenschaft, Philosophie, Soziologie, Demographie, Ökonomie, Genetik, Geschichte und Kybernetik. Führende Demographen wurden erschossen, nachdem Stalin die Ergebnisse der Volkszählung des Jahres 1937 nicht gefielen, welche die großen Verluste innerhalb der Bevölkerung enthüllten, die im Vergleich mit der angenommenen Zahl durch Hunger erheblich dezimiert worden war.

Die Sterblichkeitsrate in den Lagern war immens, die Haftbedingungen – unmenschlich. Darüber schrieb sogar der Generalstaatsanwalt der UdSSR, A.J. Wyschinskij, im Februar 1938 an den Volkskommissar für innere Angelegenheiten N.I. Jeschow.

Zudem wurden im Lande viele Jahre hindurch Massen-Zwangsumsiedlungen von Menschen vorgenommen – Deportationen, die nicht nur unmittelbar mit der Kollektivierung der Landwirtschaft zusammenhingen. Sie begannen 1935-1936, hielten während des gesamten Krieges an und gingen auch noch nach dem Krieg weiter. Die Deportationen waren ganz unterschiedlicher Art: aus sozialen Gründen wie der Entkosakisierung (systematische Verfolgung der Kosaken; Anm. de. Übers.) und anderer; aus nationalen Gründen (nicht weniger als 20 Nationalitäten); aus konfessionellen Gründen; aus politischen Gründen (Familienmitglieder von Volksfeinden und andere).

Vor dem Krieg fanden Deportationen bei der Säuberung der Grenzgebiete vor sozial gefährlichen Elementen statt, die Menschen unterschiedlicher Nationalitäten in den umliegenden und grenznahem Gebieten betrafen.

Nach und nach trat der wirtschaftliche Faktor in Erscheinung – die Leute nämlich dorthin zu schicken, wo es Bedarf an ihrer Arbeitskraft gab: bei der Holzbeschaffung, in den Erzgruben usw. Sehr wichtig war das Holz – so wie heute das Erdöl.

An den neuen Orten starben zehntausende Menschen durch Hunger und Krankheiten. Diese Umsiedlungen verlangten den Menschen wahre Heldentaten ab, um überhaupt zu überleben.

Das war der staatliche Mechanismus zur Verwirklichung der Straf- und gleichzeitig der Wirtschaftspolitik. Später nannte man das alles Genozid. Aus den Dokumenten, welche die Repressionen betrafen, den Erschießungslisten, die von Stalin unterzeichnet waren, wird die maßgebliche Rolle Stalins wie auch der Strafbehörde des Landes – der GUGB NKWD, der Staatlichen Behörde der Staatssicherheit des NKWD, an der Organisation der Massen-Verfolgungen offensichtlich.

Heute noch am Leben befindliche rehabilitierte Personen – das sind zweifellos nicht diejenigen, die eine Bedrohung für das kommunistische Regime darstellten. Doch auch sie befanden sich zwischen den Mahlsteinen der grausamsten Schicksalsherausforderungen. Viele von ihnen verloren in jenen Jahren Angehörige und ihnen Nahestehende.

Es gibt auch noch Lebende unter denen, die unmittelbar mit ihren Familien umgesiedelt wurden oder Urteilsvollstreckungen, Gefangenenetappen und Lager durchliefen. Viele von denen, die noch leben, ertrugen alle nur erdenklichen Entbehrungen (sowohl physische, als auch moralische) während der Zeit, als sie noch Kinder waren. Die Einen befanden sich bei ihren rechtlosen, hungernden und bettelarmen Eltern, trugen, genau wie sie, alle Erschwernisse des Lebens auf ihren Schultern und waren völlig rechtlos. Wer auch nur irgendeine Arbeit verrichten konnte, arbeitete zusammen mit den Erwachsenen, um nur nicht vor lauter Hunger zu sterben. Die jüngeren Kinder besaßen nicht das Recht auf den Besuch einer Vorschul-Einrichtung, Aufnahme zu den Pionieren, Fahrten ins Pionierlager, Mitgliedschaft in der kommunistischen Jugendorganisation. Deswegen waren die kleinsten Kinder, wenn die Eltern arbeiteten, sich völlig selbst überlassen und fielen der Verwahrlosung anheim. Wenn sie etwas älter wurden, erwartete sie die Unmöglichkeit, sich an einer Universität einzuschreiben, und sie bekamen das Gefühl zu spüren, Menschen zweiter Klasse
anzugehören.

Nicht leichter, sondern bisweilen noch viel schwieriger, gestaltete sich das Leben bei den kleinen Kindern, die ohne die Fürsorge ihrer unterdrückten Eltern aufwachsen mussten. Waisen-Dasein, Hohn und Spott an den Kindern der „Volksfeinde“ werden in den Kinderheimen niemals in Vergessenheit geraten. Nicht zufällig wurden all diese Menschen auf staatlicher Ebene durch das föderale Gesetz „Über die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen“ vom 18.10.1991 N° 1761-1 als politisch Verfolgte anerkannt und rehabilitiert.

Ich schreibe so ausführlich darüber, weil man bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt hören muss, dass es heute schon keine Repressionsopfer mehr gibt, dass es sich nur noch um ihre Kinder handelt. Aber, dass diese Kinder auch selber ungeheure Entbehrungen durchmachten und offiziell rehabilitiert sind, ahnen viele Leute einfach nicht.

Leider ist das ein sehr weit verbreiteter Irrglaube. Und kein Wunder . denn viele Jahre haben die Massenmedien zu diesem Problem geschwiegen. Auch heute noch schreiben und sagen sie ziemlich wenig über diese traurige Seite unserer Geschichte.

Keineswegs möchte ich das Ausmaß der Entbehrungen bei den Menschen anderer Kategorien herabmindern. Auch an den Fronten des Großen Vaterländischen Krieges, im von der Blockade betroffenen Leningrad und in den Kerkern der faschistischen Konzentrationslager wurde gestorben – genauso wie in den sowjetischen. Auch im Hinterland litten die Menschen während des Krieges an Kälte und Hunger, ebenso wie in der Verbannung und in der Sonderansiedlung.

Trotzdem gibt es einen Unterschied. All das zu ertragen, aber mit seinem Volk auf gleicher Stufe zu stehen und weiter in der gewohnten Welt zu leben – das ist eine Sache. Bei all dem Elend auch noch ein rechtloser „Volksfeind“ zu sein, den man aus seinem gewohnten Lebensumfeld herausgerissen hat – ist eine andere. Mehr noch, als Held an der Front zu fallen (bekanntlich ist „unter Menschen auch der Tod schön“) – das ist das Eine, in Unfreiheit zu sterben, versehen mit dem Etikett eines „Volksfeindes“ – das ist die andere Seite. Schon längst zählt niemand mehr die Menschen, die in den Strafbataillonen umkamen (wo unter anderem auch unschuldig verfolgte Personen kämpften, oft mit Sperrtrupps hinter ihrem Rücken). Im besten Fall erließ man ihnen posthum ihre Vorstrafen. Über Auszeichnungen wegen heroischen Verhaltens konnte überhaupt keine Rede sein. Und was war mit denen, die unschuldig in den Kerkern erschossen wurden? Und mit ihren Familien?! Anfangs waren solche Familien einfach Verstoßene der Gesellschaft – wie Aussätzige. Aber beginnend mit dem 15. August 1937 – entsprechend dem operativen Befehl des NKWD der UdSSR N° 00486 – fing man an, Frauen zur gleichen Zeit wie ihre Ehemänner, „Vaterlandsverräter“, zu verhaften (noch verhaftete man sie lediglich, es hatte noch keine Gerichtsverhandlungen gegeben, aber sie waren berei5ts Vaterlandsverräter) und die Kinder in Heimen unterzubringen. Dabei wurden Brüder, Schwestern und Freunde aufgrund dieses Befehls voneinander getrennt und in verschiedenen Kinderheimen untergebracht. Und Kinder über 15 Jahre kamen als sozial gefährliche Elemente in Lager oder Kinderheime mit besonders strengem Regime, wo sie sich unter geheimer Aufsicht befanden. Solche Misshandlungen kann niemand nachvollziehen, außer Menschen, die verfolgt und später rehabilitiert wurden.

Nichtsdestoweniger, egal, unter was für einem Regime die Menschen auch leben mussten – sie gerieten trotzdem nicht in Zorn. Sie lieben ihre Heimat, ihre Region, in der sich ihre Jugend abspielte, wo viele ihrer Liebe begegneten, wo ihre Kinder aufwuchsen und leben, ihre Enkel und sogar Urenkel. Ebenso wie andere Bevölkerungsschichten leisteten auch sie einen großen Beitrag zur Entwicklung der Region Krasnojarsk. Sie haben hart gearbeitet, und manche tun das heute noch – in der Stadt und auf dem Lande, in verschiedenen Bereichen und Sphären des Lebens. Die Mehrheit von ihnen sind Veteranen der Arbeit, viele besitzen Auszeichnungen. Ihre Kinder und Enkel haben sie zu aufrichtigen, treuen Söhnen des Vaterlandes erzogen.

Am Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen, der seit 1991 in Russland jedes Jahr am 30. Oktober begangen wird, bringe ich all denen, die Verwandte und Nahestehende verloren haben, welche unverdient politischen Verfolgungen ausgesetzt waren, mein tiefstes Mitgefühl zum Ausdruck.

Von ganzem Herzen wünsche ich allen rehabilitierten Bürgern und den als Opfer politischer Repressionen anerkannten Personen sowie ihren Familien Gesundheit, Wohlergehen und Frieden.

Ella Zuzkarewa, Vorsitzende der Rehabilitierten in der Region Krasnojarsk.

„Krasnojarsker Arbeiter“, 30.10.2014


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