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Erfahrungen mit dem Hunger für die Wolgadeutschen in Sibirien

Die Geschichte von Alexander und Polina Bauer aus Agapitowo

Zu Beginn des Krieges wandte die Sowjetmacht Präventivmaßnahmen gegen die Wolgadeutschen an. Aus Angst, dass sie zur deutschen Seite überlaufen könnten, wurden etwa 3 Millionen Menschen zur Aussiedlung in entlegene Gebiete des Landes bestimmt. In den Jahren 1941-1943 wurden allein in die Region Krasnojarsk ungefähr 1 Millionen Menschen deportiert, 77.000 von ihnen waren Deutsche. Doch die abscheulichste und unmenschlichste Deportation in der gesamten Geschichte war die in den Norden. Tausende Menschen starben an Hunger und Kälte auf der Taimyr-Halbinsel.

„Aus Igarka kehrten drei Finnen zurück und berichteten Grauenhaftes: „ …entlang des rechten Jenissei-Ufers, bei der Siedlung Agapitowo, sahen wir eine Zelt-Städtchen, wo Menschen lagen, die an den Stangen und dem Untergrund festgefroren waren, hauptsächlich Frauen, Kinder und etwas weniger alte Leute. In den Zelten gab es weder Öfen noch Brennholz, und ringsumher nichts als Leichen.


Deutsche im Taimyr-Gebiet. Foto: AiF am Jenissei

Und doch fanden wir ein „lebendiges Skelett“, von dem wir in Erfahrung bringen konnten, dass unmittelbar vor dem Zufrieren des Jenisseis auf einem Schiff etwa 500 Menschen hier abgeliefert wurden, vorrangig Deutsche aus dem Wolgagebiet und den baltischen Ländern. Man stellte ihnen lediglich Zelte und ein wenig Nahrung zur Verfügung. Wir gelangten bis nach Igarka und machten dort der Sonderkommandantur des NKWD Mitteilung über das, was wir gesehen hatten.

Aus dem Gespräch entnahmen wir, dass das in Agapitowo abgelieferte Sonderkontingent von den Behörden einfach nur „vergessen“ worden war. Vier Monate später, auf dem Rückweg, begegneten wir keiner einzigen lebenden Seele mehr in Agapitowo“.

Diese Zeilen stammen aus dem Tagebuch der Lettin Ruta Jankowitsch, die 1941 zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in die Siedlung Ust-Chantaika im Bezirk Dudinka deportiert wurde. Das, worüber Ruta schreibt, ist die Wahrheit. Aber es stellt sich heraus, dass es damals doch noch Überlebende in Agapitowo gab – nämlich Alexander und Polina Bauer.

„Es ist nicht für lange…“

1941 war Paulina 3 Jahre alt, Alexander 7. Die Wolgadeutschen, heute Krasnojarsker, können bis jetzt keine Antwort auf die Frage geben, wie es ihnen gelang zu überleben.


Deutsche im Taimyr-Gebiet. Foto: AiF am Jenissei

„Den Vater holten sie im Juli 1941, danach sollten wir ihn nie mehr sehen, - erinnert sich Alexander. – Und am 28. August erging der Befehl, dass alle Deutschen aus dem Wolgagebiet abtransportiert werden sollten. Unsere Familie, 10 Personen, verfrachtete man auf einen Leiterwagen und brachte sie zur Bahnstation. „Ihr braucht nichts mitnehmen, dort bekommt ihr alles; es ist nicht für lange – nur so lange, bis der Krieg zu Ende ist“, - sagten sie uns. Und so machten wir uns praktisch nur leicht bekleidet und mit wenig Gepäck auf die Reise“.

Am Bahnhof wurde das Sonderkontingent auf Güterwaggons verladen, in denen sie sonst Vieh transportierten, und dann brachte man sie auf dem südlichen Abzweiger über Alma-Ata in die Region Krasnojarsk. Während der Fahrt setze die Kälte ein, die Schifffahrt wurde eingestellt und die Menschen in verschiedenen Dörfern untergebracht. Im Sommer des Folgejahres versammelten sie die Menschen am Flussbahnhof und verluden sie auf die „Josef Stalin“, die in den Norden fuhr.

„Das Schiff war voll bis unters Dach, - fährt Alexander fort. – Unsere Familie lag unten neben dem Fallreep. Wohin sie uns brachten, wussten wir nicht. Von Zeit zu Zeit machte das Schiff fest und lud einen Teil der Menschen ab. Als wir schließlich an die Reihe kamen, gerieten wir in Verwirrung. Da Ufer war wie leergefegt, keine Menschenseele weit und breit. Nur eine Jagdhütte, in der ein Fischer mit dem Nachnamen Agapitow wohnte, und ein Schuppen mit irgendwelchen Gerätschaften. Und so erhielt die Siedlung dann auch ihren Namen - Agapitowo“.


Deutsche im Taimyr-Gebiet. Foto: AiF am Jenissei

Hier wurden etwa 500 Menschen und Lebensmittel ausgeladen: ein paar Säcke Graupen und Mehl, die sogleich durchweichten – denn an dem Tag herrschte Flut. Niemand besaß warme Kleidung, es gab nicht einmal etwas, um eine Wassersuppe zu kochen. Die Männer stürzten sogleich los, um Erdhütten auszuheben, aber die Schaufeln mit der Schaufel kamen sie lediglich einen Meter tief in den Boden – mit Hilfe von Lagerfeuern tauten sie ihn auf.

Die Menschen begannen fast sofort zu sterben – zuerst an Skorbut, später einfach vor Hunger. Später brachten die Ortsbewohner ihnen bei, wie man Tannenzweige abbrüht und den Sud trinkt; das half tatsächlich gegen Skorbut.

Geduldet euch, Kinder

Zum Jahr 1945 b lieben Alexander und die Mutter von der Familie allein zurück. Drei Tanten hatten sich gleichzeitig mit nicht essbaren Pflanzen vergiftet, die Mohrrüben geähnelt hatten. Man fand sie am Ufer des Sees, an dem sie sie gegessen hatten. Di übrigen starben nach und nach an Hunger.

Die Leichen wurden nicht begraben; man trug sie aus den Erd-Hütten, hob eine kleine Grube aus – eine Schicht Leichen, eine Schicht Zweige, die nächste Schicht… Später kamen Vielfraße oder Füchse und zerrissen die Toten in Stücke.

Alexander wurde durch den Umstand gerettet, dass ein dort lebender Jäger ihn in der Jagd auf Hasen und Rebhühner unterwies; davon gab es dort so viele, dass man sie gar nicht zählen konnte. Das Jungchen gab sie in Igarka ab und konnte wenigstens irgendwie sich und die Mutter ernähren.

„Im dritten Jahr schickten sie eine Lehrerin nach Agapitowo und organisierten eine Schule, - erzählt der Mann. – Sie war eine ganz junge Russin und wir – Deutsche, Letten, Esten, die überhaupt kein Russisch verstanden. Als sie uns das erste Mal um sich versammelte, versuchte sie uns etwas zu erklären. Aber wir schwiegen nur. Sie erriet wohl, dass wir nichts verstanden hatten und fing an zu weinen. Und als Antwort darauf, begannen wir ebenfalls zu schluchzen. Dann schrieb sie große Buchstaben an die Tafel - A, O, U – und fing an zu singen.

Wir stimmten mit ein. Und so absolvierten wir innerhalb von drei Jahren die Grundschule. Danach kam das Internat in Igarka. Und hinter dem Gebäude befand sich die Kommandantur, wo wir uns einmal im Monat melden mussten. Und jedes Mal begrüßten sie uns mit den Worten: „Na, da sind ja die Faschisten gekommen!“. – „Nur Geduld, Kinder!“ – versuchten uns die Erzieher zu beruhigen, - bald wird sich alles ändern“. Nach der Internatszeit kehrte ich schon nicht mehr nach Agapitowo zurück. Aber Mama blieb dort bis 1956, bis man uns rehabilitierte“.

Sie spuckten ins Kochgeschirr

Die Schicksale von Alexander und Paulina verflochten sich 1964 miteinander. Sie begegneten sich in Igarka und gingen nie wieder auseinander. Durch die Ironie des Schicksals waren sie schon in Agapitowo zusammen gewesen, dort jedoch nichts voneinander gewusst.

„Ich war gerade mal drei Jahre alt, kann mich kaum an etwas erinnern, - sagt Polina. Das meiste, was ich weiß, stammt aus den Erinnerungen der Verwandten. Wir kamen zu sechst, drei Erwachsene und drei Kinder: ich, mein einjähriges Schwesterchen und ein sechsmonatiges Brüderchen. Es wurde während der Fahrt geboren und starb fast unmittelbar nach seiner Geburt. Drei Jahre saßen wir Kinder in der Erd-Hütte auf einer Pritsche und kamen nicht ein einziges Mal nach draußen.

Jeden Tag ging Mama, die besonders nach der Geburt sehr abgemagert war, in den Wald zum Bäume fällen; und dann blieb die Großmama bei uns . Ich erinnere mich, dass ich ganz mit Geschwüren bedeckt war; sie schmerzten sehr, und die Narben sieht man heute noch. Auch hier half uns ein Zufall. Großvater war ein Meister in der Herstellung von Leder. Und im dritten Jahr holten sie unsere gesamte Familie nach Igarka – dorthin brachte man das Vieh zur Verarbeitung. Dank diesem Umstand blieben Mama, die Schwester und der Großvater am Leben. Mama wurde 94 Jahre al5t und starb hier, in Krasnojarsk.

Als Alexander und ich geheiratet hatten und unsere Töchter geboren waren, wollten wir nach Hause zurückkehren, sogar die nötigen Dokumente legten wir vor. Aber man ließ uns nicht. Trotz der Rehabilitierung durften wir nicht in unsere historische Heimat zurückfahren. In jeder beliebige andere Region – ja, aber nicht nach Hause. Als die Grenzen geöffnet wurden, reisten viele nach Deutschland aus.

Auch wir dachten daran. Aber ich war ja in Russland geboren, hatte so viel hier durchgemacht – meine historische Heimat ist doch hier. Ja, hier waren wir „Faschisten“; russische Kinder spuckten uns in den Kochtopf, in dem die Großmama das Mittagessen zubereitete, und wir aßen das, weil es nichts anderes zu essen gab. Aber auch dort wären wir Fremde gewesen. Und so beschlossen wir hier zu bleiben“.

Fotos des Autors und aus dem Archiv der regionalen „Memorial“-Organisation

Swetlana Chustik

AiF am Jenissei, 31.10.2014


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