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Wir beschwören die Erinnerung

Gestern, am 30.Oktober beging Norilsk den Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen.


Jelisaweta Dobronrawina-Knol und Olga Jaskina

An diesem Tag vor vierzig Jahren begannen in den Lagern von Perm und Mordwinien eine Protestaktion und ein dreitägiger Hungerstreik gegen die politischen Repressionen und der unmenschlichen Behandlung der Gefangenen. In Norilsk fing man vor fast einem Viertel-Jahrhundert damit an, den Tag des Gedenkens an die Häftlinge des Norillags zu begehen. Mit jedem Jahr machen sich immer mehr Norilsker mit Autobussen, abfahrend vom Museum für die Geschichte des Norilsker Industriegebiets, auf den Weg zum Memorial „Norilsker Golgatha“ am Fuße des Berges Schmidticha, das mit einer kleinen Kapelle seinen Anfang nahm. Unter denen, die sich an die Lager erinnern, befinden sich – ganz junge Schüler.

Die Menschen stehen während der Zusammenkunft und des Gebets am „Norilsker Golgatha so dicht beieinander, als ob jeder in diesem Augenblick der Berührung mit der Tragödie des Heimatlandes besondere Unterstützung und Verständnis benötigt. Bei vielen Norilskern hängt die Familiengeschichte mit den Jahren der Repressionen zusammen. Heute fällt es schwer und ist es schrecklich zu glauben, dass lediglich nach annähernden Angaben ungefähr 300.000 Menschen aus 20 Ländern der Welt durch die Norilsker Lager gegangen sind, wobei jeder dritte sein Leben im Lager und jeder vierte in einer Arbeitskolonie ließ.

Über die Notwendigkeit, das Andenken der unschuldigen Opfer zu ehren, sprachen mit ganzer Seele die Stadt-Oberhäupter und Leiter des Kombinats, wobei sie den Mitarbeitern des Museums für die Geschichte des Norilsker Industriegebiets und allen Norilskern ihren Dank aussprachen, dass sie an dieser erhabenen Sache mitgewirkt hatten.


Jelisaweta Obst

Jelisaweta Obst, Vorsitzende der Gesellschaft „Schutz der Opfer politischer Repressionen“, deren Familie durch die Qualen der Verfolgung gegangen ist, klagte ihr Leid:

- Heute ist noch nicht jeder namentlich genannt, aber wir hoffen, dass das trotzdem irgendwann er Fall sein wird, denn der Verstand und das Herz können sich mit dem Gedanken an das Vergessen nicht abfinden. 1953, als die Siedlung Norilsk den Stadtstatus erhielt, waren von 75.000 seiner Einwohner 68.000 Gefangene. Für Norilsk ist heute ein ganz bedeutsamer Tag, an dem die Alteingesessenen, aber auch die neu Hinzugezogenen, der allerersten Erbauer gedenken, die mit alle menschlichen Kräfte übersteigender Arbeit unsere Stadt und unser Kombinat geschaffen haben. Wir beschwören die Erinnerung ihre Namen nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen…

Nach der Trauer-Litanei, während der wir im Gebet der unschuldig verfolgten Opfer gedachten, betete der Norilsker und Turuchansker Bischof Agafangel in der kleinen Kapelle. Zusammen mit den Geistlichen sang er „Ewiges Gedenken!“. Die Norilsker stellten Kerzen auf, nannten flüsternd die Namen ihrer Angehörigen. Wera Pawlowna Bessonowa, Norilskerin seit 1948, kam zum Glück aus freiem Willen in den Norden. Sie arbeitete in der Sinter-Kohle-Fabrik, wo um sie herum ausschließlich Gefangene ihr Arbeit verrichteten. Sie sah sowohl Schauspieler, als auch Sänger, viele schöpferische Menschen, welche die Lager durchliefen, und sie bewundert sie bis heute. Lange ist sie schon nicht mehr am „Norilsker Golgatha“ gewesen – das Alter ließ es nicht zu. Sie erinnert sich, dass sich seit ihrer Jugend, dass sich hier ein großer Friedhof befand. Dieses Mal ist sie hergekommen, um für ihre Schwester Katja, für alle, die hier ihre letzte Ruhefanden, eine Kerze aufzustellen. Ewiges Gedenken…


Denkmal „Letzte Tore“ auf dem „Norilsker Golgatha“

In die Stadt kehrten wir mit Denis Karbijewskij und Ilja Popko, Schülern der Schule N° 8, zurück. Die Jungs waren von der Fahrt zum Memorial „Norilsker Golgatha“ tief beeindruckt:

- Wir kommen schon das dritte Mal mit dem Aktiv der Schule hierher, obwohl es in der Geschichte unserer Familien keine Repressionen gab; aber wir möchten gern unsere Dankbarkeit und Ehrerbietung gegenüber den Menschen zum Ausdruck bringen, die hier so großes Leid erfahren haben. Wir sind daran interessiert Neues über die Norilsker Geschichte zu erfahren; Mitarbeiter aus dem Museum kommen zu uns in die Schule, und die Schüler der höheren Klassen bereiten selber Gedenk-Programme vor.

Ich wollte wissen, ob sie die Geschichte des „Norilsker Golgatha“ kannten. Es stellte sich heraus, dass sie dachten, man hätte hier „lediglich eine Gedenkstätte eingerichtet“, und sie wunderten sich, dass dies genau an der Stelle des großen Friedhofs geschehen war, auf dem einst Häftlinge und freie Einwohner von Norilsk bestattet worden waren. Ich frage sie, welchen berühmten Häftlinge sie kennen würden. Sie erinnerten sich an den ersten Wegbereiter von Norilsk – Nikolaj Nikolajewitsch Urwanzew, den Literaten Lew Gumiljew. Ich erinnerte sie an die kürzlich stattgefundene Begegnung mit einer japanischen Delegation, die mit der Mission hier her gekommen war, ein Denkmal für die umgekommenen japanischen Staatsbürger zu schaffen. Dieses Denkmal, angeregt durch die Initiative von Satschiko-san, der Tochter des im Norillag verstorbenen Yoshio Watanabe, ist derzeit aus technischen Gründen noch nicht so weit, aber die notwendige Fläche dafür ist bereits aus Beton gegossen. Für Anfang November ist seine Eröffnung geplant – und auf den Stein werden in russischer und japanischer Sprache die Worte „Nein dem Krieg!“ eingemeißelt sein. Was kann heute wichtiger sein, als dieser Aufruf…

Die Jungs aus der Schule N° 8, die die Ausstellung „Keine Revision“ im Museum der Geschichte des Norilsker Industriegebiets, wo sich auch Material über die Geschichte der Familie Watanabe befindet, noch nicht besucht haben, wollen mit ihren Freunden dorthin gehen. Und als wir in die Stadt zurückkamen, begaben sie sich als erstes zum Denkmal der „Opfer von Norilsk“ in der Grünanlage des Museums, berührt den Ring aus lauter Händen… Und ich erzählte ihnen vom Aufstand des Jahres 1953, als die politischen Frauen-Zwangsarbeiterinnen sich an den Händen fassten, damit die gegen sie gerichteten eiskalten Wasserstrahlen aus den Feuerwehrspritzen sie nicht umwerfen konnten. Und neben uns stand mit einer Freundin Jelisaweta Dobronrawinas – die Tochter des repressierten Deutschen Karl Knol, eine der Teilnehmerinnen jener tragischen Ereignisse – Olga Iwanowna Jaskina, deren Gesundheit es ihr immer noch erlaubt, am Tage des Gedenkens wegen all derer hierher zu kommen, die wir in den letzten Jahren verloren haben …


Natalia Bigus

Unter denen, die zur Minute des Gedenkens zum Memorial „Den Opfern des Norillags“ gekommen waren, gehörte auch Natalia Bigus, die Tochter der politischen Gefangenen Anna Wassiljewna Bigus.

Am 30. Oktober waren es ganz genau zwei Jahre, seit ihre bemerkenswerte Mutter verstarb. Wir brachen mit Natalia das Totenbrot und fütterten damit die Vögel in er Museumsanlage – zur Erinnerung an jene, die unschuldig unter den Stalinistischen Repressionen zu leiden hatten. Unter ihnen waren auch meine Angehörigen…

Am Vorabend des Tages der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen ging in seinem 75. Lebensjahr in Sankt-Petersburg der berühmte Regisseur und Dokumentalist Igor Schadchan in die ewigen Jagdgründe ein. Er arbeitete im Jahre 1960 im Norilsker Fernseh-Studio und schuf 1990 eine zehnteilige Serie über Menschenschicksale des „Norillag“ – „Der Schnee – mein Schicksal…“. Ein einzigartiges Bild bewahrten für die Nachfahren die hervorragenden Gestalten zahlreicher Norilsker Polithäftlinge. Morgen kann man auf „Kanal 24“ um 19.00 Uhr einen Teil aus der Filmserie „Geschichte der Liebe“ von Igor Schadchan sehen, der der ganzen Welt von den Gefühlen der Menschen berichtete, die sich durch die schrecklichsten Schicksalsherausforderungen nicht zugrunde richten ließen. Auch wir werden uns unserer besten Gefühle nicht schämen – der Erinnerung, Liebe und Dankbarkeit gegenüber denen, die einst durch Leid und Glauben unser Norilsk schufen. Mögen wir uns ewig an sie erinnern!

Irina Sereschina
Fotos vom Autor sowie von Wladimir Makuschkin

„Sapoljarnaja Prawda“, 31.10.2014


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