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Stalin lebt

Warum uns der Führer auch noch nach seinem Tod verfolgt

Der Führer ist tot, doch sein Rating steigt. Nach einer Umfrage von „Lewada-Zentrum“ sind 52 Prozent der Russen der Meinung, dass Josef Stalin eine positive Rolle in der Entwicklung des Landes spielte, 45 Prozent – dass die Opfer jener Epoche, unter ihnen Millionen repressierter und erschossener Menschen, völlig gerechtfertigt sind. Mit einer Initiative für die Errichtung eines Stalin-Denkmals kamen fast gleichzeitig verschiedene politische Kräfte aus zahlreichen Regionen. Der Korrespondent der Zeitung „RR“ machte sich auf den Weg nach Krasnojarsk, um dem Generalissimus in die bronzenen Augen zu sehen und herauszufinden, warum wir ihn irgendwie nicht in Ruhe lassen können. Und er – uns auch nicht.

Er steht auf einem Treppenabsatz. Schnurrbart, strenge Brauen, Falten um die Augen. Er ähnelt einem griesgrämigen Treppenhaus-Nachbarn – so einem übriggebliebenen Soldaten, der mit den Männern draußen auf einer Bank sitzt und Domino spielt. Seine bronzene Haut ist von grünen Flecken zernagt, als ob er gerade an Windpocken erkrankt wäre. Er besitzt keine Pupillen. Sie sind nicht einmal ansatzweise markiert. Vielleicht haben sie es vergessen, aber möglicherweise hat er auch nur die Augen verdreht – Anlässe dafür gäbe es ja genug. Damit wartet die Kommunistische Partei der Russischen Föderation auch auf ihre Stunde. Und es sieht so aus, als ob es jeden Augenblick so weit ist: diesmal diskutieren sie die Idee, feierlich eine Büste aufzustellen, irgendwie mit besonderem Enthusiasmus und Schaum vor dem Mund. Der Krasnojarsker Stalin hat alle Chancen, seinen bescheidenen Platz auf dem Treppenabsatz der Geschichte zu verlassen und einen Sockel mitten im Stadtzentrum zu erklimmen.

Balsam auf der wattierten Jacke

Der Krasnojarsker Sergej Wolkow ist Geschäftsmann. Er gründete die Gesellschaft „Sibirina“ und produziert Balsame, Extrakte, Öle und Kosmetik aus Zirbelkiefern und Tannen. In seinem Leben gibt es nichts Außergewöhnliches. Arbeit – Zuhause – Arbeit.

Eines schönen Tages nun erfuhr Sergej Wolkow, dass die Abgeordneten des örtlichen Stadtrats Unterschriften für die Zuteilung eines Ortes für ein Stalin-Denkmal in Krasnojarsk sammelten. Wolkow begab sich in ein Schreibwarengeschäft, kaufte für 27 Rubel Zeichenpapier, holte sich bei seinem Sohn ein paar Buntstifte, fand auf seiner Datscha eine alte Wattejacke, knipste unterwegs irgendwo ein Stück Stacheldraht ab – und schon war alles Notwendige für seine politische Aktion fertig.

Am Tag der nächsten Deputierten-Sitzung nähert Wolkow sich dem Eingang zum Stadtratsgebäude und entfaltete ein Plakat. Dort stand geschrieben „Stalin – die Tragödie meiner Familie. Abgeordnete, tut nichts, was schmerzlich ist“. Der Geschäftsmann trug eine Wattejacke mit Nummer, genau wie die GULAG-Häftlinge sie getragen hatten, in den Händen – Kränze aus Stacheldraht gewunden. Wolkow stand dort an einer günstigen Stelle – die Abgeordneten waren gezwungen, an ihm vorbei zu gehen – sie mussten ihn einfach bemerken. Er versuchte ihnen jeweils einen Stacheldrahtkranz auszuhändigen, aber keiner wollte ihn entgegennehmen. Einige besonders aggressive unter ihnen versuchten sogar ihn fortzujagen. Ohne Erfolg. Auf den ersten Blick war klar, dass Wolkow stur bleiben würde. „Ich bin kein ängstlicher Zehnjähriger, so einfach bewegt mich niemand von einer Stelle fort“, - sagte er nun schon zum wiederholten Mal.

Sergej Wolkow verfügt über keine sonderlich große politische Erfahrung. Irgendwann einmal hat er sich in der SPS (Union der rechten Kräfte; Anm. d. Übers.) versucht und an den Weißband-Demonstrationen teilgenommen. Heute ist er Mitglied von „Jabloko“, doch die nützlichen Eigenschaften von Zirbelkiefer-Öl und –Balsam wecken eher sein Interesse und sind ihm geläufiger. Auf seiner einsamen Demonstration gab es keinerlei politische Symbolik, sofern man den Stacheldraht nicht mitrechnet.

- Für mich ist das eine sehr persönliche Geschichte, - erzählt Wolkow. – Mein Großvater Michail Karlowitsch Ibel war Wolga-Deutscher. 1941 wurde er zusammen mit anderen deutschen zur Sonderansiedlung nach Krasnojarsk verschleppt. Er war in der Arbeitsarmee. Meine Mutter bekam ihre Kinder in der Verbannung. Großvater musste sich regelmäßig in der Kommandantur melden. Es heißt, dass er sogar eingesperrt wurde, weil er einmal nicht rechtzeitig dort erschienen war. Ich habe meinen Großvater nie gesehen: nach einem seiner Besuche in der Kommandantur kam er nach Hause und erhängte sich. Er ertrug die Lage nicht. Meine Großmutter saß im Gefängnis, weil sie vor lauter Hunger mit ihren Freundinnen zum Kolchosfeld gegangen war und sich ein paar Ähren genommen hatte.

Wolkow musste viel Zeit darauf verwenden, Informationen über seine Vorfahren herauszufinden, - in der Familie war es unangebracht, die Vergangenheit aufzuwühlen. „In der Sowjetunion schämte man sich darüber zu sprechen, wenn man Deutscher war. Sie haben uns die Geschichte genommen, - sagt Wolkow.

Nach der Demonstration fingen sie an, Wolkow in den sozialen Netzwerken zu schreiben. Kinder von Opfern der politischen Repressionen, die sich einfach mit seiner Position solidarisch erklärten. Und, natürlich, die Stalinisten.

- Sie haben mir Vieles geschrieben. Es hat mir sehr gefallen, dass sie mich baten, meine Position näher zu erläutern, in einem persönlichen Briefwechsel habe ich ihnen gern geantwortet. Ja, wir bewerten die Geschichte anders, aber trotzdem haben wir uns verstanden. Einer ging mit mir in einem Punkt sogar einig. Und das ist die Hauptbilanz meiner Aktion. Die Menschen sind bereit zum Dialog, wir können normal miteinander kommunizieren. Mir gefällt es nicht, dass die Abgeordneten einfach so ohne die Menschen Beschlüsse fassen: sie ändern die Wahlen, an anderen Orten. Sie fragen die Leute nicht. Jeder Deputierte kann doch in seinen Landkreis kommen und sich anhören, was die Menschen denken. Aber sie tun es nicht.

So ist die Zeit eben

Im Allgemeinen gibt es Stalin-Denkmäler in Russland. Viele. In voller Größe, Büsten, Gedenktafeln. Unlängst verewigte man Stalin auf der Krim zusammen mit Roosevelt und Churchill auf einer Bank. Die ganze Geschichte der Denkmäler Stalins – ist eine Reihe von Versuchen, irgendeine politische Äußerung zu realisieren. Wegen der zahlreichen Götzenbilder des Führers kam es zu Blutvergießen und Aufruhr. Man kann darüber streiten, ob der lebendige Stalin irgendetwas Gutes für das Land getan hat, aber seine Kopien aus Bronze, Gips und Beton – ganz sicher nicht.

1990 befanden sich die Stalinisten in Opposition zu den Liberalen, welche das Geschehen bestimmten. Damals hielten die Mächte ihre Versuche, Denkmäler für ihren Abgott durchzusetzen - und überhaupt die ganze Philosophie – für widerwärtig und grenzwertig. Heute ist die Kräfteverteilung eine andere, und man verschafft der liberalen Minderheit eine politische Vendetta (Blutrache; Anm. d. Übers.). Stalins Figur erwies sich als sehr geeignet, um sich zu vereinen, den Opponenten eine Lektion zu erteilen und in den Massenkommunikationsmitteln Erwähnung zu finden. Über solche Dinge ernsthaft zu reden zwingt einen lediglich der Umstand, dass die zahlreichen und zweifelhaften Attacken immer häufiger nicht einfach nur Teil des ideologischen Mainstreams sind, sondern von Gesetzesvorlagen und sogar Gesetzen.

Im Krasnojarsker Stadtrat herrscht eine bemerkenswerte Situation. Erstens, hat „Vereintes Russland“ keine Mehrheit. Zweitens – in dem Moment, in dem dieser Text geschrieben wurde, befanden sich die vereinten Russen praktisch in der Lager der Opposition: sie sprachen ihre Haltung anlässlich des Stalin-Denkmals nicht aus. Vertreter der Partei „Patrioten Russlands“ vereinigten sich mit den Kommunisten und der Partei „Gerechtes Russland“ und sammelten Unterschriften für die Aufstellung der Büste. Krasnojarsker Polittechnologen kommentieren diese Situation unterschiedlich, doch die Mehrheit von ihnen errät dahinter so oder so ein ganz offensichtliches politisches Spiel. Der Führer der örtlichen „Patrioten Russlands“, der bekannte Geschäftsmann Anatolij Bykow, ein Mann mit reicher Vergangenheit, versucht dem Bürgermeister und dem Gouverneur seinen Einfluss zu zeigen, sucht Selbstbestätigung in der politischen Arena. Diese These zu bekräftigen oder zu widerlegen dürfte schwierig sein, aber der Gedanke dahinter ist verständlich. Wenn seine Partei eine Entscheidung mit so viel Resonanz durchdrückt, dann haben die „Patrioten“ den Sieg errungen. Wenn nicht – dann haben sie zumindest nichts verloren.

Iwan Serebrjakow wird die rechte Hand Bykows genannt, er hat als Gouverneur kandidiert und steht jetzt an der Spitze der „Patrioten Russlands“ um Stadtrat. Wir begegnen ihm im Restaurant „Europa“ – nach der Ausstattung zu urteilen isst hier das gesamte Deputiertenkorps zu Mittag. Serebrjakow – ein seriöser Mann mit goldfarbenem Doppelkopfadler am Revers. Er erklärt die Notwendigkeit der Aufstellung eines Stalin-Denkmals in Krasnojarsk folgendermaßen:

- Ich möchte, dass es keine historischen Verzerrungen gibt. In diesem Jahr begehen wir den 70. Jahrestag des Sieges. Ich möchte daran erinnern, dass es Stalin war, der als höchster Oberbefehlshaber in Erscheinung trat. Gerade Stalin war der Lenker des Landes in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Krieg. Ich denke, dass diese historische Persönlichkeit zumindest nicht der Vergessenheit anheimfallen sollte. Aber viele haben versucht, das zu tun.

Serebrjakow spricht in sehr provokanter Weise. Er ist der Meinung, dass gewisse Feinde sich nach Kräften bemühen, Stalin aus der historischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg auszuradieren – und mit ihm auch das gesamte russische Volk.

- Aber wieso sollte Stalin denn in Vergessenheit geraten? Sein Rating steigt doch ständig an.

- Präsident Wladimir Wladimirowitsch Putin beruft sich in einigen seiner Interviews auf Stalin. Wir machen die Geschichte für uns, für unsere Nachfahren. Denkmäler – auch sie sind unsere Geschichte. Das, was wir sagen oder in den sozialen Netzwerken schreiben, - das ist nicht dasselbe, wie ein Denkmal. - Serebrjakow antwortet partout nicht auf meine Frage.

- Die heutige Zeit ist auch so schon unruhig, und dieses Denkmal spaltet die Gesellschaft noch mehr.

- Menschen, die das sagen, befassen sich mit Populismus. In Irkutsk stehen ein Koltschak- und ein Lenin-Denkmal. Eine Spaltung gibt es dort nicht.

- Stalins rolle während des Krieges bestreitet niemand. Darüber steht in allen Lehrbüchern der Geschichte geschrieben. Aber seine Unterdrückungsmethoden, die riesige Anzahl Opfer – das ist auch ein Tatbestand, über den sich nicht streiten lässt. „Memorial“ beschäftigt sich beispielsweise mit der namentlichen Rekonstruktion aller Opfer.

- Me – mo – ri – al? – sagt Serebrjakow nachdenklich und zieht dabei das Wort in die Länge, als ob er sich schwach daran erinnert, worum es sich dabei handelt. – In irgendeiner Akte sind die kürzlich mal aufgetaucht. Man wollte sie wohl verbieten. Man muss sehen. Aber vor allem muss man verstehen, was in dem Moment geschah, als Stalin die Lenkung des Landes in seine Hände nahm. Aus diesem Anlass äußerte sich Churchill sehr gut: „Stalin hat Russland mit dem Hakenpflug übernommen und mit einer Atommacht abgegeben“. (In Wirklichkeit hat Churchill das überhaupt nicht gesagt. Es ist einer der weit verbreiteten Irrtümer. – „R.R.“). Lassen Sie uns einen Blick auf die Anzahl Menschen werfen, die verfolgt wurden, und mit denen vergleichen, die heute auf den Straßen, durch Drogensucht, durch Selbstmord, sterben. Darüber schweigen die Leute aus irgendeinem Grund. Gerade erst waren der Erste Weltkrieg, die Revolution, der Bürgerkrieg vorbei. Was bekam Stalin, als er an die Macht kam? Zwischen 1925 und 1941 schuf er das Land, das mit Heroismus, Tapferkeit, Ideenreichtum antworten konnte… Gegen uns kämpfte die ganze Welt. Natürlich gibt es Verzerrungen; ich will nicht sagen, dass Stalin in dieser Hinsicht recht hatte. Aber ich kann als Mann des Staates sagen, dass man auf das schauen muss, was mit dem Land war und was daraus geworden ist. Ohne Stalin hätten wir auch den Sieg nicht errungen.

- In Krasnojarsk hat wohl beinahe jeder Angehörige, die unter der Zeit der Repressionen zu leiden hatten. Ist das bei Ihnen auch der Fall?

- Meine leibliche Großmutter war die Tochter eines Volksfeindes. Mein Urgroßvater wurde als Volksfeind erschossen. Aber ich kann ihnen sagen, dass das eben eine Erscheinung jener Zeit war.

- Eine Zeit, in der man Ihren Urgroßvater einfach verhaften und erschießen durfte?

- Wer ist ein Patriot? Das ist ein Mensch, der die Interessen seiner Heimat über seine eigenen stellt.

Das ist nicht Stalin!

Aber sowohl ich, als auch mein Gesprächspartner verstanden, wie es scheint, die aufrichtige Natur der Geschichte mit dem Stalin-Denkmal. Mir kam es sogar so vor, als ob er zu guter Letzt andeuten wollte: all das ist – ein typischer Einwurf. Es lohnt nicht sich zu bemühren. Doch die eine Sache ist der Kampf um Einfluss auf hoher administrativer Ebene, die andere – der leuchtende Glaube an den Großen Schiffsführer.

Der Hauptanhänger der Idee von der Aufstellung einer Stalin-Büste in Krasnojarsk ist wohl Pjotr Medwedew. Er – Abgeordneter der örtlichen Gesetzgebenden Versammlung und erster Sekretär des Regionskomitees der Kommunistischen Par5tei der Russischen Föderation. Medwedew tritt für die unverzügliche Aufstellung der Bronzebüste des Führers ein. Allerding geht er Diskussionen aus dem Weg – mal willigt er ein, beim lokalen Fernsehen auf Sendung zu gehen, überlegt es sich dann aber anders, mal verspricht er ein Interview zu geben, verschwindet dann aber vorher auf geheimnisvolle Weise.

Auf der Suche nach Medwedew begab ich mich mitten ins Herz des kommunistischen Krasnojarsk. Auf dem Treppenaufgang begegnet mir Stalin. Seit zehn Jahren wartet er nun schon auf sein Schicksal. in DIESER Zeit hat die Bronze-Büste eine Menge zu sehen bekommen. Die Kommunisten haben mit beneidenswerter Beharrlichkeit versucht, ihre Aufstellung mit Hilfe von Interessenverbänden durchzusetzen. Mit dieser Büste wollte man seinerzeit den Ruf eines ehemaligen Gouverneurs schädigen, und der letzte Versuch das Denkmal aufzubauen wurde Gerüchten zufolge von Wladislaw Surkow persönlich unterbunden. Einen Zwischenraum höher steht die Büste Lenins – klein und aus Gips. Man sieht sofort, wer hier die Hauptperson ist.

- Wir – russische Menschen – erinnern uns an unsere Verwandtschaft. Die Zahl der Teilnehmer am Großen Vaterländischen Krieg wird immer geringer. Die Teilnehmer des Krieges wenden sich an uns, die Kommunisten! - Medwedjew erzählt, wie sich das Volk an die kommunistische Partei gewandt hat, und nun sammeln die Kommunisten aktiv Unterschriften für die Aufstellung der Büste – sie gehen von Haus zu Haus, und die Leute „geben ihre Unterschrift wie nie zuvor“. – Stalin nahm den ersten Platz im Tele-Marathon „Namen Russlands“ ein, er war bei uns in Krasnojarsk. Wir können davor nicht weglaufen. Verstehen Sie? Und wenn unsere führenden Personen nicht dumm im Kopf sind, dann werden sie dem Wunsch der Bewohner der Region Krasnojarsk nachkommen.

Pjotr Medwedjew ist, wie viele Krasnojarsker, - Abkömmling von Opfern politischer Repressionen: „Irgendeiner der Nachbarn denunzierte einen aus Neid – und das war’s: derjenige wurde verhaftet. Aber das ist schließlich nicht Stalin!“ Medwedjew versichert, dass all seine leidgeprüften Vorfahren trotz der Verfolgung für Stalin waren. Er erzählt, dass Stalin bescheiden war, an die einfachen Menschen dachte, und wiederholt die abgedroschenen Phrasen über das Land mit dem Hakenpflug. Im Bewusstsein des ersten Sekretärs handelt es sich bei denen, die gegen das Stalin-Denkmal sind, eher um ausländische Agenten, die Russland verärgern wollen.

- Wer ist gegen dieses Denkmal? Leute wie Swanidse, ausgesandte, hochbezahlte Spezialisten, welche die Sowjetmacht und die Russen hassen und tagelang im Fernsehen plappern. Und wissen Sie, weshalb sie sich so sehr gegen die Errichtung eines Denkmals wehren? Weil sie ihn sogar als Toten noch fürchten!

Nach Meinung Medwedjews unterscheiden sich jene, die gegen das Stalin-Denkmal protestieren, nicht von den „Bezahlten des Bolotnaja-Platzes“.

- Es ist gut, wenn deine Mutter dir die Brust gegeben hat. Und die Abtrünnigen, die nicht von ihren Müttern genährt wurden, schauen vorwiegend dorthin, ins Ausland. – Im weiteren Verlauf teilt der erste Sekretär der kommunistischen Partei Medwedjew mit, was auch so schon aus den Enthüllungsprogrammen der Fernsehsender bekannt ist. Sie wiederzugeben besteht keinerlei Notwendigkeit.

Ein Denkmal für das System

Jeder Tag des Vorsitzenden der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation, Aleksej Babij, ähnelt dem anderen. Er wacht auf, frühstückt und begibt sich ins Archiv. Mit einigen Unterbrechungen geht das nun schon seit mehr als zehn Jahren so. Im Archiv nimmt Babij sich ein großes Bündel alter Dokumente, bewaffnet sich mit einer Lupe und rekonstruiert dann mühselig Vor- und Nachnamen, aber auch Lebens- und Todesumstände, all derer, die in der Region Krasnojarsk Opfer der Stalinistischen Verfolgungen waren.

Lojanski, Timofei Markowitsch, 1893, Pole. Arbeitete als Schneider bei der Genossenschaft. Verhaftet am 21.03.1938. Angeklagt wegen Mitgliedschaft in einer konterrevolutionären Organisation und rechter, trotzkistischer Agitation. Am 22.10.1938 in der Stadt Krasnojarsk erschossen. Am 22.12.1959 rehabilitiert.

Maschukow, Awerjan Aleksejewitsch, 1900, arbeitete in der Kolchose, verurteilt wegen antisowjetischer Agitation zu 7 Jahren Erziehungs-/Arbeitslager. Rehabilitiert.

Milanow, Nikolaj Dmitrijewitsch, 1900, Verzinner, Verhaftung, konterrevolutionäre Agitation, Spionage, Erschießung, Rehabilitation.

Tausende und zehntausende Namen derer, die erschossen oder einfach nur hinter Schloss und Riegel gebracht wurden. Tag für Tag. Alle Namen werden von Aleksej Babij akkurat gesammelt; danach gelangen sie ins „Buch der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen“. Dieses „Buch“ besteht mittlerweile bereits aus zwölf Bänden, und der dreizehnte kommt auch demnächst heraus.

Jedes Frühjahr bereitet Babij sich darauf vor, dass die örtlichen Kommunisten irgendetwas aushecken. Sie wollen etwas aufstellen, umbenennen. Beispielsweise ein Denkmal für Stalin aufstellen.

- Diese Büste wird den Kommunisten nur den Oberschenkel versengen, wie Schuschkin sagte. Sobald die Kommunisten diese, ihre Mumie hervorziehen, beginnen die Journalisten mit der Durchführung von Befragungen, das Thema wird von allen fröhlich erörtert. Und ich muss jedes Mal hingehen und an den Diskussionen teilnehmen – für das Denkmal oder dagegen, ob Stalin gut oder böse war. Ich jage sie immer alle schon zum Teufel. Denn, egal, ob du ihn lobst oder tadelst, du treibst ihn trotzdem immer voran. Dalag er irgendwo im Regal, eingestaubt – und alles war gut; und plötzlich – peng! Na, wozu sich bei ihnen einschmeicheln? Hier findet ein Austausch von Thesen statt. Wir fangen an zu diskutieren, ob Stalin als gut oder böse einzuordnen ist. Wir diskutieren über ein Mythos. Das Einzige, was wir erörtern müssen – ist das System, in dem Menschen wie Stalin existieren konnten. Dieses System ist immer noch nicht verschwunden. Es macht für mich überhaupt keinen Unterschied, was Stalin für einer ist. Mit dem gleichen Erfolg konnte Trotzkij sich zeigen. Dann hätten sie Stalin irgendwo mit der Eis-Hacke erschlagen, bei den Kommunisten würde Trotzkij hängen und es hätte die „Ärzte-Sache“ (bekannt als „Ärzteverschwörung“; Anm. d. Übers.) nicht gegeben - aber eine andere „Sache“. Das System hätte sich deswegen nicht geändert. Es hätte auch die Kollektivierung und das Jahr 1937 gegeben. Kirow wäre an die Oberfläche geklettert – im Prinzip genau das gleiche. Es lohnt sich, die Invariabilität dieses Systems zu erörtern, und mit Stalin könnt ihr zur **** gehen. An seiner Stelle hätte ein beliebiger anderer sitzen können.

Babij hat über einen langen Zeitraum offene Briefe geschrieben, in den Massenmedien Aufsehen erregt, Leute getroffen, mit Interessenverbänden gearbeitet – kurz gesagt: er hat wie ein echter Politiker alle Hebel in Bewegung gesetzt. Doch diesmal hat er es nicht ausgehalten. Nach der turnusmäßigen lauten Nachricht darüber, dass Deputierte erneut ein Stalin-Denkmal aufstellen wollen, lud sich Babij die zwölf Bände des „Buches der Erinnerung“ auf den Buckel und schleppte, aufgezeichnet von einer einzigen Videokamera, das Ergebnis seiner langjährigen Arbeit zum Hauseingang des Stadtrats. Man ließ ihn sogar eintreten. Er brachte den Arm voller Bücher ins Archiv. Kaum jemand wird sie in überschaubarer Zukunft durchblättern, aber es war eine schöne Geste.

Der rote Monarch

Dieses Gespräch hat kein Ende. An seinen Beginn kann sich schon niemand mehr erinnern. Für Stalin. Gegen Stalin. Für die Heimat. Gegen die Heimat. Irgend einer macht politische Karriere, ein anderer erfährt bei dieser Geschichte religiöse Gefühle. Die Bot-Armeen (Bot = Computerprogramm, das weitgehend automatisch sich wiederholende Aufgaben abarbeitet, ohne dabei auf eine Interaktion mit einem menschlichen Benutzer angewiesen zu sein; Anm. d. Übers.) aus Moskau und Sankt-Petersburg stimmen in den sozialen Netzwerken für die Aufstellung der Stalin-Büste. Ganz unerwartet fällt die städtische Kommission für Denkmalsangelegenheiten die Entscheidung, eine Skulptur von General Lebed, des ehemaligen Regionsgouverneurs. Natürlich bringt einen das auf den Gedanken, dass die Administration von Bürgermeister Akbulatow dem Geschäftsmann Bykow mit dem Denkmal einen Gegenschlag versetzt – Bykow und Lebed waren seinerzeit zerstritten und bei den Wahlen unversöhnliche Kontrahenten. Es scheint, dass diese wahnwitzige Geschichte niemals ein Ende findet. Politiker, Geschäftsleute und Verrückte streiten sich über die Figuren historischer Persönlichkeiten - wie Kinder über Figuren von Ninja-Schildkröten, Batman und Spiderman.

Ich unternehme den letzten Versuch, mich in dieser Unsinnigkeit zurecht zu finden. Der Polittechnologe Leonid Solnikow fängt an Pfeife zu rauchen, und schaltet, anstatt einen trostlosen Kommentar abzugeben, weshalb man für Josef Stalin ein Denkmal aufstellen soltle oder nicht, den Film „Der rote Monarch“ ein. Bei „Filmsuche“ hat er insgesamt sechs Sterne erhalten, die Resonanzen sind nicht gerade wohlwollend. Aber das ist auch eine Antwort. „Der rote Monarch“ – eine geniale politische Farce: der boshafte, aber scharfsinnige Gnom Stalin, der um ihn bangende Berija, Tod, hartnäckiges Bitten, Heuchelei, ein platter, doch in seiner Plattheit ganz vortrefflicher schwarzer Humor.

Wenn du dir diesen Film anschaust, wird verständlich, dass alles, was wir über Stalin wissen – ein Mythos ist. Unsere ganze Diskussion mit klugen Persönlichkeiten über die Rolle Stalins in der Geschichte – ist eine einzige Farce. In den Schreien der einander bekämpfenden Seiten ist keine Stimme zurechnungsfähiger Historiker und Geschichtsforscher herauszuhören, denn sie schreien nicht. Zuerst war der Führer allein – der Große Stalin, Kämpfer und Prachtkerl. Dann ein anderer Stalin – enthüllt von Chruschtschow. Anschließend noch ein weiterer Stalin, und noch einer und noch einer. Heute ist Stalin ein anderer. Morgen wird seine Bronzebüste auf den Jubiläumsmünzen erscheinen.

Wladislaw Moissejew

Russischer Reporter, 16.04.2015


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