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Foto: ngs24.ru

In Der Region, die mit den Schicksalen von 600.000 Repressionsopfern verknüpft ist, will man ein Stalin-Denkmal errichten

Die Geschichte Sibiriens und der Region Krasnojarsk ist verbunden mit Verbannungen, Repressionen, Ungnade, Enteignung von Großbauern – in jeder geschichtlichen Epoche auf die eine oder andere Weise… Allein während der Stalinzeit waren mit dieser Region in irgendeiner Form die Schicksale von beinahe einer Million sowjetischer Menschen verflochten. Ungefähr 150.000 von ihnen wurden hier erschossen. In der Region Krasnojarsk gibt es nicht nur Nachfahren der Verbannten und Enteigneten, die bis heute am Leben sind und unmittelbare Teilnehmer und Augenzeugen jener schrecklichen Epoche waren. Indessen tritt mehr als die Hälfte der Krasnojarsker für die Errichtung eines Stalin-Denkmals im Zentrum der „Hauptstadt der Repressionen“ ein. Die Zeitung „Streng geheim“ hat beschlossen, sich mit dieser praktisch unbegreiflichen Situation auseinanderzusetzen.

Für den Anfang – einfach einige Daten. Aus unterschiedlichen Epochen unserer Geschichte.

Am 7. April 2015 feierte man in unserem Land die unschöne Erinnerung an ein „Jubiläum“. Vor genau 80 Jahren, am 7. April 1935, unterzeichnete Josef Stalin die Anordnung des Zentralen Exekutivkomitee der UdSSR, zu der es weltweit keine Analoge gibt. Entsprechend diesem Dokument beschloss man, ab diesem Datum auch 12-jährige Kinder mit der Höchststrafe (Tod durch Erschießen) zur Verantwortung zu ziehen. Ziel – Verminderung der Kinderkriminalität.

Chronik und Retrospektive

Mitte März 2015 teilte ein Krasnojarsker, der Vorsitzende der regionalen „Memorial“-Gesellschaft Aleksej Babij mit, dass sich in der Datenbase der Organisation (genauer gesagt, indem von ihr geschaffenen Martyrolog) die Namen von 130.000 Repressionsopfern befinden, deren Schicksale mit der Region Krasnojarsk verknüpft sind. Dabei wurden in nur zwei Jahren (1937-1938) in der Region 12.000 Menschen erschossen.

Am 5. März 2015 führten die Krasnojarsker Kommunisten anlässlich des Todestages des Führers eine mit der Stadtverwaltung abgesprochene Versammlung zu Ehren Stalins durch. Übrigens – zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt: zuvor hatten die Kommunisten die Geburtstage Lenins gefeiert, Aktionen organisiert, die ganz bestimmte Absichten „vorantrieben“, aber Stalin wurde auf ähnliche Weise zum ersten Mal hier „gefeiert“.

„Irgendwelche politischen Losungen brachten die Teilnehmer der Zusammenkunft nicht vor; Ziel der Aktion war das Gedenken an Stalin, denn das ist auch ein Teil unserer Geschichte, und wenn man sie nicht kennt, lohnt es sich kaum, über die Zukunft zu sprechen“, - meint Sergej Kotow, einer der Organisatoren der Versammlung .

Das, was in der Zeit zwischen diesen Daten geschah, hat nicht nur die Stadt, sondern, ohne Übertreibung, das ganze Land aufgewühlt.

Am 18. März wandten sich 16 von 36 Deputierten des Krasnojarsker Stadtrats mit einer Petition an die Stadtverwaltung und die Regionalregierung – mit der Bitte, ein Territorium für die Aufstellung eines Josef Stalin-Denkmals zuzuweisen. Es ist, übrigens, bereits seit langem fertig und steht derzeit im Gebäude des Regionskomitees der KPRF. Nur hatte es bislang keinen würdigen Anlass für seine Errichtung gegeben. Heute, am Vorabend des 70. Jahrestages des Sieges, ist genau dieser Zeitpunkt gekommen. Es versteht sich von selbst, dass alles getan wird, um die Veteranen zu ehren.

„Die Geschichte unseres Landes ist unzertrennlich mit der Tätigkeit und den Errungenschaften Josef Wissarionowitsch Stalins verbunden. An uns wandten sich Teilnehmer am Großen Vaterländischen Krieg mit der Bitte, die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Dieses Denkmal soll in Krasnojarsk zu dem Zweck aufgestellt werden, dass die Veteranen und Bürger sich daran erinnern, wofür ihre Großväter gekämpft haben, und zwar „Für die Heimat! Für Stalin!“ – erklärt der Vorsitzende des Regionskomitees der KPRF Pjotr Medwedjew.

Fünf Tage später, am 23. März, wendet sich der Vorsitzende der „Memorial“-Organisation an die Stadtleitung.

Wir erlauben uns, ihn mit geringfügigen Kürzungen anzuführen:

„An das stellvertretende Oberhaupt der Verwaltung der Stadt Krasnojarsk A.L. Ignatenko

Sehr geehrter Andrej Leonidowitsch!

(Ich wende mich an Sie als Vorsitzender der Kommission zur Verewigung der Erinnerung an die Bürger und geschichtlichen Ereignisse auf dem Territorium der Stadt, welche die Frage über die Aufstellung einer Stalin-Büste in Krasnojarsk behandeln wird.

Die Frage der Aufstellung einer Büste wurde von der Kommission bereits 2005 erörtert. Damals wurde der Beschluss gefasst keine Stalin-Büste in Krasnojarsk aufzustellen.

Da die Befürworter ihrer Aufstellung, soweit uns bekannt ist, mit dem Sammeln von Unterschriften für die Büste begonnen haben, lassen wir Ihnen nunmehr unsererseits die von uns gesammelten Unterschriften von Krasnojarsker Einwohnern zukommen, die eindeutig gegen eine Stalin-Büste sind. Leider konnten diese Krasnojarsker nicht selber unterschreiben, da sie infolge der stalinistischen Politik erschossen wurden, in Lagern oder in der Sonderansiedlung umkamen. Zu ihnen gehören nicht weniger als 12000 Krasnojarsker, welche in den Jahren 1937-1938 nach den Limit-Regelungen erschossen wurden, die Stalin zuvor persönlich festgelegt hatte.

Wir übergeben Ihnen 12 Bände des Buches der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen in der Region Krasnojarsk… In den ersten zehn Bänden finden sich Listen von Bürgern der Region Krasnojarsk (5006 Personen), die aus politischen Gründen verhaftet und im weiteren Verlauf rehabilitiert wurden. Weitere zwei Bände enthalten Angaben über 9188 in der Region Krasnojarsk enteignete Großbauern-Familien (in jeder Bauern-Familie gab es nicht weniger als 5 Personen). Die Arbeit über entkulakisierte Bauern hat gerade erst begonnen; daher wird die genannte Zahl sich noch um ein Vielfaches erhöhen. Außerdem hat das Informationszentrum der Haupt-Verwaltung des MWD für die Region Krasnojarsk entsprechend dem Gesetz „Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen“ N° 1781-1 vom 18. Oktober 1991, mehr als 550000 Bescheinigungen über die Rehabilitierung von Sondersiedlern ausgegeben, die ihre Verbannung in der Region Krasnojarsk verbüßten…

Es ist notwendig, die Meinung dieser mehr als 600000 Personen zu berücksichtigen, wenn die Entscheidung über die Aufstellung bzw. Nicht-Aufstellung der Büste getroffen wird. Jeder der Geschädigten war ein lebendiger Mensch, der sein eigenes Schicksal besaß. In dem Buch sind nicht nur biographische Daten, sondern auch Fotografien dieser Menschen veröffentlicht. Bitte lesen Sie, bevor sie Ihre Entscheidung treffen, diese Informationen durch, schauen Sie in die Augen dieser Menschen, deren Fotos im Schlussteil der Bücher abgebildet sind. Wir drängen darauf, dass alle Mitglieder der Kommission sich vor der Sitzung mit diesen Büchern vertraut machen, und dass sich diese Bücher während der Sitzung der Kommission an einer gut sichtbaren Stelle im Sitzungssaal befinden.

Hochachtungsvoll - Der Vorstandsvorsitzende der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation für Geschichtsaufklärung und Menschenrechte - Aleksej Babij

Am folgenden Tag verkündete der Bürgermeister von Krasnojarsk, Edcham Akbulatow, dass eine Entscheidung über das Aufstellen der Büste nicht ohne Sonderkommission erfolgen werde, zu der Vertreter der Behörden, der Öffentlichkeit und der Intelligenz gehörten.


Auf dem Foto: HÄFTLINGE DES NORILLAG
Foto: Vitalij Iwanow, TASS

Zwei Denkmäler für Stalin

In der Region Krasnojarsk gibt es schließlich schon Stalin-Denkmäler. Und zwar wurden sie ganz im Norden der Region errichtet, 150 km voneinander entfernt. Das erste errichteten Gefangene des Norilsker Erziehung-/Arbeitslagers (Norillag) für den Führer.

Das zweite errichtete er sich praktisch selbst.

Beginnen wir mit dem zweiten.

Im Norden der Region Krasnojarsk befindet sich die Siedlung Igarka. Heute machte ihre Bevölkerung nicht mehr als 5000 Menschen aus. In den vierziger und fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war sie um ein Zehnfaches höher – aufgrund der vielen politischen Gefangenen, und zwar nicht nur Russen, sondern auch verfolgte Deutsche, Litauer, Letten. Sie waren es, die das Norilsker Industriegebiet mit seinen Fundstätten erschlossen, Norilsk erbauten (während sie selber in Baracken hausten) und den heutigen Industrie-Giganten – das Nickel-Kombinat.

Es ist verständlich, dass man für ein beliebiges Großbauprojekt in Bezug auf das Transportwesen eine entsprechende Infrastruktur benötigt. Stalin hatte dazu seine eigene Vorstellung – und so entstand bei ihm die Idee der Verlegung einer Eisenbahnlinie von Salechard nach Igarka, auch „Bauprojekt N° 503“, „Todesstrecke“ oder „Bahnlinie auf Knochen“ genannt. Gebaut wurde sie im buchstäblichen Sinne auf den Knochen von Häftlingen – denn beim Bau des für geheim erklärten Projekts kamen zehntausende Gefangene ums Leben. Zu Stalins Lebzeiten schafften sie es, 1700 km der Magistrale zu verlegen – wenngleich ursprünglich geplant war, dass die Bahnlinie beinahe bis nach Tschukotka führen sollte. Doch sofort nach dem Tod des Generalissimus im Jahre 1953 wurde der Bau eingestellt – man erachtete ihn für unzweckmäßig. Obwohl trotzdem gelegentlich eine Nebenstrecke bestimmungsgemäß genutzt wurde - das heißt für die Bedürfnisse der Geologen und Bauarbeiter des Kombinats. Aber mit der Zeit erwies sich die „Bahnlinie auf Knochen“ für eine weitere Nutzung als völlig ungeeignet. Teilweise wurde sie ausgeplündert – wegen des Metalls demontiert. Und das, was übrigblieb – ist ein wahres Denkmal jener Epoche. Und natürlich auch Stalins.

Und etwas weiter südlich von Igarka befindet sich die Ortschaft Kureika. Hier verbüßte Josef Dschugaschwili von 1914-1916 eine Verbannungsstrafe. Und hier wurde bereits zu Sowjetzeiten ein Stalin Pantheon errichtet.

Der Begriff Pantheon ist natürlich etwas dick aufgetragen, aber jedenfalls wurde und wird es so vom Volk genannt. Aber der Gedenkkomplex in dem alten Ort hinter dem Polarkreis steht im Großen und Ganzen noch. Allein die Geschichte seiner Errichtung zählt etwa 20 Jahre.

Die Anordnung für die Schaffung eines hiesigen Stalin-Museums wurde 1934 erteilt. Anfangs handelte es ich dabei um ein Museumshaus – die Holzhütte der Familie Pereprygin, bei denen Dschugaschwili in der Verbannung lebte. Als solches gab es das Museum bis 1948.

Danach baute man anstelle der Hütte ein großes hölzernes Gebäude – doch auch dieses stand nur bis 1950.

Ende 1949, als der 70. Geburtstag Stalins gefeiert wurde, stellte das Norilsker Bergbau- und Metallurgie-Kombinat Geld und Leute bereit, damit eben jenes Pantheon in Kureika errichtet werden konnte – diesmal als kapitales und monumentales Bauwerk. Daneben wurde ein Denkmal des Führers errichtet.

Das Memorial wurde von 200 Häftlingen in vergleichsweiser kurzer Zeit erbaut.

Mit der Zeit wurde auch das Pantheon vernachlässigt und verwilderte nach und nach. Obwohl das Gerippe es Gebäudes sowie das Denkmal daneben beide noch an Ort und Stelle stehen. Ebenso wie das 1700 km lange „Denkmal auf Knochen“, welches etwas weiter nördlich errichtet wurde…

Gründe und Folgen

Wie wir bereits wissen, löste die Idee von der Errichtung eines Stalin-Denkmals in Krasnojarsk im Wesentlichen eine Spaltung in der Gesellschaft aus. Der Umfang an Petitionen, gegenseitigen Beschuldigungen (und auch Beleidigungen) in den sozialen Netzwerken, Demonstrationen auf der einen oder anderen Seite…

Doch wohl nicht weniger Resonanz, als die Initiative mit der Büste selbst, rief auch die Umfrage hervor, die operativ durch eine lokale Internet-Veröffentlichung organisiert wurde. Die Frage lautete ziemlich simpel: sind Sie für oder gegen die Errichtung des Denkmals?

Die Antwort „dagegen“ nahm in der ersten Zeit mit doppeltem Stimmgewicht die Führung ein. Aber die eine Woche dauernde Abstimmung endete mit folgender Verteilung: 68% Anhänger und 32% Gegner der Büste. Eine neue Welle der Aktivität in den sozialen Netzwerken, Anschuldigungen, Wehklagen und Beleidigungen – doch die wichtigste Frage ist doch: wie war es möglich, dass solche Resultate in einer Region mit 600.000 Repressionsopfern, dem Norillag, einer Bahnlinie auf Knochen und einem Pantheon hinter dem Polarkreis entstehen konnten?

Hier handelt es sich sowohl um Unkenntnis der Geschichte, als auch der Unwille, ganz bestimmte Momente aus dieser Geschichte zu begreifen, und ich würde sogar sagen – eine gewisse psychologische Schutzhaltung, - meint der unabhängige Politologe Andrej Wereschagin. – Keineswegs alle „Stalinisten“, ich erlaube mir sie so zu bezeichnen, sind Vertreter der alten Generation. Hier funktioniert ein ziemlich komplizierter Mechanismus

Einer seiner Bestandteile sind die endlosen Interpretationen der sowjetischen Geschichte und Wirklichkeit, die sich während der Sowjetzeit wie in einem Kaleidoskop ablösten. Stellen Sie sich doch einmal vor: gestern war irgendjemand ein Gott – heute ist er ein Bösewicht – morgen wird eine gewisse Nachsicht in der Darlegung seiner Gestalt geübt – und schließlich kommt es zu einer neutralen Haltung (Stalin ist ein Teil der Geschichte, er geht nirgends verloren) – und dann, in der Perestroika, ist er erneut der blutige Missetäter… Menschen, die jahrzehntelang mit der Angst vor Tod und Verfolgung herumgelaufen sind, werden es sich nicht gerade erlauben, in der Öffentlichkeit die Taten Stalins z7u missbilligen – sie verbieten es sich sogar, überhaupt in diese Richtung zu denken (selbst wenn man das formell darf).

Das ist einer der Gründe, weshalb heute, 60 Jahre nach dem Tod des Führers, immer noch keine hörbare, deutliche, gesellschaftliche (und staatliche!) Bewertung seiner Persönlichkeit, seiner Taten und allgemein jener Epoche stattgefunden hat. In Deutschland, beispielsweise, hat man das getan. Und schon deswegen käme dort niemand auf die Idee Hitler ein Denkmal zu errichten. Aber bei uns gibt es diese Einschätzungen nicht. Möglicherweise auch deswegen, weil man bei der Analyse der Epoche „ins Lebendige schneiden“ muss: denn dabei wird nicht allein Stalin enthüllt, sondern auch diejenigen, die in den Organen gedient, in den Lagern gearbeitet, ihrer Mitbürger erschossen haben… Am Leben sind ihre Nachfahren, und teilweise auch noch sie selbst. Deswegen also ist das Gericht der Geschichte für uns so schrecklich“.

Andrej Wereschagin führt, nachdem er über diese Erscheinung reflektiert hat, eine Parallele zu anderen Perioden unserer Geschichte an – der Perestroika und den postsowjetischen Jahren: „Während sie unter Breschnjew lebten, begriffen alle, dass Stagnation, Defizit, die Unmöglichkeit des Reisens, Sehen und Hören, Realisierung der Berufswünsche in vollem Maße und schließlich – das Kaufen, nichts als Schrecken und tödliche Schwermut bedeutete. Jetzt haben die Leute das alles. Und schauen Sie mal – bei einigen ist die Nostalgie nach dem spätsowjetischen Stillstand wieder aufgetaucht. Es erinnert sich schon niemand mehr an die leeren Regale und den Eisernen Vorhang. Dafür waren wir damals jung – und das heißt, auch das Gras war grün und die Sonne schien hell am Himmel. Aber das Wichtigste – es war alles vorhersehbar, alles wurde in der einen oder anderen Weise für uns entschieden. Kann sein, dass man das „sich nicht einmischen und vordrängen“ nannte. Einfach und verständlich. In einem Land, in dem sie es nicht geschafft haben, die Leibeigenschaft vollständig abzuschaffen, und schon begonnen haben den Kommunismus aufzubauen – ist der Wunsch erklärbar. Unter Stalin wurde er vollständig verwirklicht. So dass die Gründe für die „Sehnsucht nach einer starken Hand“ auch darin zu suchen sind. Hier liegt, kurzum, auch unsere Geschichte, unsere Politik, unsere Psychologie“.

Übrigens gibt es auch Spezialisten, nach deren Ansicht es sich nicht übermäßig lohnt, den Resultaten ähnlicher Umfragen zu vertrauen.

„Ich lasse den ethischen Aspekt der Durchführung solcher „Internet-Forschungen“, die nach einer unverständlichen Methode organisiert wurden, in Klammern stehen lassen, - sagt der Soziologe der Sibirischen Föderalen Universität Oleg Burmakin. – Letztendlich hindert im Internet den einen oder anderen nichts daran, mehrfach seine Stimme abzugeben, so dass es keinerlei Garantieren dafür gibt, dass nicht beide Seiten an Fälschungen beteiligt waren. Und außerdem haben, wie später der Redakteur der erwähnten Internet-Veröffentlichung zugab, nicht nur Krasnojarsker ihre Stimme abgegeben: ein mächtiger (vielleicht sogar der stärkste) Zustrom kam von Moskauer und Petersburger IP-Adressen.

Aber auch darum geht es eigentlich nicht, sondern vielmehr darum, dass derartige Umfragen selbst das Interesse zum Problem entfachen und in sich weit von jeder Vernunft entfernt sind. Die Anhänger Stalins (vielleicht sind es nur ganz wenige) führen die Ergebnisse der Umfrage als Beweis für ihre Rechtschaffenheit und Stärke an. Die Gegner fangen an, sämtliche Glocken zu läuten und sind entsetzt: da sieht man mal, wohin wir gekommen sind. Es folgt eine weitere Welle von Wortwechseln, Argumenten, Spaltungen… In der Summe erscheint der halb vergessene Führer als Statue eines Kommandeurs auf öffentliches Ersuchen, wo man es überhaupt nicht erwartet hat.

Verstehen Sie mich richtig: die Taten Stalins darf man nicht vergessen, all das erfordert Analysen, Einschätzungen und Begreifen und möglicherweise auch Reue. Nur sind hier stürmische Emotionen nicht gerade der beste Helfer. Und hinter solchen Internet-Befragungen verbirgt sich nichts, außer Emotionen. Man kann sogar sagen, dass sie Stalin zum Nutzen gereichen /(wenn man es so ausdrücken kann). Denn der Mensch ist ein kollektives Wesen. Wenn man unaufhörlich auf ihn einredet, dass 90% der Bevölkerung dafür sind, kann es sein, dass er in irgendeinem Moment auch aufhört, an seine Rechtschaffenheit zu glauben“.

Memoriale Epidemie

Übrigens ist in Krasnojarsk in letzter Zeit eine wahre „memoriale Epidemie“ Epidemie ausgebrochen – ein Vorschlag nach dem anderen wird für die Organisierung von Gedenkstätten eingebracht. So wird in der Stadt aktiv die Frage über das Aufstellen des Denkmals für einen weiteren Akteur erörtert (und ist auch bereits beschlossene Sache) – Aleksander Lebed. Nach Krasnojarsk kam er zum ersten Mal am Vorabend der Gouverneurswahlen 1998 und verwechselte die Region von Anfang an mit der Region Krasnodar. Gouverneur war er bis 2001. Diese vier Jahren sind den Krasnojarskern als nie dagewesene und unaufhaltsame „Aneignung“ von Industriegiganten in der Erinnerung geblieben, welche Lebed und seine Mannschaft organisierten, und der physischen Beseitigung der Eigentümer diese Firmen, die nicht bereit waren, sie „im Guten“ abzugeben. Dabei wurde weder für die Stadt, noch für die Region irgendetwas getan.

Erinnern wir uns, dass am 28. April 2002 der Hubschrauber, in dem sich Lebed auf einer Geschäftsreise durch die Region befand, verunglückte, weil er mit einer elektrischen Leitung in Berührung kam. Von den 19 Personen, die sich an Bord befanden, kamen 8 ums Leben, unter ihnen auch der General. Unter den Toten – Journalisten, Sportler, Beamte. Die Mehrheit derer, die überlebten, sind bis heute Invaliden. Die Besatzungsmitglieder des Hubschraubers wurden wegen Verletzung der Sicherheitsvorschriften vor Gericht gestellt.

Nach einer glaubwürdigeren Version über das Geschehene, war es Lebed selbst, der sich entschloss den Helikopter zu lenken, wobei er dem erfahrenen Piloten befahl, die Kabine zu verlassen…

Jetzt künden die Befürworter der Errichtung eines Denkmals für den General an, dass dies nicht ein Tribut der Erinnerung an seine Politik und Lenkung der Region sein soll, sondern an seine militärische Führung der Luftlandtruppen-Divisionen im Dnjestr-Gebiet, die mit staatlichen Ehren ausgezeichnet wurde und den Abschluss der Chassawjurter Vereinbarungen begünstigte (Chassawjurt = Stadt in Dagestan; das Abkommen markiert das Ende des ersten Tschetschenien-Krieges, unterzeichnet am 30.08.1996 von Aleksander Lebed und Aslan Maskhadov; Anm. d. Übers.) …

„Wäre es nicht logischer gewesen, in dem Fall ein Lebed-Denkmal im Dnjestr-Gebiet oder in Tschetschenien zu errichten – so eine Meinung ist von Krasnojarskern zu vernehmen, und ich erkläre mich da mit ihnen vollkommen solidarisch. Denn es gibt noch ein weiteres Phänomen: wir sind bestrebt, so viele sichtbare, bedeutende Akteure viel zu unzweifelhaft wahrzunehmen, ohne sich in Einzelheiten zu ergehen. Und oft können wir nicht die Grenze ermitteln zwischen der Persönlichkeit, welche die tatsächlich herausragende Rolle im Leben des ganzen Landes spielte, und demjenigen, der das Charisma , den „klingenden“ Namen besaß. Das Übrige ist für uns irgendwie nicht existent, - merkt Oleg Burmakin an. – In Krasnojarsk selbst gibt es nicht wenige Helden der Sowjetunion, die im Großen Vaterländischen Krieg gekämpft haben, doch von der Errichtung von Denkmälern zu diesem Sieges-Jubiläum ist keine Rede. Das hat sogar keiner der Stadt-Deputierten oder gesellschaftlichen Aktivisten auch nur mit einem Sterbenswörtchen erwähnt… Im Großen und Ganzen bin ich der Ansicht, dass die Errichtung der Denkmäler für Stalin und Lebed in gewissem Sinne eine Erscheinung der gleichen Art ist, wenn man sich ein wenig hineindenkt“.

… Verflechtungen der Geschichte, Launen der Erinnerung, Rätsel der Psychologie…

In Krasnojarsk soll eine Versammlung der Kommission zur Verewigung des Gedenkens an Staatsbürger und historische Ereignisse auf dem Territorium der Stadt stattfinden. Und genau bei der Gelegenheit wird das Schicksal der beiden Denkmäler für den General und für den Generalissimus entschieden. Sollte die Frage positiv entschieden werden, dann wird Lebed in unserer Stadt zum 28. April, seinem Todestag, auftauchen, und Stalin zum 9. Mai.

Auskunft

Das Norillag – ein Erziehungs-/Arbeitslager des GULAG, befand sich in Norilsk, in der Region Krasnojarsk. Die Arbeitskraft der Lager-Häftlinge wurde beim „Norilsker Bauprojekt“ eingesetzt. Während des zweiten Weltkriegs starben im Norilsker Erziehungs-/Arbeitslager 7223 Personen. Hauptgrund für ihren Tod, dass die Gefangenen völlig unzureichend verpflegt wurden, wobei das Essen selbst keine angemessene Menge Vitamine enthielt.

Mit Befehl N° 0348 des MWD vom 22. August 1956 wurde der Betrieb des Norillag eingestellt; es wurde angeordnet, das Erziehungs-/Arbeitslager ab dem 1. September 1956 zu liquidieren und die Auflösung des Lagers bis zum 1. Januar 1957 abgeschlossen zu haben.

Im Erziehungs-/Arbeitslager starb fast jeder vierte Gefangene, in den Erziehungs-/Arbeitskolonien – jeder dritte.

Zu seiner Zeit verbüßten die Schriftsteller Lew Gumiljow, der Schauspieler Georgij Schschjonow, der sowjetische und russische Architekt, Konstrukteur, Bau-Ingenieur, Theoretiker für Bauprojektierung Jurij Dychowitschnij, der weißrussisch-sowjetische Dichter Pawel Prudnikow, der sowjetische Fußballer Andrej Starostin und andere ihre Haftstrafen.

 

Veröffentlicht: 22. April 2015 – 15.40h – 12617 „Streng geheim“, N° 14/343
Irina Michailowa

Sehen Sie das Original-Material auf der Seite „Streng geheim“: HTTPS://www.sovsekretno.ru/articles/id/4754/

 


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