Seit einigen Jahren sammle ich Informationen über Opfer der Stalinistischen Repressionen, die ihre Strafe im Suchobusimsker Bezirk verbüßt haben. Viele von ihnen arbeiteten in der Minderlinsker Landwirtschaftskolonie (später eine Sowchose des NKWD), Hilfswirtschaft des Norilsker Kombinats, des Norilsker Umerziehungs- und Arbeitslagers) – der Sowchose (Erholungsheim) „Tajoschnij“. In diesen Unterabteilungen gab es tausende Gefangene und Verbannte. Unter ihnen befanden sich nicht wenige Menschen mit einem bemerkenswerten Schicksal.
Am 7.Oktober 1953 traf in der Sowchose „Tajoschnij“ ein Mann von etwa 40 Jahren ein. Der Mitarbeiter der Personal-Abteilung, schon ganz erschöpft vom Schreiben der zahlreichen ausländischen Familiennamen, fragte trotzdem wieder nach dessen Vor- und Vatersnamen.
- Dokler (Doclaire), Louis Peggi, geboren 1912 in Helsingfors (Helsinki).
- Nationalität?
- Finne.
Vertreter welcher Nationen nicht alle in der Sowchose „Tajoschnij“ arbeiteten! Aus den europäischen Ländern und Republiken – Deutsche, Ukrainer, Kalmücken, die Völker des Baltikums, Polen, Juden, Komi, Rumänen, Ungarn, Gagausen, Serben, Griechen, Tschechen… Aus Asien – Armenier, Aserbeidschaner, Georgier, Kurden, Kasachen, Usbeken, Turkmenen, Kirgisen…. Auch gab es hier Chinesen, Koreaner, Iraner, Türken.
In den Lagerabteilungen lebten auch die Finnen Andrej Puronen und Otto Jalkanen (Jalkonen).
Aber der Neue hatte einen ungewöhnlichen Nachnamen. Offensichtlich hatte er sowohl französische, als auch italienische Wurzeln. Louis – ist ein ziemlich verbreiteter Vorname in Frankreich; er bedeutet „berühmter Krieger“. Der Nachname „Dokler“ („Doclaire“) ist wohl auch eher französischen Ursprungs. Peggi – klingt so ähnlich wie der italienische Name Peigi…
Louis wurde als ungelernter Arbeiter im Bau-Kontor eingestellt.
In der Sowchose war eine rege Bautätigkeit im Gange. 1952 wurde das Norilsker Kombinat auf Anordnung des Ministerrats der UdSSR und Verfügung des Ministers des MWD der UdSSR Kruglow ersucht, zum 1. Januar 1953 das Erholungsheim, das Pionierlager und das Zentral-Gehöft der Sowchose „Tajschnij“ den Jenissei weiter flussabwärts zu verlegen.
An der Mündung des Flusses Istok entstand eine Basis des Bau- und Montage-Kontors N° 12. Vor Ort wurden zwei selbständige Bau-Abschnitte organisiert. Die Arbeitsfront war groß; daher schickte man alle Neuankömmlinge in der Regel zum Bau. Von Januar bis Oktober wurden 365 Personen in die Sowchose aufgenommen, 189 von ihnen wurden aus anderen Unterabteilungen des Kombinats hierher verlegt.
Bis zum Januar schafften sie es nicht, aber im Oktober 1953 zog das Zentral-Kontor dann doch endlich in die 4. Abteilung um. Übrigens arbeiteten zu der Zeit in der Wirtschaft (neben dem Kontingent der Lager-Abteilung) 1.738 Mann.
Das Baugeschehen wurde mit noch von einem weiteren Paar Arbeitshände aufgestockt. Und die Tatsache, dass sie einem Arzt mit Diplom des Leningrader Medizinischen Instituts gehörten – wunderte niemanden. In „Tajoschnij“ konnte man in jenen Jahren mit Säge, Spitzhacke oder Spaten in der Hand Konstrukteure, bekannte Ingenieure, Pädagogen, Linguisten sehen. Allen war der Stempel des § 58 aufgedrückt worden.
Die Abgeschiedenheit Sibiriens hatte großen Bedarf an medizinischem Personal. Es fehlte vor allem an qualifizierten Ärzten. Aber die Sonder-Kommandantur erlaubte es Dokler (Doclaire) nicht, einen weißen Kittel zu tragen. Er war ebenfalls ein „Volksfeind“.
In „Tajoschnij“ war ein Krankenhaus mit 25 Betten, einem Ambulatorium, einem Säuglingsheim in Betrieb, und in allen vier Abteilungen gab es Sanitätsstationen. Aber in allen Einrichtungen gab es die notwendige Anzahl Spezialisten. Mehr als 90% von ihnen waren Verfolgte aufgrund politischer Motive. Die Ärzte Nikolaj Ilitsch Nesterow, Julentsch Semjonowitsch Erenzenow, Grigorij Isaakowitsch Rosowskij, Margarita Aleksejewna Megeschezkaja, die Krankenschwestern und Feldscher – Leonid Michailowitsch Popow, Alma Arut, Walija Termanis, Ona Boguschite, di8e Laborantin Beruta Dukschtaite waren entweder Verbannte, Sondersiedler oder Ausgesiedelte. Alle mussten sich monatlich in der Sonder-K9ommandantur melden und besaßen nicht das Recht, sich von ihrem Aufenthaltsort zu entfernen.
Anstelle eines Ausweises händigte man Dokler in der Suchobusimsker Abteilung des MGB ebenfalls eine vorübergehende Verbannten-Bescheinigung aus. Es kam das 17. Jahr der Unfreiheit…
1936 beendete der junge Mann voller Hoffnungen sein Studium am Institut. Er träumte davon, sein Leben der edelmütigsten Mission zu widmen – Menschen gesund zu machen, ihnen die Lebensfreude wiederzugeben.
Hätte er geahnt, was noch vor ihm lag…
In dieser Zeit entfalteten sich in der Sowjetunion die Repressionen gegen Personen ausländischer Nationalität. Finnland, das früher zum Russischen Imperium gehört hatte, wurde ab Dezember 1917 ein unabhängiger Staat. Und nun hatten sich Sowjet-Russland und Finnland bereits zweimal im Krieg befunden.
Das NKWD erfasste alle „verdächtigen Personen“. Es ist nicht verwunderlich, dass in ihren Kreis auch der Absolvent des Medizinischen Instituts geriet – „Ausländer“. Es war nicht von Bedeutung, dass Louis Doklers Eltern schon bald nach seiner Geburt von Helsingfors nach Sankt-Petersburg umgezogen waren. Zu allem Unglück war Dokler auch nicht proletarischer Herkunft.
Bald nach der Verhaftung verurteilte ihn eine „Troika“ zu drei Jahren Freiheitsentzug. Zu der Zeit, als der „Konterrevolutionär“ seine Strafe verbüßte, ereignete sich der Dritte Sowjetisch-Finnische Krieg. Er dauerte 105 Tage – vom 30. November 1939 bis zum 12. März 1940. Die Streitkräfte waren ungleich, doch die Rote Arbeiter- und Bauern-Armee erlitt in den blutigen Kämpfen riesige, mit nichts zu rechtfertigende Verluste.
Und im Lande verschärften sich die Verfolgungen gegen die Finnen. 1941 wurde Dokler erneut verhaftet. Während des Ermittlungsverfahrens brach der Große Vaterländische Krieg aus. Finnland trat auf der Seite Deutschlands in den Zweiten Weltkrieg ein.
1941 wurde Louis Dokler von einer Sondersitzung wegen konterrevolutionärer Tätigkeit zu 8 Jahren Lagerhaft verurteilt.
Wo er die Strafe verbüßte – ist unbekannt.
Offensichtlich wurde er 1949 entlassen. Doch bald darauf kam eine neue Strafe – die Verbannung.
Schon am 21. Februar 1948 brachte das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR das Dekret „Über die Verschickung besonders gefährlicher Staatsverbrecher zur Strafverbüßung in die Verbannung – zur Ansiedlung in entlegenen Gegenden er UdSSR“. Zu den „gefährlichen Verbrechern“ gehörten mit wenigen Ausnahmen alle, die nach § 58 verurteilt worden waren. Begründet wurde das damit, dass diese Personen angeblich „aufgrund ihrer antisowjetischen Verbindungen und feindlichen Aktivitäten“ eine Gefahr darstellten.
Diejenigen, die bereits freigelassen worden waren, wurden erneut verhaftet. Es gab keinerlei Untersuchungsverfahren, sondern eine Sondersitzung des MGB erlegte ihnen einfach aufgrund des alten, an den Haaren herbei gezogenen Falls eine neie Strafe auf – die „dauerhafte“ Verbannung. In diesem Dekret waren die Aussiedlungsorte definiert: der Bezirk Kolyma, einige Gebiete Kasachstans sowie das Gebiet Nowosibirsk und die Region Krasnojarsk. Es war vorgeschrieben, diese Verbannten-Kategorie „50 km nördlich der Transsibirischen Eisenbahn-Magistrale“ anzusiedeln.
1949 stellte das Bezirksgesundheitsamt den ehemaligen Gefangenen-Arzt im Ärzterevier ein, das sich in der Ortschaft Tschadobjez befand. Ob er bereits früher eine Familie besaß oder erst in Tschadobjez heiratete, ist nicht bekannt. 1950 bekam er eine Tochter.
Seine Ehefrau, geboren 1916, hieß Aleksandra Matwejewna (Kulochowa, Kulakowa? – In den von mir gefundenen Dokumenten war der Nachname unleserlich). Sohn Wladimir, geboren 1936? Tochter Dokler Omilzy-Louis? (Ebenfalls nicht zu entziffern).
Im Amt eines Arztes blieb er bis 1952. Der politisch unzuverlässige Spezialist wurde zum Feldscher degradiert und zum Leiter der medizinischen Station ernannt.
Unlängst schickte mir die Leiterin der Personalabteilung des Bogutschaner Zentral-Krankenhauses, N.N. Pustowalowa (ihr gilt mein herzlicher Dank!), auf Anfrage den gescannten Befehl über die Ernennung Doklers zum Leiter der medizinischen Station aus dem Jahre 1952.
Die Ortschaft Tschadobjez gehört jetzt zum Bezirk Kemerowo. Aber auf meinen Aufruf, veröffentlicht in der Bezirkszeitung „Sowjet-Priangare“, hat sich niemand gemeldet. Tschadobjez ereilte das Los eine Ortschaft ohne Perspektiven zu sein. Viele Einwohner verließen sie, und an den Doktor mit dem ausländischen Familiennamen erinnert sich schon niemand mehr.
… Beim Bauabschnitt der Sowchose „Tajoschnij“ arbeitete Dokler nicht sehr lange. Am 3. Juni 1954 kündigte er auf eigenen Wunsch. Die Rehabilitierung der ungesetzlich verfolgten Bürger hatte begonnen. Er und die anderen Verbannten wurden aus der Aufsicht der Sonderkommandantur abgemeldet, und danach fuhr er sogleich ab.
Wie sein weiteres Schicksal verlief, konnte bis jetzt nicht geklärt werden.
Werte Leser! Vielleicht erinnert sich jemand an den Leningrader Arzt Louis Peggi
Dokler? Was war er für ein Mensch? Wo hat er gearbeitet? Mit wem war er
befreundet? Was erzählte er über sich?
Ich bitte alle, die Louis kannten, sich zu melden. Lassen Sie uns mit vereinten Kräften das Schicksal dieses völlig unschuldigen Mannes rekonstruieren.
Olga Wawilenko
Haupt-Redakteur der Zeitung „Land-Leben“
„Land-Leben“, 8. Mai 2015