Norilsker Chronograph
Kann man den GULAG besiegen? Die Antwort gibt uns die 80-jährige Geschichte der Stadt und des Kombinats am 69. Breitengrad. Und sie lautet – ja.
Am 25. Juni 1935 unterschrieb der Volkskommissar für innere Angelegenheiten der UdSSR Genrich Jagoda „in Ausführung der Anweisung des Zentral-Komitees und des Rates der Volkskommissare vom 23. Juni 1935, N° 1275-198, streng geheim, bezüglich der Übertragung des Norilsker Nickel-Kombinats an die Zuständigkeit des GULAG, einen aus neun Punkten bestehenden Befehl.
Als erstes war die Übertragung von allem, was Norilsk betraf, aus der Haupt-Verwaltung des Nordmeer-Seewegs an das GULAG vermerkt.
Punkt 2 verlieh dem neu organisierten Lager die Bezeichnung „Norilsker Erziehungs-/Arbeitslager“.
In Punkt vier und fünf wurden als Chefs des Bauprojekts und des Lagers der Ober-Ingenieur „Genosse Matwejew“ und „Genosse Woronzow“ ernannt.
Die folgenden drei Punkte (6, 7 und 8) schreiben vor, höhere Normen für die Nahrungsmittel und die Versorgung mit Ausrüstungsgegenständen zu erarbeiten, sowie im Akkord geleistete Arbeitstagenormen anzurechnen.
Eine besondere Rolle im Schicksal vieler politischer Häftlinge des Norillag spielte die Erlaubnis, als besonderen Anreiz für gute Arbeit die Familie beim NKWD zu registrieren „und dort zu kolonisieren“. Hauptsächlich kamen die Frauen von Spezialisten – natürlich nur dann, wenn sie selber nach der Verhaftung des Ehemannes nicht unterdrückt worden waren, und ihre Kinder. So trafen beim ehemaligen Direktor des MIIT, dem Mitarbeiter des Volkskommissariats für Verkehrswege und Kommunikation, dem Magister der technischen Wissenschaften Aleksander Gramp, 1946 die amerikanische Ehefrau Gertruda Kliwans ein, die am örtlichen Technikum Englisch unterrichtete, wobei ihr gemeinsamer Sohn Jim die erste Schule besuchte. Viele Norilsker Dynastien haben seit der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre ihre eigene Zeitrechnung. Den Ingenieur für Verkehrswege, Valentin Skaligerow, brachten sie 1938 ins Norillag. Bald darauf traf auch seine Frau Galina mit den beiden Kindern dort ein. Galina Skaligerowa unterrichtete Russisch in eben jener ersten Schule, und Sohn Igor kam schon kurz danach ans Institut „Norilskprojekt“, an dem vor und nach der Freilassung sein Vater gearbeitet hatte. Der in Norilsk geborene Enkel von Skaligerow Senior trat in die Fußstapfen des Vaters und Großvaters, indem er seine Studien am Institut ab 1985 aufnahm. Zehn Jahre später wurde Sergej Skaligerow Ober-Ingenieur des Projekts für Verkehrsobjekte und Automatisierung.
Kehren wir zum Befehl zurück, bemerken wir, dass im letzten Punkt allen Organen des NKWD die Verpflichtung obliegt, unverzüglich alle Anfragen des Norilsker Lagers bezüglich des Bau des Kombinats zu beantworten.
Am 28. Juni 1958 schrieb Jefrossinia Kersnowskaja, Sprengmeisterin im Schacht N° 15 und in der Vergangenheit Gutsherrin, ein Gesuch an die Taimyrer Gebietsgewerkschaft, in dem sie sich möglicherweise zum ersten Mal in ihrem Leben um Hilfe an die Behörden wandte. Sie musste in dem Schaft bleiben. 1947 hatte sie selber darum gebeten, aus dem Zentralen Lager-Krankenhaus dorthin gehen zu dürfen, als sie noch Gefangene des Norillag war. Nach ihrer Freilassung im Jahre 1952 und einer Lehrer in Kursen zum Bergbau-Meister wurde sie zur Gehilfin des Revierleiters ernannt. Anschließend arbeitete sie längere Zeit als Bergbau-Meisterin, mehr als zwei Jahre als Bohr-Arbeiterin und zuletzt als – Sprengmeisterin.
- Der Schacht - das ist für mich nicht nur ein zufälliger Beruf, - schrieb diese ungewöhnliche Frau in ihrem ebenso ungewöhnlichen Gesuch, - es ist nicht die Art und Weise, wie hier oder dort gearbeitet wird, sondern eine geliebte Tätigkeit, der ich im Verlaufe vieler Jahre all meine Kraft, mein Wissen und meine Liebe gegeben habe.
Es genügt darauf hinzuweisen, dass ich mich während eines Feuers im Schacht im Jahre 1950 als Freiwillige erbot, zwei Wochen lang an der Unglücksstelle mit Atemschutzmaske zu arbeiten, um dort gemeinsam mit der Grubenwehr Abdämmungen zu verlegen.
Jetzt bin ich 50 Jahre alt, es verbleiben mir noch ein Jahr und vier Monate bis zur Rente, und zum ersten Mal muss ich das berufliche mit meinem persönlichen Interesse zusammenbringen: zufällig wurde entdeckt, dass meine Mutter, die ich 18 Jahre lang für tot geglaubt hatte, in der Rumänischen Volksrepublik lebt. Ich habe mit ihr Kontakt aufgenommen, bin mit ihr, einer alten Frau von 81 Jahren, in Odessa zusammengetroffen…
Als Jefrossinia Antonowna aus Odessa zurückkehrte, erfuhr sie, dass es eine Anordnung gab, sie „aufgrund ihres Geschlechts“ vom Arbeitsplatz zu entfernen, und sie überlegte sich, dass sie, wenn sie in Rente ginge, ihre alte Mutter zu sich holen würde.
- … Ich bitte um Erlaubnis, mein Berufsleben als Schachtarbeiterin auf dem Posten beenden zu dürfen, auf dem ich den meisten Nutzen bringe, und mir weder einen moralischen, noch einen materiellen Schlag zu versetzen, - der umso grausamer wäre, weil er nicht nur mich, sondern auch meine Mutter in Verwunderung versetzen würde…
Sie beließen Kersnowskaja damals im Schacht, obwohl es auch ein Ehrengericht (über sie!) und Veröffentlichungen in der „Polar-Wahrheit“ gab, die vom KGB organisiert worden waren. Nachdem sie in Rente gegangen war, reiste sie 1960 von Norilsk nach Jessentuki. Dort erwarb sie ein halbes Haus, holte ihre Mutter zu sich und lebte dort mit ihr noch ganze vier Jahre glücklich zusammen. Und weitere dreißig Jahre ohne die Mutter, wobei sie nach deren Tod 12 Hefte mit Erinnerungen schrieb, welche 2039 Schreibheft-Kolumnen mit Zeichnungen (703 an der Zahl) enthielten. Bei der Veröffentlichungen erhielten die Erinnerungen die Bezeichnung „Fels-Malerei“.
In Kersnowskajas Archiv sind die von ihr illustrierten Schacht-Übersichten aus den Bergbau-Kursen verwahrt.
Am 29. Juni 1970, um 10 Uhr, ertönte die Sirene des Norilsker Heizkraftwerks, das laut Aussagen von Anatolij Lwow bis zu dem Zeitpunkt die Hälfte des Schmidticha-Kohleberges verschlungen hatte. Die Sirene verkündete, dass das erste Aggregat der Wärmeelektrozentrale auf Gas umgestellt worden war. Im Kombinat hatte man sich auf dieses historische Ereignis bereits zuvor vorbereitet, indem man einen Sonderdienst einrichtete. Objekte für die Umstellung auf Gas waren beide Wärmekraftwerke und alle Fabriken.
Zwei Monate nach dem Heizkraftwerk wurde als erstes der Metallhütten-Unternehmen die Kupferfabrik auf Gas umgestellt („Nadjeschda“ war noch in Planung). UIm März begann dort der Bau der Ventilsteuerungsanlage. Im April reisten die Schmelzer zu den Kupferfabriken im Ural, um beim Umgang mit den Gas-Schmelzverfahren Erfahrung zu sammeln.
Das ganze Kombinat verfolgte aufmerksam, wie der Übergang des Norilsker Metallhüttenwesens auf den neuen Brennstoff umgestellt wurde. Nach der Zuführung des Gases schlugen die Flammöfen noch eine Zeit lang Kapriolen, und es gelang überhaupt nicht, die Temperatur bis zum Schmelzpunkt zu erhöhen. Als sich alles eingespielt hatte, gestanden die Metall-Schmelzer ein, dass das Arbeiten leichter geworden war, der Schmelzvorgang viel gleichmäßiger verlief, ganz zu schweigen davon, dass die Metallwerker nun die schwere Arbeit des Säuberns der Flächen neben den Öfen von Kohlerückständen losgeworden waren.
Allein in der Kupferfabrik stieg die Produktivität der Flammöfen um ein Drittel, wenngleich die allerkühnsten Prognosen einen Zuwachs von lediglich 10-15 Prozent versprochen hatten.
Am 1. Juli 1935 traf in Dudinka der Dampfer „Spartakus“ mit den ersten Bauarbeitern ein – Häftlingen des Norillag und Frachtgut für das Norilsker Bauvorhaben.
Die unfreiwilligen Passagiere der Leichter und Frachträume des mit zwei Rädern betriebenen Schiffes, die zusammen mit dem Leiter des Norilsker Bauprojekts und Lagerleiters Wladimir Matwejew nach Norilsk geschwommen kamen, waren eine Woche lang damit beschäftigt, die Lastkähne zu entladen; anschließend wurde ein Teil von ihnen in drei Etappen zu je 200 Mann nach Norilsk geschickt. Für unterwegs erhielt jeder Häftling einen Kissenbezug mit Lebensmittelvorräten für eine Woche. Nach den Erinnerungen eines der Teilnehmer dieser Ereignisse, Viktor Sossnin, wurden insgesamt ungefähr 2000 Mann nach Dudinka gebracht, nach Norilsk gingen jedoch nur drei Etappen zu je 200 Leuten: „Über den Kossaja-Fluss brachten sie die Menschen mit einem Boot, aber konnte der Bootsführer denn so viele übersetzen? Sie gingen zu Fuß durch das Flüsschen und weiter unter dem Geschrei: „Auseinanderkriechen!“ Sie übernachteten in Boganidka (einige in einem Haus, andere in einem Pferdestall). Die folgende Übernachtung – in Ambarka. Und von dort war Norilsk schon nicht mehr weit“.
Zu der Zeit zimmerten die Gefangenen, die in Dudinka zurückgeblieben waren, für Norilsk Blockhütten zusammen. In zerlegtem Zustand wurden sie hinübertransportiert und ohne jeglichen Plan dort aufgestellt, wo Platz war.
Zwei Jahrzehnte und ein Jahr gehörte das Norilsker Kombinat zum GULAG-System. Erst 1956 wurde der Befehl zur Liquidierung des Erziehungs-/Arbeitslagers unterzeichnet.
„Polar-Bote“, 25.06.2015