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Der Schnee – mein Schicksal

Unter dem Zeichen von Norilsk

In dem Projekt „Einfache Geschichten“, welches zum 80. Jahrestag des Bestehens von „Norilsk Nickel“ gestartet wurde, erzählen Norilsker, die merkliche Spuren in der Biographie der Stadt und des Kombinats hinterlassen haben, über die Zeit und über sich selbst. Für „Autoradio“ und „Europa Plus“ wurden die Hörgeschichten von den verdienten Schauspielern Russlands – Nina Walenskaja, Larissa Potechina, Sergej Igolnikow, Sergej Rebrij sowie der Schauspieler Andrej Ksenjuk. Der „Polar-Bote“ empfiehlt seinen Lesern die erweiterten Versionen der „Einfachen Geschichten“ als Fortsetzung des Jubiläums-Chronographen“.

- Obwohl ich in der Jugend-Redaktion arbeitete, waren die Leute, in deren Mitte ich mich ganz besonders wohl fühlte, in der Vergangenheit Häftlinge gewesen, die man in der Regel zu zehn Jahren nach ein und demselben Paragraphen – 58-10 – verurteilt hatte. Geschichten, Geschichten… Es entstand der Wunsch sie aufzuzeichnen, so lange die Leute noch am Leben waren. Ich versuchte das vor meinen Vorgesetzten zu erwähnen und – erhielt eine wütende Abfuhr…

Die Bekanntschaft mit Tamara Michailowna Potapowa zwang mich zum entschiedenen Handeln. Ihr Vater, Michail Potapow, wurde verhaftet, als Tamara Michailowna die zehnte Klasse besuchte. Der Ingenieur wurde wegen antisowjetischer Agitation zu zehn Jahren Haft verurteilt. Nachdem sie auf irgendeine Weise erfahren hatte, dass ihr Vater sich in Norilsk befand, macht sich Tamara auf die Suche nach ihm. Welche Höllenqualen das achtzehnjährige Mädchen damals durchmachte, kann man sich nur schwer vorstellen. Doch es gelang ihr, den Vater ausfindig zu machen. Nachdem sie eine Arbeit gefunden hatte, war sie während der gesamten Haftzeit ganz in seiner Nähe. Und er – eben jener berühmte Potapow, der die Schneeschutzzäune um die Straßen von Norilsk aufstellte, nachdem er irgendwie die Windrosen, das Gefälle unter unterschiedlichen Blickwinkeln usw. richtig berechnet hatte. So nennt man diese Zäune auch bis heute Potapow-Schneeschutzzäune.

Damit mein Antrag durchkam, klammerte ich mich an ein anderes Sujet. Bis heute wohnt er in Norilsk in der Sewastopol-Straße. Dort stehen Häuser, die mich damals in Erstaunen versetzten. Sie wurden wie in südlichen Regionen gebaut: mit Säulen, mit offenen, nicht Loggien, sondern sogar richtigen Veranden… Im Winter werden sie natürlich vom Schnee verschüttet… Ich machte mich auf die Suche nach dem Architekten, nach dessen Plänen und Entwürfen sie errichtet wurden. Es stellte sich heraus, dass der Mann ein armenischen Architekt, ebenfalls einstiger Häftling, namens Kotschar gewesen war.

Daher also der Titel „Der Schnee – mein Schicksal“. Mein Antrag kam durch. Ich drehe einen Film über die Sewastopol-Straße. Und Tamara Michailowna Potapowa ist es, die über sie erzählt. Sie kannte den Architekten. Dies war auch mein erster Dokumentarfilm.

Die Norilsker Fernsehsender zeigten ihn nicht. Nachdem ich ohne Erlaubnis eine Kopie mitgenommen hatte, von denen es insgesamt fünf gab (der Film war als Schmalfilm aufgenommen worden), machte ich mich im Urlaub auf den Weg nach Moskau zum Zentralen Fernsehen. Wem auch immer ich den Film vorführte – niemand sagte, dass er ihn schlecht fände; sie baten darum ihn zu kürzen, ich kürzte ihn, doch der Film gelangte trotzdem nicht auf den TV-Monitor. Es kam das Jahr 1968. Nachdem ich nach Norilsk zurückgekehrt war, erfuhr ich, dass die verbliebenen vier Kopien auf Befehl der Leitung verbrannt worden waren.

1991, nachdem ich bereits mehr als zwanzig Jahre in Leningrad gearbeitet hatte, kam ich, Regisseur des neuen Kanals „Russisches Video“ nach Norilsk und verkündete vom Fernsehbildschirm meinen Wunsch, einen Film über ehemalige Gefangene des GULAG drehen zu wollen. Ich beraumte Datum und Ort für eine Begegnung an. Es kamen etwa 25 Personen. Sie waren im Wesentlichen auch die Helden des Films. Ich bat sie, sich zu einer Kolonne aufzustellen. Zwei Kameramänner waren in Bereitschaft.

Es herrschte heftiges Schneegestöber. Wir gingen bis zum Lenin-Prospekt . der zentralen Straße der Stadt. Und genau mit diesen Bildern beginnt auch der Film „Der Schnee – mein Schicksal“.

Igor Schadchan, Regisseur, Dokumentarfilmer

„Polar-Bote“, 16.07.2015


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