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Sühne

Norilsker Chronograph

Vor einem viertel Jahrhundert rief Serafim Snamenskij bei der Einweihung der Kapelle am Fuße des Schmidticha-Berges, welche den Grundstein des Gedenkkomplexes „Norilsker Golgatha“ legte, die Versammelten dazu auf, nicht nur das Gedenken an jene zu wahren, die in dieser Erde ruhen, sondern auch die Lebenden zu lieben und zu ehren und einander in der Not zu helfen. Dem 80-jährigen Doktor waren die tragischen Folgen der Verantwortungslosigkeit des Einzelnen vor den Menschen und der Menschen vor dem Individuum so gut bekannt wie keinem anderen.

Nicht nur das Badehaus

Am 18. September 1901 wurde das zukünftige Korrespondenz-Mitglied der Akademie für Bauwesen und Architektur der UdSSR Gework Kotschar geboren. Vor seiner Zeit in Norilsk nahm der Schüler der Architekten Scholtowskij, Schtschukin, Wjesniny, einer der Begründer der Allrussischen Gesellschaft proletarischer Architekten aktivsten Anteil an der Projektierung und am Bau der Hauptstadt Armeniens. Gemeinsam mit Karo Alabjan und Mikael Masmanjan entwarf er in Jerewan das Gebäude des heutigen Russischen Dramturgie-Theaters. Nach seinen Plänen wurden dort in den 1930er Jahren das Institut, das Studenten-Wohnheim, ein Kinotheater, das erste Universal-Kaufhaus der Stadt und sogar das KGB-Gebäude gebaut, indem er durch die Ironie des Schicksals 1937 auf seinen Gerichtsprozess wartete. Neben Projektarbeiten vor seiner Verhaftung gelang es Kotschar zusammen mit Karo Alabjan in Jerewan das staatliche Projektierungsbüro und die Vereinigung der Architekten Armeniens, an deren Spitze er auch stand, zu schaffen.

Es geschah nicht aus freiem Willen, dass Gework Kotschar, den Süden gegen den Norden tauschend, eine leuchtende Spur in der Architektur von Norilsk hinterließ. Obwohl ein gewisser Georgij Lomagin, der damals den Architektur- und Bausektor der Projektabteilung des Kombinats leitete, Kotschar den 1939 aus Leningrad eingetroffenen jungen Architekten Witold Nepokoitschitzkij als Spezialisten vorstellte: „Sehr aktiv, aber er hat einen Hang zur östlichen Exotik“. Und auch der Ober-Architekt des Bauvorhabens der Stadt Norilsk bestätigte vor dem Ende seines Lebens, dass die Gesamtbilder der Oktober-, Garde- und Komsomolzen-Plätze sowie auch die Straßenbebauungsprojekte für die Oktober- und Sewastopol-Straße in den 1950er Jahren durch ihn, Nepokoitschitzkij, in Gemeinschaft mit Lidia Minenko, entstanden wären. Er beharrte auf seiner Meinung, dass nach den Entwürfen von Gework Barsegowitsch Kotschar in der nördlichen Stadt „vier dreigeschossige Eckhäuser im Viertel N° 9 und ein ebensolches an der Ecke Sewastopolstraße / B. Chmelnitzkij-Straße errichtet wurden. Plus – das zweistöckige Gebäude des Badehauses…“

Der Architekt selber schrieb in der Autobiographie der Norilsker Periode kurz: „Während meiner Zeit in Norilsk wurden von mir auch unmittelbar unter meiner Leitung zahlreiche Industrie-Einrichtungen und Gebäude des kulturellen Alltags geplant und realisiert.

Gleichzeitig wurden von mir und unter meiner Mitwirkung Entwürfe für die Generalpläne von Norilsk, Dudinka und eine Reihe anderer Ortschaften erstellt…“

In der Projektierungsabteilung des Kombinats arbeitete Kotschar zehn Jahre im Status eines Gefangenen und von 1947 an – in einem freien Arbeitsverhältnis. Zwei Jahre später, als gegen Verfolgte, die ihre Strafe bereits verbüßt hatten, eine erneut Verhaftungswelle einsetzte, nahm man Kotschar während einer Dienstreise zur Planung eines Erholungsheims in Tajoschnij fest. Glücklicherweise bestimmte man für ihn als Aufenthaltsort erneut die Stadt Norilsk.

Nach Jerewan kehrte der Architekt am Vorabend seines 60. Geburtstags zurück. Bis zu dem Zeitpunkt hatte er fünf Jahre lang den Posten des Ober-Architekten in Krasnojarsk inne, war beteiligt an der Erstellung der Generalpläne von Atschinski und Minussinsk und wirkte an der Rekonstruktion von Schuschenskoje mit. In den vier Krasnojarsker Jahren, von 1955-1959, wurde Kotschar dreimal zum Vorsitzenden der Krasnojarsker Abteilung der Architektenvereinigung der UdSSR gewählt.

In der Heimat (obwohl er noch in Tiflis geboren war, aber danach in Moskau studiert hatte )nimmt er bald darauf den Posten des Ober-Architekten am Institut „Jerewanprojekt“ ein, wo ihn im Februar 1973 plötzlich und unerwartet der Tod ereilte.

Bis hundert und länger

Am 19. September vollendet Sergej Schtscheglow der Norilsker sein 94. Lebensjahr.

Sein literarisches Pseudonym wählte der 40-jährige Absolvent des Norillag zum Gedenken an den Ort, an den man ihn im August 1942 direkt von der Studentenbank brachte. Den im ersten Semester an der historischen Fakultät des regionalen Moskauer Pädagogischen Instituts studierenden jungen Mann verurteilte man wegen antisowjetischer Agitation zu fünf Jahren. Es begann, wie alles, mit ungelernten Arbeiten: er bearbeitete beim Bau der Sauerstofffabrik den Boden mit der Spitzhacke, bis sie den völlig geschwächten Bauarbeiter schließlich ins Flüssigluft-Sprengstoff-Labor versetzten. Die Mitarbeiter dieses Labors, welche die Stalin-Prämie für die Erarbeitung und Anwendung von Flüssigluft-Sprengstoff (örtlicher Sprengstoff) in den Bergwerken im Tagebau erhalten hatten, wurden auch die Helden in Sergej Norilskijs wichtigstem Buch aus der Epoche der Perestroika, das auch den Titel „Die Stalin-Prämie“ bekam.

Nach der Freilassung aus dem Lager beendete er, der sein Studium der Humanwissenschaften nicht vollständig absolviert hatte, das Allrussische politische Institut im Fernstudium und wurde Leiter des Laboratoriums. Nach seiner Rehabilitierung im Jahre 1959 wurde er in die Journalisten-Vereinigung der UdSSR aufgenommen. Zu der Zeit befanden sich im Aktiv des Ingenieurs und Chemikers nicht nur Zeitungs- und Zeitschriften-Publikationen, sondern auch das Buch „Norilsk“ (gemeinsam mit Aleksej Bondarew geschrieben).

In Tula, wohin Sergej Lwowitsch 1961 mit seiner Familie umzog, fing er an, sich professionell mit Journalistik zu befassen. Er schrieb für Zeitungen, Zeitschriften, unter anderem auch Norilsker. Die Helden seiner Bücher waren häufig legendäre Einwohner von Norilsk: Nikolaj Urwanzew, Nikolaj Fjodorowskij, Nikolaj Kosyrew und andere.

Mehr als ein viertel Jahrhundert lenkt er die Angelegenheiten der von ihm in Tula gegründeten „Memorial“-Gesellschaft, indem er ganz konkreten Menschen hilft. Es ist bekannt, dass es dank unseres Landsmannes in unserer Helden-Stadt ein Denkmal für die Opfer der politischen Repressionen gibt und mehrere Bände des „Buches der Erinnerung im Gebiet Tula“ herausgebracht wurden.
Der einstige und ständige Autor unserer Zeitung hat die Möglichkeit eine Zeit lang in Norilsk zu verweilen nicht abgelehnt. So reiste auch er, zusammen mit anderen Veteranen, zum 60. Jahrestag der Stadt mit dem Flugzeug an. Heute teilt Segej Lwowitsch seine Kräfte und seine Zeit zwischen „Memorial“ und der Arbeit an neuen Kapiteln der „Stalin-Prämie“ auf, deren Erstausgabe sich in allen Norilsker Bibliotheken befindet.

Der Weg zum Golgatha

Am 22. September fand in Norilsk die Eröffnung der Gedenk-Kapelle an der Stelle des ehemaligen Friedhofs der Häftlinge des Norillag am Fuße des Schmidticha-Berges statt. Zum Gedenken an die Ersterbauer von Norilsk weihte der Geistliche der örtlichen Gemeinde, Vater Sergej (Schatschin), die Kapelle und sprach das Totengebet.

Dies war das zweite bezeichnende Ereignis, das den Grundstein für den Gedenk-Komplex mit dem Namen „Norilsker Golgatha“ legte. Wie der Teilnehmer an den Ereignissen und damalige Leiter des unter der Industrie-Bau- und Montage-Vereinigung „Norilsk-Bau“ entstandenen Jugend-Zentrums „Praktik“, Wadim Nagowizyn, sich erinnert, wurde noch im Frühjahr, als unter dem Schmidticha wieder einmal menschliche Überreste an die Oberfläche
gespült worden waren, wurde ein Subbotnik veranstaltet, an dem die Knochen gesammelt und bestattet wurden. Im April wurde an der Stelle des symbolischen Grabes ein hölzernes Kreuz aufgestellt: „Friede der Asche, Ehre den unschuldigen Opfern der Verfolgungen. Ewiges Gedenken in Trauer an die GULAG-Häftlinge“. Damals erbot sich Wadim Nagowizyn den Bau einer Kapelle auf Kosten von Mitteln des Jugendzentrums zu organisieren. Den Projektentwurf dafür nahm Oleg Grochotow aus dem Gersewanow- Institut für Wissenschaft und Forschung vor.

- Im Mai 1990 wurden alle Maßnahmen für den Beginn des Kapellen-Baus vereinbart. Es wurde ein ungefährer Kostenvoranschlag erstellt – etwa 12.000 Rubel (noch in sowjetischer Währung), was eine äußerst hohe Summe darstellte. Zum Anfang des Sommers machten wir uns an die Arbeit. Die Jungs vom „Fundamentbau“ (mit dem Vorarbeiter Sascha Repuchow, den ich schon vom Institut her kannte) gossen die Betonplatte für den Unterbau. Und zuvor hatten die Jungs von der „Bau-Mechanisierung“ und dem Autotransport-Unternehmen der Industrie-Bau- und Montage-Vereinigung von „Norilsk-Bau“ die Zufahrtswege zur Baustelle gereinigt. Ohne diese Maßnahme hätte der Bau auch überhaupt nicht stattfinden können. Ich spreche von „Jungs“, weil zu diesen Arbeiten vorwiegend Komsomolzen- und Jugend-Kollektive von der Industrie-Bau- und Montage-Vereinigung von „Norilsk-Bau“ herangezogen worden waren.

Zum Ende des Baus wurde klar, dass es für das Jugendzentrum kein Geld gab, und so verkaufte Nowizyn, um die Bauarbeiter bezahlen zu können, zwei für die damalige Zeit defizitäre Geräte – einen Videorecorder und einen Fernsehapparat:

- Natürlich hätte ich die Jungs überreden können noch ein wenig zu warten und später mit ihnen abzurechnen, doch ich wollte diese gottgefällige Sache nicht durch irgendwelche egoistischen Momente trüben. Bei niemandem sollte es einen unangenehmen Nachgeschmack von diesem Bauprojekt geben.

Am Vorabend der Eröffnung der Kapelle fuhr ich zur Organisation, um das Kreuz aus Nirosta-Stahl zu holen, das ich bereits zu Beginn des Baus bestellt hatte. Ich transportierte es gemeinsam mit meinem Freund, dem Musiker Andrej Petrowskij, und wir schleppten es zu zweit nach oben auf den Berg. Das Kreuz wog an die hundert Kilogramm. Vater Sergej meinte später: „Man hat die ganze Schwere des Weges nach Golgatha gespürt“. Dies stellte auch den Abschlusspunkt des Bauprojekts dar. Dieses Kreuz befindet sich nun in der Kapelle an der Wand, direkt über dem kleinen Altar.

Walentina Watschajewa

„Polar-Bote“, 16.09.2015


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