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Geheimnisvolles und Offensichtliches

Es ist interessant, dass die Welt vom Norilsker Kombinat zum ersten Mal im zehnten Jahr nach seiner Errichtung aus der bekannten Tageszeitung „New York Herald Tribune“ erfuhr. Bis heute ist es ein Rätsel geblieben, ob der Autor des Artikels in Norilsk gewesen ist oder nicht. Seltsamerweise hat die kurze Geschichte der Stadt (insgesamt 80 Jahre!) keine Eile damit, all ihrer Geheimnisse zu eröffnen.
Alles begann mit Theatertruppen.

Am 25. September 1941 wurde mit der letzten Schiffsreise von Krasnojarsk nach Dudinka die erste Truppe des Norilsker Theaters losgeschickt. Nach den Erinnerungen seines ersten Direktors Grigorij Borodenko (der nicht nur Schauspieler, sondern auch Regisseur und Buchhalter war), wurde die Truppe durch die regionale Abteilung für Kunst aus Schauspielern, die vom Kriegskommissariat ausgemustert worden waren, ausgesucht, und das Theater selbst entstand als Privat-Unternehmung, ohne Subventionierungen für ihre Organisation und ihren Unterhalt.

An dem Tag verspätete sich Theater-Unternehmer Deljukow zum Schiff, und mit ihm blieben in Krasnojarsk Geld und warme Sahen zurück… Um die Schauspieler zu verpflegen begann Borodenko mit den Norilsker Passagieren Préférance (Kartenspiel; Anm. d. Übers.) .zu spielen.

- Ich versammelte die Schauspieler, wir kratzten ein wenig Geld zusammen. Meine Partner spielten mittelmäßig, gingen mit dem Geld nicht gerade vorsichtig um. Außerdem tranken sie die ganze Zeit. Aber ich tat das nicht. Und so gelang es, uns die sieben Tage bis Dudinka durchzufüttern.

Der Theater-Chef tauchte erst im November in Norilsk auf; er kam per Flugzeug zusammen mit dem künstlerischen Leiter Wingis, zwei Künstlern und einer weiteren Schauspielerin. Das Theater konnte also am 6. November nicht eröffnen. Wie Borodenko bestätigte, geschah das zum Jahresende:

- Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, fand die Eröffnung am 31. Dezember 1941 statt. Dazu waren zwei Theaterstücke vorbereitet worden: „Die Gasthaus-Wirtin“ von Goldoni und „Blühende Gärten“ von Mass und Kulitschenko. Den losen Theatertrupp verwarf ich, die Schauspieler bekamen ein festes Gehalt in Abhängigkeit von der jeweiligen Kategorie. Man eröffnete ein Konto bei der Staatsbank. Darüber wurde die Abteilung für Kunst ungefähr ein halbes Jahr später in Kenntnis gesetzt.

Eine Menge auf sich nehmen

Am 27. September 1938 schrieb Awramij Pawlowitsch Sawenjagin aus Norilsk an seine Frau:

„… Hier herrscht gerade Winter nach allen Regeln der Kunst – heftiger Schneesturm, hohe Schneewehen, die Seen frieren zu… Ich bin hier her gekommen, habe ein Telegramm erhalten, dass die Anordnung des Rates der Volkskommissare vollständig angenommen wurde. Jetzt können wir mit der Arbeit loslegen. Leider ist es nur nicht gelungen, alle Leute, Ausrüstung und Material los zu eisen.

Und noch schlimmer steht es mit dem Projekt. Dieses unglückselige SNOP (Institut zur Projektierung von Fabriken der Nickel- und Zinn-Industrien) wird den Aufbau andauernd umwerfen. Man muss immer mehr auf sich nehmen… Die Verbindung wird bald abbrechen, und vor Dezember werde ich euch nicht mehr schreiben. Wenn nötig – schick mir ein Telegramm. Ich wünsche euch alles Gute. Kuss an alle. A. Sawenjagin”.

Das “unglückselige SNOP” bereitete ein Projekt vor, nach dem es vorgesehen war, Erz auf das Festland abzutransportieren und dann dort eine chemisch-metallurgische Produktion zur Extraktion von wertvollen Metallen aufzubauen. Sawenjagin schlug vor, die Fabriken in Norilsk zu errichten.

Ein Kriegsberichterstatter teilt mit

Am 29. September 1944 veröffentlichte die amerikanische Tageszeitung „New York Herald Tribune“ einen Artikel von Maurice Hindus „Norilsk – Zentrum der Buntmetallurgie in Sibirien“:

„…Seit einiger Zeit liefert dieses heute blühende Industriezentrum, das größte seiner Art, den Rüstungsfabriken Metalle von unschätzbarem Wert…

In Norilsk gibt es… ein ständiges Theater, ein Elektrokraftwerk, ein Fußballstadion, Säle für Tanzveranstaltungen, Vorlesungen und Filmvorführungen. Es gibt eine Mittelschule und eine Fachschule, an der 71 Berufe gelehrt werden. Dabei befindet sich Norilsk im äußersten Norden Sibiriens, am 70. Breitengrad, dort, wo ewiger Frost herrscht, in der „eisigen Einöde“…

Moskau machte sich an die Sache und entwickelte dabei eine unglaubliche Energie und Schnelligkeit… Begonnen wurde mit dem Bau der großartigen Nickelfabrik. Sobald der Krieg ausbrach, stieg der Bedarf an Nickel so gravierend an, dass man nach Norilsk in aller Eile neue Ingenieure und neue Siedler schickte. Inzwischen ist die Fabrik so gut wie fertig, und Nickel wird schon lange an die Rüstungsfabriken im Ural und in Sibirien geliefert“.

1943 wurde in der „Prawda“ der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 4. Juli über die Verleihung von Orden und Medaillen an die Norilsker verabschiedet, als ob man das Kombinat legalisieren wollte, aber dort gab es lediglich eine Liste prämierter, unbekannter Unternehmen – und nun so ein Artikel in dieser bekannten ausländischen Ausgabe!

Aus Washington nach Norilsk schickte die Zeitung der Aufbereiter und Forscher Sergej Botscharnikow, Leiter des Norilsker Aufbereitungs-Laboratoriums in den 1940er Jahren, der geschäftlich in die USA entsandt worden war, um dort Ausrüstungen für die im Bau befindliche Aufbereitungsanlage zu kaufen. Bekannt ist, dass der Artikel eine Menge Wirbel verursachte. Bis heute weiß man nicht, ob sein Autor in Norilsk war, obwohl der Schriftsteller und Journalist mit russischen Wurzeln sich während des Großen Vaterländischen Krieges drei Jahre lang als Kriegskorrespondent des „New Yorker Herald Tribune“ in der Sowjetunion aufhielt.

Das erste Buch von Maurice Hindus über Russland datiert aus dem Jahr 1920, das letzte – „Das menschliche Dilemma des Kreml“ – wurde zwei Jahre vor seinem Tod, im Jahre 1967, geschrieben. Schade, dass niemand zu seinen Lebzeiten auf die Idee kam sich dafür zu interessieren, wie er von Norilsk erfahren hatte.

Im Hauruck-Verfahren

Am 30. September 1947 starb in einem Lager-Krankenhaus im Gebiet Archangelsk, am Vorabend seines 50. Geburtstags, der Häftling des Workutpetschlag, in der Vergangenheit Leiter des Norilsker Baus - Wladimir Matwejew. Den Befehl zu seiner Ernennung unterzeichnete 1935 der Volkskommissar für Sicherheit, Heinrich Jagoda, und die Verhaftung drei Jahre später – Nikolaj Jeschow, der wenig später, ebenso wie sein Vorgänger, verhaftet und erschossen wurde.

In Norilsk traf Matwejew zusammen mit seiner Ehefrau Jelisaweta Karlowna, geborene von Rass, und zwei kleinen Töchtern ein. Für den Liquidator von Banditen und Räubern in Mittelasien wurde dieses Bauprojekt zum fünften (und letzten) in seiner Biographie. Dem Norden ging der Bau der Strecke Agur – Achun nach Sotschi voran. „In der festgesetzten Zeit wurde sie im Hauruck-Verfahren“ ab dem 2. Januar bis zum 29. April von zweitausend Häftlingen des Achunsker Besserungs-/Arbeitslagers gebaut,; übrigens waren alle vorangehenden Bauprojekte ebenfalls GULAG-Objekte. Etwas weniger Gefangene arbeiteten zu seiner Anfangszeit auch beim Bau der Schmalspurbahn von Walka zum zukünftigen Industriegebiet Norilsk. Später waren es fünf, acht Tausend. In den drei Norilsker Jahren, wie Anatolij Lwow seinerzeit den Matwejewschen Dreijahreszeitraum zusammenfasste, gelang ihm die feste „Anbindung an dieses Fleckchen Erde“: die ersten Stollen und Schachtanlagen wurden gelegt, vorübergehende Behausungen geschaffen, eine temporäre Elektrostation, provisorische Schmalspurbahnen von Walka bis an den Jenissei zu den Produktionsstätten. Doch Norilsk erwies sich für Matwejew als eine zu schwere Last.

Es gelang ihm seine Familie zu retten, indem er Ehefrau und Töchter, die niemals in Erfahrung bringen konnten, wo ihr Ehemann und Vater begraben lag, aufs Festland schickte. 1941 machte sich Jelisaweta Karlowna, nachdem sie eine Menge Hindernisse überwunden hatte, von Naltschik, wo sie sich mit den Kindern niedergelassen hatte, auf den Weg in die Siedlung Talagi im Gebiet Archangelsk, um ihren Mann wiederzusehen. Fünf Jahre später erbot sich die älteste Tochter, die als Ärztin tätig war, an, Verwundete aus Samarkand zu begleiten, um ihren Vater sehen zu können. Für das Wiedersehen hatte man ihr lediglich zwei Stunden zugebilligt. Wladimir Sossimowitsch war bereits sehr krank, arbeitete jedoch in der Holzfällerei…

Matwejew wurde bald nach dem Tode Stalins, im Jahre 1955, rehabilitiert.

24. September 2015, 18:13
Text: Walentina Watschajewa

„Polar-Bote“, 24.09.2015


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