In dem Projekt „Einfache Geschichten“, das zum 80. Jahrestag des „Norilsker Nickel“ begann, erzählen Norilsker, die eine bemerkenswerte Spur in der Biographie der Stadt und des Kombinats hinterlassen haben, von sich und der damaligen Zeit. Für die Sender „Autoradio“ und „Europa Plus“ wurden die Hörgeschichte von den verdienten Schauspielern Russlands Nina Walenskaja, Larissa Potechina, Sergej Igolnikow, Sergej Rebrij und Andrej Ksenjuk vertont.
Die „Polar-Prawda“ präsentiert ihren Lesern erweiterte Versionen der „Einfachen Geschichten“ als Fortsetzung des Jubiläums-„Chronographen“.
- Der Autor verbrachte fünf Jahre im Polargebiet (ohne die Gefängnisse mit zu berücksichtigen) und blieb nur deshalb am Leben, weil er Trost in seinen geliebten Wissenschaften fand: der Geschichte, Geographie und Ethnographie, obwohl er kein einziges Buch besaß und es für ihn keine Freizeit gab. Dabei befasste er sich so damit, dass er nach seiner Rückkehr an die Leningrader Universität, die Prüfungen für den vierten und fünften Kurs (das Minimum für einen Kandidaten) ablegen konnte; er verteidigte sein Diplom und seine Doktor-Arbeit und kehrte anschließend wieder unter das Dach der Gefängnis-Pritschen zurück. Von der Fähigkeit, seinen Intellekt und seinen Schaffensdrang zu bewahren soll es auch in den folgenden Zeilen gehen.
… Die Bevölkerung des vorrevolutionären Norilsk verfügte über eine äußerst vereinfachte soziale Struktur: es gab Freie und Gefangene. Der Kontakt zwischen den Einen und den Anderen wurde vermieden, mit Ausnahme der Fälle, in denen sie bei der Arbeit aufeinandertrafen, doch auch da beschränkte sich der Umgang auf den Produktionsbereich.
Leben und Alltag der Freien unterschieden sich offenbar nicht von den Normen und Gewohnheiten des gesamten Landes und stellen deswegen auch kein besonderes Interesse dar. Interessant ist nur, dass die Häftlinge in der Regel nicht bestrebt waren, den Umgang mit den „oberen“ Schichten zu aktivieren, sondern sich ihnen gegenüber eher zurückhaltend zu benehmen. Ausnahmen gab es sehr selten. Für gewöhnlich geschah das auf dem Boden der Verliebtheit, die, wie bekannt, selbst in grauer Vorzeit schon soziale und nationale Barrieren zum Einsturz brachte. Doch das 20. Jahrhundert brachte in dieser Hinsicht eine Vervollkommnung mit sich, die die intersozialen Kontakte praktisch beseitigte.
Merkwürdigerweise unterschieden sich, trotz der Übereinstimmung in den Bedingungen, die Häftlinge untereinander im Alltagsleben, in ihrer Gemütsart und ihrer Sprache, manchmal sogar ganz erheblich. Da das Norilsker Kombinat ein Industriebetrieb war, waren dort Ingenieur absolut erforderlich. Für sie schuf man daher bessere Lebensbedingungen: gesonderte Baracken, zusätzliche Essensrationen, zum Beispiel eine Dose Milch (kondensiert) pro Monat wegen der Schadstoffe, mit denen sie arbeiteten, oder ein kleiner Hering zum Mittagessen. Kurz gesagt – man schonte sie.
Die Masse der Arbeitskräfte lebte in langgezogenen Baracken mit zwei Reihen Pritschen an den Seiten und einem Tisch in der Mitte. Am Tisch aßen sie zu Mittag und spielten dort abends Schach oder Domino. Zum Mittagessen stand ihnen eine Schale Suppe zu (Wasserbrühe), eine Schüssel Grütze und ein Stückchen Dorsch. Brot wurde nach der geschafften Arbeitsnorm ausgegeben: für die Erfüllung des Solls – 1 kg, 200 g, bei Nichterreichen der Norm – 600 g und im Falle einer völlig unzureichenden Arbeitsleistung – 300 g. Sowieso schon schwache Menschen verloren aufgrund der Mangelernährung noch mehr an Kraft, man nannte sie Krepierer.
In der besten Lage befanden sich die Gefangenen, die das Vertrauen der Vorgesetzten genossen: Kommandanten (innere Polizei), Arbeits-Anweiser (die einen zur Arbeit trieben), Köche, Ärzte, Rechnungsführer. Man nannte sie „Pridurki“ („Dämlack“, „Pappnase“; Häftling, der leichte, angenehme Arbeiten verrichtet; Anm. d. Übers.), weil sie die Spitzfindigsten und Geschicktesten waren. Besonderes Ansehen besaßen sie nicht.
Kriminelle machten ungefähr die Hälfte der Gefangenen aus, aber es gab eine Menge Rowdys. Ein mir bekannter Mörder meinte: „Ein Rowdy – ist ein Feind für alle, sowohl euch – die verachtungswürdigen Nichtkriminellen, als auch uns – die Verbrecher. Die Rowdies muss man umbringen, denn sie begehen Böses um des Bösen Willen und nicht wegen des Vorteils, wie Diebe und Räuber“. Interessant, dass er das abstrakte Prinzip des weltlichen Bösen erfasst hatte.
Doch die Chancen des Gefangenen aufs Überleben wurden nicht durch diese
soziale Struktur definiert. Im Lager „aßen“ sie die Wassersuppe nicht, sondern
sie „stampften“ sie, überschüssige Grütze mit Öl wurde – „gefressen“, aber
leckere Delikatessen – „speiste“ man.
Nach diesem Prinzip entstehen Gruppen zu je zwei bis vier Mann, die „gemeinsam
speisen“, das heißt – das Mahl miteinander teilen. Das sind authentische
Konsortien, deren Mitglieder einander zur Unterstützung und zur Hilfe aus der
Not verpflichtet sind. Der Personenbestand einer solchen Gruppe hängt von der
inneren Sympathie ihrer Mitglieder voneinander ab, genauer gesagt, von der
Komplementarität – einem Verhaltensphänomen, das bei allen hören Lebewesen
vorkommt. Bei den Menschen bedeutet eine positive Komplementarität den Hang zu
selbstloser Freundschaft, eine negative führt nicht so sehr zum Kampf, als
vielmehr zur Feindseligkeit, doch das Eine wie das Andere können nicht
berechnend als Produkt des Bewusstseins erklärt werden. Komplementarität liegt
vollständig im Bereich der Emotionen.
Also, dank dem Vorzeichen der Komplementarität haben die Einen im Lager überlebt und kamen als intellektuell bereicherte Menschen wieder in Freiheit. Sie behielten die erworbenen Freunde und halfen einander den Widersachern zu entgehen. Und die Anderen, in sich verschlossen, überanstrengten sich mit der emotionalen Anspannung, fingen an sich zu bedauern, ließen ihre Resistenz gegenüber Einflüssen des sie umgebenden Milieus sinken und, da sie in sich nicht harmonisch und formbar waren, zerbrachen sie.
Ungeachtet der Tatsache, dass das Teilen nach Komplementarität in allen Häftlingsschichten aufgespürt werden konnte, trat es besonders anschaulich bei den Kasachen in Erscheinung, wo es mit der Stammesteilung zusammenfiel: ein Argyn speiste mit einem Argyn, ein Naiman mit einem Naiman, usw. Und da kam ganz unfreiwillig der Gedanke in den Kopf: alle Anfänge der ethnogenen Prozesse hängen doch mit der Bildung des Konsortiums zusammen, mit der positiven Komplementarität: die Pairs (Angehörige des britischen Hochadels; Anm. d. Übers.) Karls des Großen – der Beginn Frankreichs; die Ritter der Artus-Runde – der erfolglose Versuch der Gründung Britanniens; die wahren „Herrscher Davids“, Muhadschire und Ansare Mohammeds; „Menschen langen Willens“ in „Dschingis“‘ Umgebung; das Gefolge Aleksander Newskijs. Sie haben doch auch „zusammen gespeist“, aber nur bei wenigen wurde daraus eine wegbereitende Tradition; die meisten von ihnen verschwanden in der Anonymität.
Es wäre schwierig gewesen, irgendwo anders als im Lager eine derart fruchtbringende Beobachtung zu machen. Jetzt, wenn ich die verflossenen Jahre betrachte, denke ich, dass sie für einen Wissenschaftler, der es verstand, Beobachtungen zu machen, nicht umsonst verlaufen sind, doch an all das andere möchte ich mich nicht erinnern…
Lew Gumiljew, Doktor der Geschichtswissenschaften,
große Autorität auf dem Gebiet der Ethnographie und Geschichte der Ost-Völker
„Polar-Bote“, 1. Oktober 2015, 16:16