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Valentinas Weg

Valentina Michailowna Ananjewa ist 78 Jahre alt. In so einem fortgeschrittenen Alter ist sie, nachdem sie genügend Geld zusammengelegt hat, zum ersten Mal aus Kirgisien nach Norilsk geflogen. Und das Erste, das sie den Polizeibeamten nach der Landung in unserem Flughafen fragte, war: „Wo befindet sich denn hier bei Ihnen das KGB?“


Am Norilsker Golgatha

Unsere Begegnung am 22. September dieses Jahres auf dem Norilsker Golgatha muss wohl von oben vorherbestimmt gewesen sein. An diesem Tag beschlossen wir gemeinsam mit Freunden, uns zur Gedenk-Kapelle aufzumachen, die vor genau einem Vierteljahrhundert eröffnet und geweiht worden war. Mit uns waren auch Medien-Kollegen und Museumsmitarbeiter. Väterchen Georgij hielt einen Gottesdienst zum Gedenken an die unschuldigen Gefangenen des Norillag ab, und danach verweilten wir noch ein wenig, um gemeinsam daran zu erinnern, wie aufgrund einer Volksinitiative die Kapelle zum ersten Symbol auf dem Territorium des einstigen Friedhofs wurde, den man in den 1980er Jahren unter einer Asphaltschicht plattgewalzt hatte. Nach der Erzählung des Heimatkundlers Viktor Filippow, der eine Video-Aufzeichnung von der Einweihung der Kapelle im Jahre 1990 mitgebracht hatte, hatten wir keine Eile auseinanderzugehen… Und plötzlich traten Jekaterina Gorezkaja und Marina Petrowa aus der Norilsker Kunstgalerie an uns heran, die eine uns unbekannte alte Frau bei sich hatten. Sehr aufgeregt begann sie leise zu sprechen:


Valentina Ananjewa

- 1927 lebten wir im Altai-Gebiet in dem entlegenen Dörfchen Poporetschka… Ein paar Monate nach meiner Geburt, innerhalb zweier Novembernächte, holten sie bei uns alle kräftigen jungen Männer fort. Mein Vater Michail Aleksejewitsch Ananjew war 36 Jahre alt. Ihn und seine Kameraden haben sie Gott weiß wohin getrieben, ohne Briefwechsel, und erst nach 12 Jahren kehrte einer von ihnen zurück und berichtete, dass man ihnen unterwegs die warme Kleidung und die Schuhe weggenommen und dann irgendwo in der Nähe von Norilsk abgeladen hätten, und um sie herum nichts als Schnee; man sagte ihnen, sie sollten zusehen, wie sie es sich hier bewohnbar machen könnten. Die Männer hoben kleine Gruben aus, eine von ihnen wurde warm gemacht, die anderen schmiegten sich möglichst nah an. Danach mussten sie arbeiten und Schurf-Gräben ausheben. Einen Monat später hatte ihnen die Kälte dermaßen zugesetzt, dass sie einander schon nicht mehr erkannten… Wenn jemand schon völlig geschwächt war, schleppten sie ihn trotzdem noch zur Schurf, denn sonst bekam er seine Ration nicht. Anfangs waren die Burschen noch kräftig gewesen, aber dann begannen sie zu sterben; unser Vater lebte 8 Jahre im Lager, und in er Todesnachricht hieß es später, dass er am 20. Januar 1945 an Tuberkulose gestorben sei, aber den Todesort gaben sie nicht an. Einem unserer Männer, der in Norilsk überlebte, erlaubten sie für zwei Tage ins Dorf zu fahren, um seine Familie zu holen. Dieser Mann mit dem Nachnamen Skrypnik war von Natur aus ein Künstler; er zeichnete Porträts in den Schnee, und die Aufseher bemerkten das, und deswegen bat er schließlich auch um eine Arbeit im Warmen. Von ihm und von Norilsk hörten wir zum ersten Mal 1949…

Valentina Michailowna konnte 70 Jahre nach dem Tode ihres Vaters im Norillag in unsere Stadt fliegen. Sie führte eine Bescheinigung über die vollständige Rehabilitierung mit sich, ausgestellt 1959 vom Altaier Regionsgericht. In Norilsk wurde die betagte Frau von niemandem erwartet. Der Polizist, den sie treuherzig gefragt hatte: „Und wo befindet sich denn hier bei ihnen das KGB-NKWD?“ antwortete mit einem Lächeln und dachte bei sich: na, die Oma ist wohl nicht mehr recht bei Trost… Irgendein mitfühlender Bürger im Flughafen-Sammeltaxi, der sie erzählen hörte, dass sie hier hergekommen war, um das Grab ihres Vaters zu finden, gab dem Taxifahrer Geld und befahl ihm, die Reisende zum FSB zu fahren. Dort hörte man das verzweifelte Mütterchen aufmerksam an, fand für die alte Frau eine Privatpension und begleitete sie sogar zum Fuße des Schmidt-Berges, wo 1940 der Norilsker Dorffriedhof gelegen war. Und am nächsten Tag begab sie sich zur Heiligen Skorbjaschensker Kirche, bestellte die Totenmesse für ihren im Norillag umgekommenen Vater. Von der Kirche wollte sie dann zum alten Friedhof fahren, der sich im Bezirk der Nansen-Straße befand und von dem ihr gute Menschen erzählt hatten, - dort wären noch Begräbnisstätten erhalten. Aber Gott verfügte es so, dass neben ihr unsere einfühlsamen Galeristinnen standen, die wussten, dass wir uns zu diesem Zeitpunkt in der Kapelle befanden… Und so kam es zu unserer Begegnung mit dieser bemerkenswerten Reisenden, von der ich mich praktisch bis zur Abreise nicht mehr trennte.

Auf dem Norilsker Golgatha, das zum einzigen Massengrab wurde, verstreute Valentina Michailowna nach der Tradition ihrer Vorfahren Erde, die auf der Totenmesse in der Kirche geweiht worden war, und legte in einer Reihe Vergissmeinnicht nieder: „Die Toten darf man nicht kränken, die Erde macht sie alle gleich, mögen sie alle in ewigem Frieden ruhen…“. Anschließend begleiteten wir den Norilsker Gast zur Gesellschaft zum „Schutz der Opfer der politischen Repressionen“ und zum Museum der Geschichte des Norilsker Industriegebiets, wo die alte Frau noch eine Menge über die Jahre der stalinistischen Verfolgungen erzählte:

- Ein Augenzeuge, der die Ereignisse im Norillag miterlebte und der in unser Dorf zurückkehrte, hat noch berichtet, dass noch ein weiterer Landsmann am Leben blieb, aber man händigte ihm die Bescheinigung über seine Freilassung aus, als das Schiff bereits abgelegt hatte. Der Mann rannte dem Schiff am Ufer hinterher, verlor vor lauter Kummer den Verstand, dass sie ihn nicht mitgenommen hatten… Als man den Vater repressierte, jagten sie Mama mit den beiden kleinen Kindern aus dem Haus. Und noch während der Enteignung holten Verwandte aus Narym die junge Familie zu sich, und beim ersten Übersetzen fielen ihre Kinderchen vom Fallreep, aber man erlaubte nicht sie aus dem Wasser zu ziehen… In unserer großen Familie haben sich alle gegenseitig geholfen, und so konnten wir auch überleben. Meine Mutter Fedora Stepanowna hatte noch nicht einmal die erste Klasse beendet, konnte d8ie Großbuchstaben noch nicht schreiben, aber sie verfügte über eine gewisse angeborene Intelligenz. Sie beklagte sich nie, war niemals zornig und stieß auch nie

Flüche gegen die Sowjetmacht aus. Ja, auf unser Volk entfiel eine ganz schreckliche Strafe, offensichtlich haben wir uns wohl irgendeines schlimmen Vergehens schuldig gemacht…


Michail und Fedora Ananjewa (in der Mitte)

Auf Anraten von Jelisaweta Josifowna Obst, der Vorsitzenden der Gesellschaft zum „Schutz der Opfer der politischen Repressionen“, traten wir sofort telefonisch mit der Krasnojarsker „Memorial“-Organisationin Kontakt. Ihr Vorsitzender Aleksej Babij schickte an die Redaktion einen Link zum Martirolog, in dem es auch eine Kurz-Information über Valentina Michailowna Ananjewas Vater gibt.

Ananjew, Michail Aleksejewitsch, geb. 1901 in der Ortschaft Sidorowka, Borissoglebsker Bezirk, Gebiet Tambow. Russe. Stammte aus einer Bauernfamilie. Kolchosarbeiter. Lebte eine Zeit lang in der Ortschaft Poperetschnoje, Kolybansker Bezirk, Nowosibirsker Gebiet. Schuster. Verhaftet am 04.11.1937. Angeklagt nach § 58-10 des Strafgesetzes der RSFSR. Verurteilt am 27.11.1937 von einer Troika der NKWD-Behörden im Altai-Gebiet zu 10 Jahren Erziehungs-/Arbeitslager sowie 5 Jahren Entzug der politischen Rechte. Verbüßte die Strafe im Norillag, wo er am 10.06.1938 aus dem Siblag eintraf; verstarb am 20.01.1945.

Und wir schickten die verblichenen Aufnahmen der Familie Ananjew aus den 1930er Jahren, die Valentina Michailowna mitgebracht hatte, nachdem wir sie abfotografiert hatten, an „Memorial“. Jetzt können die Informationen über Michail Aleksejewitsch durch sein Porträt vervollständigt werden.

Zur Erinnerung an unsere Begegnung in Norilsk bekam wir noch rechtzeitig ein Fotoalbum für unseren Gast fertiggestellt. Ihr bescheidener Rucksack wurde auch durch die Geschenke der Museumsmitarbeiter und das Beutelchen mit Preiselbeeren, die Jelisaweta Obst in der Tundra gesammelt hatte, immer schwerer. Wir konnten uns bis zum späten Abend nicht trennen, sahen uns gemeinsam die Ausgabe der Lokal-Nachrichten an, tranken Tee, und alle wunderten sich über die zielstrebige, weißhaarige Reisende. Es stellt sich heraus, dass die über die russische Botschaft in Bischkek einen vergünstigten Flug erhalten hat. Sie selber, Absolventen der geographischen Fakultät, die als Ingenieurin beim Hydrometeorologischen Dienst arbeitete, hält sich für reich – „ich bekomme ganze 6000 Rubel Rente!“ (derzeit entspricht die kirgisische Summe annähernd unseren Rubeln. – Autor). Und ins sonnige Bischkek sind ihre Angehörigen umgezogen, als der Familienstammbaum auszusterben begann, der sich unweit der Stadt Semipalatinsk befand, wo Atomversuche durchgeführt wurden…

- Ich hatte kein einfaches Leben, man kann das nicht alles erzählen, ich habe eine Verwandte, eine Waise, bei mir aufgenommen. Sie lebt jetzt mit ihrer Familie im Gebiet Nowosibirsk, ich würde gern zu ihr umziehen. Ich hab viel Leid, aber auch viel Gutes gesehen. Stellen Sie sich vor: Der Altai, ein entlegenes Dorf, Schnee, die Schornsteine ragen aus den Schneewehen hervor, Schneestürme, und die Wölfe haben alle Hunde gefressen. Und dann kommt diese Todesnachricht, man kann nicht zum Gebet gehen; in der Kirche haben sie irgendetwas anderes eingerichtet, und die Frauen gehen heimlich mit ihren Ikonen und Kreuzen hin und singen selber die Totenmesse und wehklagen –das kann man nie vergessen. Unsere Eltern konnten alles: spinnen, weben, Mama fertigte in der ersten Klasse für mich eine Tasche aus Flachs und Pluderhosen an. Ich selber mache auch Handarbeiten, Sie sehen nicht, dass ich von der Arbeit stark schmerzende Hände habe… Unterwegs trenne ich mich nie von meiner Häkelnadel – das hilft den Kopf in Ordnung zu halten, damit das „Dach nicht einstürzt“. Und es ist sehr, wichtig, seinen Kindern beizubringen, alles selber zu machen, auch wenn das eine unnötige Arbeit ist, aber das Wichtigste ist – sie zum Arbeiten zu erziehen. Dank dessen sind wir nicht untergegangen. Und für das, was Sie jetzt hier zum Gedenken an die unschuldig umgekommenen Menschen machen, möge Gott sie gebührend behandeln, ihnen Gesundheit verleihen. Tief verbeuge ich mich vor allen Norilskern, die mir bei der Suche geholfen haben. So viel Wärme und Aufmerksamkeit habe ich wohl nie zuvor erfahren. Und als ich nach Norilsk fuhr, dachte ich, dass ich diese beiden Nächte wohl auf dem Bahnhof übernachten würde; ich war innerlich schon vorher mit allem einverstanden, verließ mich auf Gottes Willen, wenn ich nur das Andenken an den Vater ehren könnte. Jetzt hat meine Seele ihren Frieden.

***

Dieser Tage kehrte Valentina Michailowna nach Bischkek zurück, nachdem sie es geschafft hatte, auf dem Weg nach Hause auch noch ihre heimatlichen Orte im Altai zu besuchen, in denen sie vierzig Jahre nicht mehr gewesen war. Jetzt möchte sie, dass wir sie besuchen. Und die erste, die ich am Feiertag der alten Menschen anrufe, wird diese würdevolle Frau sein, die für uns zum Beispiel der Weisheit, Reinheit der Gedanken und Treue an das Gedenken der Vorfahren wurde. Ich verbeuge mich zutiefst vor ihr – bis zur heimatlichen Erde.

Irina Danilenko

Foto derAutorin

„Polar-Wahrheit“, 01.10.2015


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