An der Gedenkstelle “Norilsker Golgatha” wurde für die Staatsbürger Japans ein Denkmal eingeweiht, Häftlinge des Norillag, die für immer am Fuße des Berges Schmidticha blieben und dort ihre ewige Ruhe fanden…
Einweihungszeremonie für den Gedenkstein auf dem „Norilsker Golgatha“
Es ist bekannt, dass es mehr als 70 Mann waren. Viele von ihnen hatten im Krieg gegen die Sowjetunion überhaupt nicht die Waffen erhoben, wurden aber dennoch im Hohen Norden interniert. Dieses Denkmal ist – ein Aufruf zum Frieden, und es wurde vor allem durch die Bemühungen von Sachiko Watanabe geschaffen – der Tochter von Joshio Watanabe, der von 1946 bis 1950 Gefangener des Norillag war und schließlich für immer in unserer Erde blieb. Sachiko-san benötigte 11 Jahre, musste zahlreiche Schwierigkeiten überwinden, bis dieses Ereignis Wirklichkeit wurde. Es ist symbolisch zu verstehen, dass dieses Monument mit Hilfe der Norilsker im Jahr des 70. Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkriegs errichtet werden konnte. Es dient für die Zeitgenossen als Mahnmal an die zahlreichen Opfer des Krieges und ist gleichzeitig Symbol des Protests gegen Leid und Tod von Menschen.
Sachiko Watanabe mit Dolmetscherin Maria Rebrowa
Norilsker und Japaner haben eine große Tat für die Festigung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Völkern getan. Das Oberhaupt von Norilsk, Oleg Kurilow, pflegte offiziellen Kontakt mit der japanischen staatlichen Organisation „Zentrum der Registrierung und Hilfe gegenüber Personen, die sich als Kriegsgefangene in sibirischen Lagern befanden“ bezüglich der Errichtung eines Denkmals für die japanischen Staatsbürger, die in Norilsk verstarben und hier ohne Kennzeichnung ihrer Gräber bestattet wurden.
Das Denkmal wurde aus Mitteln von Frau Watanabe und ihrer Landsleute aufgestellt, auch Bürger Kanadas halfen beim Sammeln von Geldern. Bei der Einweihung gingen Dankesworte an die Adresse der Leiter der Verwaltung von Norilsk, die Behörde für Stadtwirtschaft, den Norilsker Versorgungskomplex, die Fabrik für Baumaterialien und Konstruktionen, die Maschinenfabrik und viele, viele nicht gleichgültige Norilsker.
Der Vorsteher des Norilsker Gebiets, Erzpriester Wladimir Iwanow, drückte die allgemeinen Gefühle aus:
- Diese Augenblicke sind uns allen in der Erinnerung. Es ist der Tag der Versöhnung und des Glaubens daran, dass solche Tragödien sich niemals wiederholen, dass Russland und Japan nie wieder gegeneinander kämpfen und es nie wieder Kriegsgefangene gibt, sondern wir in der Hoffnung und in dem Glauben leben werden, dass dies der letzte Krieg war. Die Seelen der Menschen, die hier begraben liegen, werden wohl Frau Watanabe dankbar sein, dass sie gegenüber ihren Angehörigen eine so große Liebe bewiesen und keinerlei Mühen und Schwierigkeiten gescheut hat. Auch wir werden jene ehren, die einst hier lebten, arbeiteten, durch Krankheiten starben. Möge ihnen die Norilsker Erde wie zur heimatlichen japanischen werden.
Jelisaweta Obst, Vorsitzende der Gesellschaft „Schutz der Opfer politischer Repressionen“ sagte:
- Das Schicksal hat im Norillag Menschen vieler Nationalitäten zusammengeführt. Sie durchliefen Kälte und Hunger, qualvolle Schicksalsherausforderungen, und wir sollten uns daran erinnern. Zum Norilsker Golgatha werden auch weiterhin Menschen aus verschiedenen Ländern kommen, um sich vor der Asche ihrer Lieben zu verneigen. Und wenn man aus dieser Höhe auf unsere Stadt und das Kombinat herabschaut, die ihnen zum Denkmal wurden, dann versteht man – in ihnen steckt auch ein nicht geringes Teilchen mühsamer Arbeit der ehemaligen Gefangenen des Norillag.
Treffen mit Wladimir Knjaskin
Sachiko Watanabe dankte den Norilskern mit Hilfe der Dolmetscherin Maria Rebrowa von ganzem Herzen und überbrachte Botschaften an die Verstorbenen und die Lebenden:
- Alle, die hier umgekommen sind, Bürger Japans und anderer Staaten! Wir werden Eure Leiden niemals vergessen. Ich habe aus Japan Origami-Kraniche mitgebracht. Mögen Eure Seelen mit ihnen in die Heimat zurückkehren.
Ich wende mich auch an alle auf der Welt Lebenden. Es gibt nichts Schrecklicheres als Krieg, es ist das allergrößte Unheil. Lassen Sie uns gemeinsam alle Bemühungen aufwenden, damit die Menschen in Frieden leben können. Ich möchte, dass dieses Denkmal das Symbol der Freundschaft zwischen Russland und Japan ist, und den Norilskern wünsche ich Gesundheit und Glück!
Teetrinken mit Jewgenij Posdnjakow und Natalia Korostelewa
Während der improvisierten Teezeremonie im städtischen Museum sprach Sachiko-san in warmen Worten mit dem Leiter der Norilsker Administration Jewgenij Posdnjakow und seiner Stellvertreterin Natalia Korostelewa, mit der sie sich bereits bei ihrem letzten Aufenthalt in Norilsk angefreundet hatte.
Jewgenij Posdnjakow:
- Ich möchte meine Ehrerbietung vor Ihrer Standhaftigkeit und Geduld zum Ausdruck bringen, Sachiko-san. Wir alle haben begriffen: wie schwer unsere Geschichte auch gewesen sein mag, wir müssen trotzdem die Erinnerung daran wahren.
Frau Watanabe teilte mit, dass sie zuerst ihrer Familie und ihren Freunden von der Reise nach Norilsk berichten wird. Gleichzeitig warten die Zeitungen „Tokio“, „Asahi“ und andere auf ihre Informationen über die Ereignisse, die im Zusammenhang mit dem Bau es Denkmals am „Norilsker Golgatha“ stehen. Sie zeigte den Gesprächspartnern eine Medaille, die ihr Vater in seiner Kindheit für seine Erfolge beim Judo erhalten hatte, sowie Ohrringe, die ihrer Mutter gehörten. Sie hatte sie mitgenommen, weil sie dachte, dass Mutter und Vater ihr gesagt hätten: „Streng dich an, gib nicht auf, wir sind bei dir…“.
Der Norilsker Architekt Michail Wolgin, Urheber des Gedenk-Projekts, erzählte der Zeitung „Polar-Wahrheit“:
- Vor Beginn der Arbeit habe ich mir hinreichend viele, Japan gewidmete Denkmäler angeschaut. Wir haben alle Wünsche, die Sachiko-san äußerte, berücksichtigt, wobei wir auf die Ratschläge der Direktorin des Norilsker Museums, Swetlana Slessarewa, hörten. Sachiko wollte nicht, dass sich dieses Monument zu sehr hervorhob; vielleicht liegt das an der japanischen Bescheidenheit, die Vorstellung vom zulässigen Maßstab. Mir scheint, dass seine Schlichtheit einen Teil der japanischen Kultur widerspiegelt. Für die Arbeit wurden karelischer Granit und farbiger Beton verwendet. Schwarz und weiß – die Farben des Lebens und des Todes, des Guten und des Bösen, des Krieges und des Friedens. In gewissem Maße erinnert das Denkmal an einen nach Süd-Osten, nach Japan, gerichteten. Mag sein, dass dieser Zeiger den toten Seelen den Weg weist. Wir errichteten das Denkmal nach unserem Gewissen, nicht wegen des Geldes. Die Hauptarbeiten fanden unter den schwierigen Bedingungen des vergangenen Winters statt, aber wir überwanden alle Probleme und sind nun all denen dankbar, die ihren Beitrag geleistet haben. Insgesamt haben mit uns etwa 14 Personen gearbeitet.
Swetlana Slessarewa, die Direktorin des Museums der Geschichte der Erschließung und Entwicklung des Norilsker Industriegebiets, merkte an, dass Norilsk jetzt zu den Städten gehört, in denen Denkmäler und Zeichen des Gedenkens für internierte und kriegsgefangene Staatsbürger Japans aufgestellt wurden. Es gibt sie in Wladiwostok, Tschita, Kemerowo, Chabarowsk, Orenburg, Barnaul, in Städten und Siedlungen auf der Insel Sachalin.
Die 25-jährige Moskauerin Maria Rebrowa, Sachikos Freundin und Dolmetscherin, studiert an der Universität Tokio. Sie erzählte uns, dass die 73-jährige Frau Watanabe ein äußerst lebensfroher und aktiver Mensch ist, mit dem sie es manchmal in Sachen Energie nicht aufnehmen kann. Sachiko-san ist Hausfrau und lebt mit ihrem Ehemann zusammen, sie hat zwei Söhne; Enkelkinder gibt es bislang noch nicht.
Zur Begegnung im Museum kam Wladimir Knjaskin. Als 20-jähriger Soldat begleitete er 1946 unterdrückte japanische Staatsbürger aus Fernost nach Norilsk. Vielleicht befand sich auch Sachiko-sans Vater unter ihnen. Ein alteingesessener Norilsker, der im kommenden Jahr seinen 90. Geburtstag feiern will, begrüßte den Gast anfangs ein wenig misstrauisch: „Bist du wirklich Japanerin?“ Und später, nachdem er erfahren hatte, dass Sachiko-san 73 Jahre alt war, macht er ihr das Kompliment: „Wie jung du noch bist!“ und erzählte, dass er die Japaner als sehr stille, arbeitssame Menschen in Erinnerung habe. Und dann berichtete er noch von der tragischen Geschichte, wie im Mai 1952 eine Gruppe gefangener Japaner, ungefähr 50 Mann, zusammen mit den Wachen in der Tundra erfroren, als es einen furchtbaren Schneesturm gab.
Sachiko-san schaute immer wieder in das Gesicht des betagten Norilskers, als ob sie darin irgendwelche, nur ihr verständliche, Zeichen lesen wollte…
Beim Abschied bat Frau Watanabe:
- Bitte, erforscht die Geschichte der Ankunft der Japaner im Norillag ganz genau. Wir, gewöhnliche Ausländer, können nicht in die Archive gehen, und wir hoffen sehr, dass dies die neuen Forscher tun werden. Im Museum gibt es eine Ausstellung, die dem Norillag gewidmet ist, und dort finden sich Informationen über meinen Vater, die ich mit den Norilskern geteilt habe. Und mir hat meine Mutter eine Menge über den Vater erzählt, die ihn ihr Leben lang immer in der Erinnerung behalten hat. Ich habe ein Foto aus dem Jahr 1941 mitgebracht, auf dem meine Eltern abgebildet sind, und ich selber bin darauf unsichtbar mit anwesend – im Bauch meiner Mama. Mein Vater wurde verhaftet, während er als friedlicher Beamter im südlichen Sachalin arbeitete – viel zu wenig konnte er mich in seinen Armen halten. Und nun habe ich das Gefühl, dass wir uns in Norilsk wiederbegegnet sind…
Irina Danilenko
Fotos der Autorin und von Jelena Chudanowa
„Polar-Wahrheit“. 08.10.2015