Der AST-Verlag, Projekt „Andehonie“ (= die Unfähigkeit, Freude zu empfinden; Anm. d. Übers.), Herausgeber Ilja Danischewskij, brachte ein Buch von Journalisten der „Neuen Zeitung“ – Anna Artemowa und Jelena Ratschewa – unter dem Titel „§ 58. Nicht auferlegt. Geschichten von Menschen, die durchgemacht haben, was wir am meisten fürchten“. Seine Helden sind Menschen, die im GULAG waren. Die Zeitschrift „Snob“ veröffentlicht einen Bericht von Lew Netto, der den Großen Vaterländischen Krieg und die sowjetischen Lager durchmachte.
Foto: Anna Artemewa
Lew Aleksandrowitsch Netto wurde 1925 in Moskau geboren. 1943 wurde er an die Front einberufen und durchlief in der NKWD-Schule eine Ausbildung zum Minen-Fachmann. Im Februar 1944 landete er mit einer Sabotage-Gruppe in Estland und geriet gleich während des ersten Kampfes in Gefangenschaft. Er kam zunächst in Lager in Dwinsk (Lettland) und Kaunas (Litauen), anschließend nach West-Deutschland. Am 15. März 1945 – Befreiung durch die amerikanischen Truppen. Ungeachtet zahlreicher Angebote in die USA oder nach Frankreich zu gehen, entschloss er sich, nach Moskau zurückzukehren. Am 19. Mai 1945 wurde er aus der amerikanischen Besatzungszone an die sowjetische übergeben. In einer Kolonne ehemaliger Kriegsgefangener und Ostarbeiter gelangte er zu Fuß in die West-Ukraine, wo er zum Militärdienst in der Roten Armee einberufen wurde. Im April 1948 wurde er von der Gegenaufklärung der Stadt Rowno wegen des Verdachts der Spionage verhaftet. Am 22. Mai verurteilte man ihn zu 25 Jahren Haft. Es folgten Häftlingsetappen von Rowno nach Kiew – Moskau – Swerdlowsk – Krasnojarsk – Norilsk. Im Herbst 1949 traf er im GorLag (Norilsk) ein. Neun Monate verrichtete er Kolonnenarbeit, anschließend arbeitete er als Drechsler in einer Reparatur- und Mechaniker-Werkstatt. Am 25. Mai 1953, nach dem Norilsker Aufstand, wurden die Gefangenen in ein anderes Lager überführt. Es folgte die Freilassung aufgrund einer Amnestie. Er war als Ingenieur tätig, befasste sich mit der Erarbeitung automatisierter Steuerungssysteme. Er schrieb zwei Bücher mit Erinnerungen. Heute lebt er in Moskau.
Ich war bei Hitler und Stalin in Gefangenschaft. Man fragt mich oft: wo war es schwerer? Ich sage euch: bei uns war es schwerer – sowohl körperlich, als auch seelisch.
An die Front kam ich 1943. Ich geriet in eine Gruppe Saboteure unter Leutnant Sergej Batow. Sie schickten uns ins tiefste Hinterland. Wir waren lediglich in ein einziges Kampfgeschehen verwickelt. Estland, Wald. Der Deutsche hatte uns bereits umzingelt, die Munitionsvorräte waren zur Neige gegangen, die Geschosse fliegen und fliegen… Wir liegen auf dem Boden…Mein Kamerad schaut mich an: „Das war‘s , Leo“. Na, wir verabschiedeten uns. Eine Minute später – ich schaue zu ihm herüber und sehe, dass sein Kopf blutüberströmt ist. Unser Kommandeur, Sergej Batow, warf die letzte Granate. Er erhob sich ein wenig und stieß hervor: „Für die Heimat, für Sta…“ – er sprach den Satz nicht mehr zu Ende.
Ich besaß noch eine einzige Ananas-Granate. Ich denke: soll ich dasselbe tun, wie mein Kommandeur. Ich zog den Splint heraus und erhob mich ein wenig… Für den Bruchteil einer Sekunde schloss ich die Augen – und sah meine Mutter.
Als wir an die Front fuhren, warteten wir auf dem Kasaner Bahnhof eine Stunde auf den Zug, und ich war zu mir nach Hause, in die Dajew-Gasse, gerannt. Ich laufe hinein und sehe: da sitzt die Mama, näht mit der Maschine Soldaten-Wäsche und weint. Und nun tauchte genau dieses Bild wieder vor meinen Augen auf.
Aufrichten konnte ich mich nicht. Ich warf die Granate hinter einen Findling – und das war’s; sie hatten mich bereits umzingelt.
Fliehen konnte ich erst im Frühling 1945, in der Nähe von Eisenach in West-Deutschland (Ost-Deutschland, Thüringen; Anm. d. Übers.). Unsere Kolonne – ein paar hundert Mann – wurde von vier Deutschen angeführt, ältere Ortsbewohner, die letzten, die man noch hatte einberufen können. Am Abend brachten sie uns über eine Brücke. Zu dritt sprangen wir ins Wasser; in der Dämmerung blieb das unbemerkt.
Zwei Wochen lang hielten wir uns versteckt: wir sammelten Kartoffeln, Rüben. Obwohl bereits klar war, dass Deutschland den Krieg verloren hatte und sowjetische Truppen durchs Land zogen, gaben die deutschen Bauern uns Brot und ließen uns bei sich übernachten…
Entdeckt wurden wir schließlich von der Feld-Gendarmerie. Der deutsche Offizier erteilt zwei MP-Schützen einen Befehl, und die bringen uns irgendwohin. Na schön, denke ich, wenn sie euch nicht gleich erschießen, bedeutet das – es gibt Hoffnung, dass wir vom Tod verschont bleiben. Wir verhalten uns beide ruhig und gehen also mit den MP-Schützen mit. Aber unser dritter Freund, der einzige von uns, der Deutsch verstand, ist weiß wie eine Leinwand.
Wir sehen – sie bringen uns in die Schlucht. Uns war sehr mulmig zumute, die Ameisen fingen an zu kribbeln. Wir steigen hinab, und dort befindet sich eine Kolonne Kriegsgefangener; wir werden mit dazu gestellt –das war‘s. Wir waren total beunruhigt, aber der dritte von uns meint: „O Gott, was seid ihr dumm. Der Offizier hat gesagt: die Kriegsgefangenen runter in die Schlucht. Wenn sie dort eingetroffen sind, übergebt sie an die Wachen, wenn das nicht geht – lasst sie einfach dort“.
***
… Wir übernachteten unter einer Überdachung, am Morgen sehen wir – unsere Wachen sind weg. Das war total ungewohnt… Plötzlich sehen wir – merkwürdige große Fahrzeuge mit Geschossen fahren durch die Gegend, hinter dem Lenkrad, Menschen mit ganz schwarzen Gesichtern. Und alle fingen an zu schreien: „Die Amerika-a-a-ner!“
Da tauchten auch richtige, weiße Amerikaner auf und stürmten direkt auf uns los: sie fingen an, uns zu umarmen und zu küssen! Sie freuen sich und schreien: „Russian, Russian!“ Und was für Russen wir waren – bei uns gab es ja auch Ukrainer, Kasachen, Usbeken…
In der amerikanischen Besatzungszone verbrachte ich fast einen Monat. In Plauen gab es eine Menge Russen, und dort war eine große Propaganda im Gange – Plakate, Listen, wer wohin fahren wollte: nach Amerika oder Kanada, Australien oder Neuseeland. Daneben befand sich die französische Grenze; die französischen Kriegsgefangenen riefen uns zu sich; sie meinten, komm zu Fuß mit uns, wir bringen dich nach Paris, da gibt es so schöne Mädchen… Und bald darauf fingen die Russen untereinander an zu erörtern, dass es keine Rückkehr nach Hause mehr gab, dort würden sie die Kriegsgefangenen sowieso gleich einsperren. Aber ich beschloss: ich werde nach Hause fahren.
Foto aus dem persönlichen Archiv
Der Soldat Netto vor der Verhaftung. Foto vom Anschlagbrett der Besten, 1948
Nach Russland gingen wir zu Fuß
Schon bald begann man mit der Formierung einer Kolonne in die russische Zone. Zu der Zeit waren die meisten Russen schon nicht mehr dort, sondern irgendwohin abgereist; in die Heimat wollten nur wenige zurückkehren.
Die Amerikaner begleiteten uns so, wie sie uns auch begrüßt hatten: sie umarmten und küssten uns, überreichten uns Geschenke. Es kommt mir so vor, als ob sie uns besser behandelten, als diejenigen, die emigrieren wollten. Sie dachten wohl … die lassen ihre Heimat jedenfalls nicht im Stich!
Sie ließen uns alle in offene „Studebaker“ einsteigen. Dort gab es weniger Kriegsgefangene, als vielmehr Familien, die zur Arbeit getrieben wurden, und im Laufe der Jahre war auch die Zahl ihrer Kinder gestiegen. Es folgten – die Demarkationslinie, ein Soldat. Frauen und Kinder schreien, sie winken mit den Armen, grüßen. Der Soldat steht wie eine Statue da, und in seinem Gesicht kann man lesen: da transportieren sie die Vaterlandsverräter. In dem Augenblick musste ich zum ersten Mal daran denken, dass ich wohl völlig umsonst zurückkehrte.
In der russischen Zone wurde jeder einzelne überprüft. Die Männer wurden abgesondert, um sie an Truppenteile zu übergeben. Familien wurden bedingungslos auseinandergerissen. Die Frauen weinten, die Kinder brüllten... Und man machte sich zur Rückkehr in die Heimat bereit.
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Nach Russland gingen wir zu Fuß. Wir gingen in einer Kolonne los, sobald es hell wurde, und marschierten bis zum Abend. Pro Tag schafften wir ungefähr 90 Kilometer. Parallel zu uns, ebenfalls Richtung Osten, trieb man eingefangene deutsche Kühe; außerdem jagten endlos lange Züge an und vorbei. Kein einziges Mal sah ich, dass in ihnen siegreiche Soldaten zurückkehrten. Sie fuhren und fuhren, und waren mit ganz anderen Dingen beladen.
Wir marschierten durch Deutschland, danach Polen. Und dann kamen wir in die West-Ukraine, in die Stadt Kowel. Dort verkündete man mir: du bist gerade 20, du sollst deinen Militärdienst ableisten. Und sie ließen mich bei sich.
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Nach drei Jahren, im Februar 1948, informieren sie mich über meine Demobilisierung und schicken mich unmittelbar vor der Rückkehr auf Dienstreise nach Rowno – zum Armeestab, um einen Boten mit einem Paket zu begleiten.
Wir kommen dort an, der Kurier betritt die Amtsstube des Leiters, während ich warte. Dann rufen sie mich in dasselbe Kabinett. Dort befinden sich drei oder vier Offiziere; sie fragen: „Du weißt, wo du hier bist? Welcher Armeestab? Du bist bei der Gegenspionage! Tu bist verhaftet. Du befindest dich im Gefängnis“.
Sie fangen an mich zu verhören: du warst in der amerikanischen Zone? Na – und wie ist es dort? Ich erzähle – und fühle, dass sie sowieso schon alles wissen. Und plötzlich sagen sie: „Erzähl bloß keine Märchen, dass du freiwillig hierhergekommen bist. Nur Spione kehren zurück. Also los, sag schon: wer hat dich angeworben, welche Aufgabe hat man dir gegeben?“
Auf dem Tisch, vor dem Ermittlungsrichter, sehe ich ein Stück Papier, eine Unterschrift: Latyschew. Das war unser Soldat. Er hatte als Diensthabender in der ersten Abteilung gearbeitet und war immer nur zum politischen Unterricht zu uns gekommen. Und ich war in diesen Unterrichtsstunden aktiv gewesen; wenn sie mich gefragt hatten, erzählte ich, was für gute Jungs die Amerikaner waren, dass sie sich wohl in nichts von den Russen unterschieden. Er hatte das gemeldet, und sie hatten das als Grundlage für meine Verhaftung genommen.
***
Die Verhöre zogen sich über etwa zwei Monate hin, jede Nacht. Ich streite sowieso alles ab – und schon beginnen sie mit echten physischen Gewaltanwendungen: mit Schlägen, Handschellen, Karzer… Am meisten fürchtete ich mich davor, wenn der Major mir unter die Rippen schlug – das war, als ob er die inneren Organe traf. Mit der Tür zerquetschten sie mir die Finger. Und einmal waren sie übereifrig: meine Haut platzte auf, ein weißes Stückchen Knochen kam zum Vorschein – und ich verlor das Bewusstsein. Ich erwachte in der Zelle, den Finger voller Blut. Die Nachbarn sagen: unterschreib, was sie sagen, sonst kann es sein, dass du zum Invaliden wirst.
Beim nächsten Verhör sage ich zum Untersuchungsrichter: ich unterschreibe alles. Aber die Legende dazu – die müsst ihr euch selber ausdenken; ich kann es nicht. Am nächsten Tag lassen sie mich holen und sagen nun schon ganz höflich: „Wir verstehen, dass du kein Spion bist, aber da du nun schon einmal hierher geraten bist – es gibt keinen Weg zurück. Wenn von zehn Verurteilten einer ein Verräter ist – dann ist das schon unser Verdienst. Hier hast du dein Märchen – und nun unterschreib!“
Ich beginne zu lesen und denke: was ist das denn?! Kein einziges Wort über die Amerikaner; stattdessen steht da, dass ich Truppen-Kommandeur war, zu den Deutschen übergelaufen bin und ihnen Geheimnisse verraten habe…
Ich denke: nei-in! Dass ich Spion bin, kann ich unterschreiben, aber so etwas – das werden sie nicht erleben. Und der Ermittlungsrichter sagt ganz ruhig: „Na, denk nochmal nach. Wenn du nicht unterschreibst, dann lassen wir deine Eltern herholen, dann können die sich mal einen Vaterlandsverräter aus der Nähe ansehen!“
Und ich unterzeichnete alles.
***
Bei der Verhandlung gab man mir 25 Jahre. Die Menschen fielen dort gewöhnlich beinahe in Ohnmacht, aber ich hatte das Gefühl, als wäre ich hier in einem Theaterstück. Ich bin 23 und werde 25 Jahre absitzen… Ich stehe, sehe den Richter an und lächle.
Nach Krasnojarsk brachten sie mich bei bereits frostigem Wetter, der Jenissei war zugefroren, es war klar, dass ich hier überwintern sollte. Ich schrieb nach Hause: „Ich habe gute Laune, das Ziel meines Lebens ist klar, bis bald“. Nein, ich beklagte mich nie. Worüber auch? Dass ich mich langweilte? Langeweile hatte ich nicht: im Lager war ich von Freunden umgeben. Man musste gemeinsam ums Leben kämpfen, um seine menschliche Würde.
Kann man im Lager überleben? Natürlich überlebten diejenigen, die im Dienstleistungsbereich, im Warmen, tätig waren. Die anderen, die im ewigen Frost schuften mussten, starben hingegen wie die Fliegen.
Ich erinnere mich, wie wir in Norilsk eine Baugrube aushoben. Zwanzig Meter unten erstreckt sich der ewige Frostboden, hart wie Felsgestein. Die Spitzhacke schafft ihn nicht, die Brechstange zerbricht, und vom Vorschlaghammer kann schon gar keine Rede sein.
Während einer Schicht schürften wir ganz 10-15 Zentimeter heraus. Und in einer Tiefe von 12 Metern erinnere ich mich an meine umgekommenen Kameraden und denke: sie ruhen sich bereits aus. Warum hat der Allmächtige mich bestraft, mich unter den Lebenden gelassen? Wofür quäle ich mich hier jetzt? Das ist eine verzweifelte Lage.
Später machte das Schicksal mir ein Geschenk, man stellte mich als Drechsler in der zentralen Reparatur-Werkstatt ein. Ich kam ins Warme, ich brauchte keine Norm erfüllen, mir meine Essensration erarbeiten. Aber ich arbeitete nicht schlecht und drückte mich auch nicht davor. Wir alle wussten, dass unsere Arbeit notwendig war. Notwendig, um Nickel und Kupfer zu fördern. Bis 1954 war ich in verschiedenen Lagerabteilungen an der Drechselbank tätig.
Foto: Anna Artemewa
„Den Brief an meine Eltern warf ich in Kiew durch eine Ritze des Waggons.
Ich sehe: da kommt eine Frau, schaut sich verängstigt um, hebt ihn auf – und
rennt davon.
Wäre sie nicht gewesen, hätten die Eltern überhaupt nicht erfahren,
dass ich verhaftet worden
war und 25 Jahre bekommen hatte“.
Alle sagen: „Norilsker Aufstand“. Dabei gab es einen Aufstand als solchen gar nicht, es handelte sich vielmehr um einen Streik. Nach Stalins Tod waren wir voller Hoffnung, dass das Leben leichter würde, doch das Gegenteil war der Fall: MGB und KGB wurden miteinander vereinigt, ihre Mitarbeiter bekamen Angst, dass man ihnen ihr Stückchen Brot nehmen könnte, und, um zu zeigen, dass ihre Mitarbeit absolut notwendig war, verschärften sie das Regime.
Sie beschossen uns wie Wild. Wir gehen durch die Tundra zur Arbeit, einer der Häftlinge stolpert und fällt seitlich aus der Kolonne heraus. Sogleich ertönt eine Pistolen-Salve, die Begleitwache lässt die Schäferhunde los, und zwei-drei Hunde zerreißen den schon toten Körper. Der Kolonnen-Führer eilt herbei, er sieht: die Leiche liegt einen Meter von den anderen entfernt. „Alles klar, das war versuchte Flucht“. Den Leichnam lassen sie zurück, die Kolonne marschiert weiter.
Sie mordeten auch während der Arbeit. Die Geduld war zu Ende, als Ende Mai jemand von der Wache meinte, die Gefangenen würden die Haftordnung verletzen – er gab Schüsse auf die Baracke ab. Zehn Mann wurden getötet, einen Tag zuvor hatten sie auch schon einen erschossen. Jedes Mal kamen Offiziere angerannt, schauten sich die Situation an und schrieben dann ins Protokoll ebenfalls „Flucht-Versuch“. Die Begleitsoldaten wurden durch Urlaubsversprechen oder Prämien angespornt, so dass jeder von uns sich seelisch damit vertraut machte, in jedem beliebigen Moment ins Jenseits zu gelangen. Am 26. Mai heulten die Sirenen im Kesselhaus. Das war’s – es wurde gestreikt. Die Losung lautete: „Freiheit oder Tod!“
Die anderen Lager wurden von uns benachrichtigt: wir hängten Flaggen mit schwarzen Streifen auf, bastelten Luftschlangen und hängten Papierblätter daran: „Sie erschießen uns, macht Mitteilung nach Moskau“, - wir setzten Zündschnüre in Brand und ließen die Luftschlangen aufsteigen. Wenn die Schnüre aufgebrannt waren, segelten die Zettel zu Boden und verteilten sich dabei überall in der Stadt.
***
Um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen, traf eine Kommission aus Moskau ein – angeblich von Beria höchstpersönlich. Und wir hatten bereits schriftliche Forderungen aufgestellt. Die Freiheit verlangten wir nicht, unsere Forderungen betrafen das alltägliche Leben. Dass sie die Vergitterungen von den Fenstern entfernten, nachts die Barackentüren nicht zusperrten, die Nummern von unseren Jacken entfernten, Besuche und Briefe erlaubten, unsere Akten überprüften. „Na schön, die Nummern – sagen sie zu uns, - könnt ihr gleich abnehmen“. Und alle fingen an, sich die Häftlingsnummern von der Kleidung herunter zu reißen.
Es gab auch noch eine weitere Forderung: wir wollten nicht, dass die Organisatoren des Streiks verfolgt würden. Diesen Wunsch erfüllt die Kommission nicht.
Ende Juni erfuhren wir, dass eine gewaltsame Niederschlagung des Aufstands in Vorbereitung war, und in der 5. Lagerabteilung nutzen sie dafür Feuerwehr-Fahrzeuge und Truppen. Am 1. Juli waren von dort sogar bei uns im Lager Pistolen-Schüsse und MG-Salven zu hören; am folgenden Tag wurde von einem der Wachtürme ein Stein geworfen – er trug die Aufschrift: „In der 5. Zone gibt es zahlreiche Tote und Verletzte“. Wir bereiteten uns auf das Ende vor. Der Aufstand wurde unter großem Blutvergießen niedergeschlagen. Die Männer wurden erschossen, die Frauen mit Äxten erschlagen. Diejenigen, von denen bekannt war, dass sie an der Organisierung des Aufstands teilgenommen hatten, wurden mit einer augenscheinlich harmlosen Etappe aufs Festland geschickt und anschließend an die Kolyma oder ins Zentralgefängnis der Stadt Wladimir. Mich zählten sie nicht zu den Organisatoren und brachten mich deshalb lediglich in ein anderes Lager.
An unsere Teilnahme am Streik erinnern wir uns alle mit großer Bitterkeit. Natürlich blieb danach im Wesentlichen alles wie bisher (das einzige war, dass sie Briefwechsel erlaubten, die Gitter entfernten und die Häftlingsnummern abtrennten), aber wir waren der Ansicht, dass wir trotzdem gesiegt hatten: die Behörden hatten begriffen, dass es gefährlich war, eine Gruppe bewaffneter Menschen zu halten, und nun fingen sie zum ersten Mal an, auf menschliche Weise mit uns zu sprechen.
In Deutschland verbrachte ich fast einen Monat. Meine Kameraden und ich kamen überein, dass jeder einen Betrieb finden sollte, in dem er arbeiten könnte, so lange sie uns nicht nach Hause schickten – einfach um Deutschland ein wenig kennenzulernen.
Ich machte auch einen Betrieb ausfindig. Der Ehemann der Hausherrin – sie hieß Elsa – war an der Front gefallen; geblieben war ihr Tochter Aina, 16 Jahre alt. Der Frühling kam, die Saison begann. Und es kam so, dass sie mich und Aina zu allen Arbeiten gemeinsam schickten. Schon bald konnte ich selber nicht mehr ohne sie auskommen.
Einen Monat später machten wir uns zur Abreise fertig. Die Hauswirtin war verstimmt. Sie sagt: „Warum willst du wegfahren? Dort wartet Sibirien auf dich, und Sibirien – das ist ein kaltes Land. Bleib hier. Du bist 20, Aina 16, ihr werdet die künftigen Hausherren sein“.
Ich war schon zum Bleiben bereit. Doch als wir schließlich fahren sollten, war es, als ob ich Ainas Antlitz plötzlich vergessen hätte. Bis heute kann ich mich nicht an ihr Aussehen, ihre Augen, an diesem letzten Tag erinnern.
Manchmal denke ich: wie bin ich weggefahren, mit welchem Gesichtsausdruck? Es war, als ob nicht ich selber, sondern jemand anders, das gemacht hatte. Zuerst ließ der Allmächtige meine Mutter vor mir erscheinen, als ich sterben sollte. Und dann verschloss er mir den Anblick Ainas, weil mein Schicksal ein anderes war. Deswegen habe ich niemals bedauert, dass ich in Kerkern saß, dass ich ins Lager geriet. Wenn ich einfach nur in die Union zurückgekehrt oder sofort ins GULAG geraten wäre, dann wäre ich heute ein ganz anderer Mensch.
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