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„Nur Freie“

Unter dem Zeichen von Norilsk

In dem Projekt „Einfache Geschichten“, das zum 80. Jahrestag des „Norilsker Nickel“ begann, erzählen Norilsker, die eine bemerkenswerte Spur in der Biographie der Stadt und des Kombinats hinterlassen haben, von sich und der damaligen Zeit. Für die Sender „Autoradio“ und „Europa Plus“ wurden die Hörgeschichte von den verdienten Schauspielern Russlands Nina Walenskaja, Larissa Potechina, Sergej Igolnikow, Sergej Rebrij und Andrej Ksenjuk vertont.

Die „Polar-Prawda“ präsentiert ihren Lesern erweiterte Versionen der „Einfachen Geschichten“ als Fortsetzung des Jubiläums-„Chronographen“.

- Ich arbeitete in Dudinka als Hafenchef. 1948 gehörte alles, was mit dem Wassertransport zusammenhing, in meinen Verantwortungsbereich. Ich erinnere mich, dass wir ein Telegramm vom Minister für innere Angelegenheiten Kruglow erhielten. Es hatte folgenden Inhalt: „Zu Ihnen wurde ein englisches Schiff entsendet, das mit polnischem Zement beladen ist. An Bord befinden sich 4000 Tonnen; sie sind innerhalb von 96 Stunden nur durch die Arbeitskraft von Freien abzuladen“.

Dieses Telegramm machte uns äußerst stutzig. Es verhielt sich nämlich so, dass es im Hafen von Dudinka insgesamt höchstens 120-150 Freie gab – und bei allen handelte es sich um „tollwütig gewordene Hausfrauen“, wie wir damals die Ehefrauen es Kommandostabs nannten, die keinen speziellen Beruf erlernt hatten, als Wirtschafter, im Handel oder in den Personalabteilungen arbeiteten. Aber gebraucht hätte man kräftige Männer, an die 160, - dann hätte man vielleicht auch das Abladen des Zements innerhalb von vier Tagen und Nächten schaffen können. Was tun? Ich rufe also den Direktor des Kombinats Swerjew an. Er sagt:

- Trommel die Stellvertreter zusammen, und dann beratschlagt, wie ihr verfahren wollt.

Also kamen der Leiter der operativen Tschekisten-Abteilung, der stellvertretende Lagerleiter, die Chefs der Dienste zusammen. Ich erklärte die Situation. Alle kamen zu der einheitlichen Meinung: von einem Einsatz der Freien zum Abladen des Schiffs kann überhaupt keine Rede sein. Aber wie sollte man dann die gestellte Aufgabe erledigen?

Der Tschekisten-Chef schlug vor:

- Lasst uns zuverlässige Häftlinge aussuchen und mit denen das Schiff entladen.

Der stellvertretende Lagerleiter, Hauptmann Michno, fuhr fort:

- Kleiden wir die Gefangenen in gute Arbeitskleidung, auch die militarisierte Wache wird so ausgestattet, und anstelle von Gewehren bewaffnen wir sie für alle Fälle mit Pistolen…

Sofort wurde beschlossen, dass wir den Häftlingen die ganze Wahrheit sagen wollten, und zwar sowohl über das Verbot des Ministers, als auch im Hinblick auf die 96 Stunden und die mit Pistolen ausgerüsteten Wachen…
… In Dudinka gab es zahlreiche gute Spezialisten, die innerhalb von drei Tagen bemerkenswerte Arbeitskleidung zusammennähten – wie aus einer amerikanischen Zeitschrift. Das Schiff wurde innerhalb von 72 Stunden entladen. Beim Aufnehmen der letzten Last brach der Ausleger es Schiffskrans. Wir vermuteten, dass unsere Ladearbeiter das absichtlich getan hatten – sie hatten zweimal so viel Zement darauf gepackt, alles schien in Ordnung, bis der Ausleger dem Gewicht nicht mehr standhielt.

Als das englische Schiff zum Abschied die Schiffssirene ertönen ließ und sich von der Anlegestelle entfernte, eröffnete sich ein merkwürdiges Bild: auf dem Wasser schwammen weißes Brot, Tüten, Zigaretten… Farbige und Weiße warfen unseren Leuten, als wären es Hunde, Brot, Schokolade und sogar Wurst zu. Niemand nahm etwas.

„Polar-Wahrheit“, 29.10.2015

Wassilij Ksintaris, ehemaliger stellvertretender Direktor des Norilsker Kombinats für das Versorgungs- und Transportwesen, der später erster stellvertretender Vorsitzender der Staatlichen Versorgung der UdSSR wurde.


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