Durch den Willen Stalins aus ihren Heimatorten ausgesiedelt, fanden hunderttausende ethnische Deutsche, Tschetschenen, Krim-Tataren, Griechen, Bulgaren ihre zweite Heimat inmitten der Taiga.
Sondersiedler-Familie
Die Aussiedlung aus den Heimatorten zur Zeit des Großen Vaterländischen Krieges – ein Verbrechen, welches die Staatsmacht erst vor 50 Jahren eingestand. Angeblich, um Sabotage und Spionage zu verhindern, waren Deutsche, Tschetschenen, Inguschen, Krim-Tataren und Krim-Armenier, Karatschaier, Balkaren, Griechen, Bulgaren und Kalmücken der Umsiedlung ausgesetzt.
Tatsache ist:
33 Züge mit Deutschen trafen in der Region Krasnojarsk ein.
Die allerersten, die aus ihren Heimatorden ausgesiedelt wurden, wo sie seit der Zeit des Ukas Katharinas II lebten, waren die Deutschen. Bereits zwei Tage nach Beginn des Krieges kam der Befehl „Über die Aussiedlung der in den Wolga-Rayons lebenden Deutschen“. Für die Organisierung der Aussiedlung wurden 1450 Mitarbeiter des NKWD, 3000 Milizionäre und 9650 Rotarmisten aktiviert.
Binnen kürzester Frist wurden aus der autonomen deutschen Wolga-Republik und dem Gebiet Saratow 423110 Menschen nach Sibirien und Kasachstan ausgesiedelt. Zum Packen ihrer Sachen gab man den Menschen mehrere Stunden Zeit. Abtransportiert wurden sie in 158 Zügen. 33 davon trafen in der Region Krasnojarsk ein. Einen Monat verbrachten sie in den Waggons, die eigentlich für den Transport von Vieh bestimmt waren. Wohin man sie brachte, teilte man ihnen nicht mit. Sie wurden auf Dörfer und Ortschaften verteilt. Vor der ortsansässigen Bevölkerung hielt man ebenfalls geheim, wer diese Leute waren und wo sie herkamen. Doch schon bald darauf wurde alles bekannt, die Ankömmlinge wurde dauerhaft mit dem Etikett „Faschist“, „Verräter“ abgestempelt.
„Zu Beginn der Umsiedlung war das überall der Fall, - erzählt Aleksej Babij, Vorsitzender der „Memorial“-Organisation in der Region Krasnojarsk. – Mehr noch, die Ortsansässigen befühlten sogar die Köpfe der Deutschen – nach ihrer Vorstellung wuchsen dort Hörner. Später begriffen sie, freundeten sich an, heirateten einander“.
Das erste Jahr nach der Deportation war das schlimmste. Die Menschen trafen praktisch ohne Hab und Gut dort ein. Die mehr oder weniger wertvollen Sachen mussten sie unterwegs gegen Lebensmittel eintauschen. Nur ein paar gute Menschen halfen ihnen.
Am 18. Juni 1941 erhielt Kostja German aus Marxstadt im Gebiet Saratow sein Reifezeugnis über den höheren Schulabschluss. Vor ihm lagen eine Menge Pläne. Am 22. Juni erholte er sich mit Freunden an der Wolga; als er nach Hause zurückkehrte, erfuhr er, dass der Krieg ausgebrochen war. Den Vater verhaftete man bereits drei Tage später und erklärte ihn zum Volksfeind. Er wurde nie mehr gesehen. Erst 50 Jahre später erfuhren die Angehörigen, dass er im Saratower Gefängnis ein Jahr nach der Verhaftung an Tuberkulose gestorben war. Ein Teil der Familie wurde nach Kasachstan ausgesiedelt, aber Konstantin kam mit der Schwester, ihrem Mann und dem Neffen – in den Bezirk Karatus, Region Krasnojarsk. Später gelang es ihm, auch seine Mutter dorthin zu holen.
Konstantin German. Foto aus dem Bezirksmuseum Karatus
Sie kamen im Oktober an. Kostja konnte lange Zeit keine Arbeit finden. Erst im Januar 1942 nahm man ihn als Rechnungsführer in der Kolchose an und ließ ihn nicht mehr fort. Besser als der junge Mann kannte sich niemand im ganzen Bezirk in Mathematik aus. Konstantin hatte gleich doppeltes Glück. Alle Sonder-Umsiedler, einschließlich der Frauen, die Kinder älter als drei Jahre hatten, wurden in die Arbeitsarmee geholt. Im Grunde genommen war das mit der Zwangsarbeit, zumeist in der Holzbeschaffung, von Gefangenen gleichzusetzen.
Die Bedingungen sind schlecht – aus gesunden Menschen wurden innerhalb von zwei-drei Monaten unterernährte, entkräftete. Kostja hatte bereits seit seiner Kindheit einen durch Krankheit verstümmelten Fuß – für ihn kam das einem Todesurteil gleich. Er stand bereits in der Reihe der Einberufenen, als ihn ein Mitarbeiter des Bezirks-Exekutivkomitees, Josef Bykownik, buchstäblich von dort wieder herausriss – wir können hier unmöglich ohne diesen versierten Rechnungsführer auskommen. Und damit rettete er eigentlich dem jungen Deutschen das Leben. Und 1943 bemerkte man im Bezirk, dass Konstantin German auch ein ziemlich guter Organisator war, über künstlerische Talente verfügte und zudem Musikinstrumente spielen konnte. Und dann schlugen sie ihn für die Kandidatur zum Sekretär der Komsomolzen-Organisation vor, was in seiner Situation ganz und gar unerhört war.
Konstantin Germans Passierschein. Foto: Archiv des Bezirksmuseums Karatus
Konstantin erinnerte sich nicht nur einmal an eine Episode, als er in einem Stück des örtlichen Dramaturgie-Kreises (dort hatte man einen Schauspieler benötigt, der Deutsch konnte und Geige spielte) mitwirkte - und in demselben Theaterstück auch ein Mitarbeiter des NKWD. Die unermüdliche Kontrolle deprimierte die Sonder-Umsiedler mehr, als das halbe Hungerdasein, das sie führten.
Der Ehemann einer NKWD-Aufsichtsbeamtin, Tscherkassow, durchlief 30
Gefängnisse, bevor er seinen „Chmel“ („Hopfen“; Anm. d. Übers.). Einmal im Monat
wurde er zu Hause überprüft, ohne Genehmigung durfte er sich nicht einmal ins
Nachbardorf begeben. 1948 kam ein Ukas heraus, der von jedem Sondersiedler
unterschrieben werden musste; er besagte, dass sie für immer ausgesiedelt wären,
ohne das Recht auf Rückkehr an ihre vorherigen Wohnorte, und dass ihnen bei
eigenmächtigem Verlassen eine Strafe von 20 Jahren Zwangsarbeit drohte. So
wurden die Menschen auf immer zu Ausgestoßenen der Gesellschaft.
Die Deportation war – ein Fehler.
Erst nach 1955, zwei Jahre nach Stalins Tod, kam ein Ukas über die Abschaffung einiger Einschränkungen heraus. Und 1956, während des berühmten 20. Parteitags, wurde auch der Personenkult des Führers verurteilt, die Umsiedler fingen an, Gesuche nach Moskau bezüglich ihrer Rehabilitierung zu schreiben. Konstantin German tat das als einer der Ersten. Aber tatsächlich beweisen, dass man sie illegal deportiert hatte, war erst in den 1990er Jahren möglich, nach Jelzins Ukasen über die vollständige Rehabilitation der Opfer der politischen Repressionen. Allerdings geschah das nicht automatisch - de– Staat liebt es nicht, seine Fehler einzugestehen. Man musste also viele moralische Kräfte aufbieten, um die ersehnte Bescheinigung zu bekommen. Nachdem Konstantin das für sich und seine Familie getan hatte, half er den anderen Dorfbewohnern dabei.
Nach Erzählungen seiner Tochter Tatjana konnten, Dank des Vaters, mehr als 100 Personen die Gerichte besiegen – sie wurden vollständig für unschuldig erklärt. Die Türen in ihrem Haus wurden Tag und Nacht nicht verschlossen. Als Konstantin German schon ein betagter und kranker Mann war, verteidigte er auch weiterhin den ehrbaren Namen seiner Landsleute. Er selber konnte nicht wieder in seine historische Heimat zurückkehren. Aber den Kindern sagte er, dass seine Heimat dort wäre, wo sich das Grab seiner Mutter befindet – im Bezirk Karatus.
Swetlana Chustik
Artikel aus der Zeitung „Argumente und Fakten am Jenissei“ (1825), 30.10.2015