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Von der Wolga nach Sibirien

Im Zusammenhang mit dem Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR ¹ 21 -160 «Über die Umsiedlung der in den Wolga-Rayons lebenden Deutschen» vom 28. August 1941 begann die Massenverbannung der Deutschen aus dem Wolgagebiet.

DIESER Ukas erwies sich als einziger Rechtsakt der 1940er Jahre, der den Versuch einer Motivation für eine Entscheidung zur Aussiedlung der Sowjetdeutschen beinhaltet. Den Deutschen wurde alles genommen, was sie sich angeschafft hatten, Familien wurden getrennt, viele in die Arbeitsarmee geschickt. An einem frostigen Herbsttag wurden sie abtransportiert, ohne sich um ihre Gesundheit zu sorgen; viele kamen unterwegs um, ohne ihren Verbannungsort erreicht zu haben.

Der Historiker W.G. Fuchs schreibt, dass insgesamt aus dem Gebiet Saratow und der Republik der Wolgadeutschen 423 110 Personen ausgewiesen wurden. Man brachte sie mit 158 Zügen fort, von denen 33 in der Region Krasnojarsk eintrafen.

Laut Angaben des regionalen Exekutivkomitees kamen im Oktober 1941 1070 Umsiedler aus der Autonomen Republik der Wolgadeutschen, den Gebieten Saratow und Stalingrad im Karatussker Bezirk an, darunter 585 Frauen, 485 Männer. Drei Viertel waren Kinder und junge Leute zwischen 0 und 35 Jahren, 215 Personen waren zwischen 36 und 60 Jahre alt, 45 – 61 Jahre und älter. Die im Karatussker Bezirk eingetroffenen Umsiedler wurden in verschiedenen Ortschaften untergebracht: Sagaisk - 201 Personen; Karatuskoe - 143; Nischnije Kurjata - 114; Wjerchnij Kuschebar - 96; Katschulka - 79; Nischnij Kuschebar - 65; Motorsk- 55; Taskino - 50; Schirschtyk und Tscherjomuschka - 42; Staraja Kop und Srednij Kuschebar - 40; Kindyrlyk - 32; Jelowka - 18.

Im Verlauf unserer Forschungen konnten wir klären, das tatsächlich in der Ortschaft Nischnij Kischebar lediglich eine deutsche Familie, die Faldins, angesiedelt wurde, die aus sieben Mitgliedern bestand.
Die Deutschen hatten den Status von Sondersiedlern inne, kontrolliert wurden sie von den Organen des NKWD – MWD der UdSSR. Die Deportierten mussten sich einmal im Monat in den Kommandanturen melden, im Bezirk gab es zwei davon: ¹ 140 – die Karatusker (ihr waren 10 Dörfer angeschlossen) und ¹ 163 – die Motorsker (5 Dörfer).

Alle Kinder waren bis zum Erreichen des 16. Lebensjahrs zur Registrierung verpflichtet. Im Januar 1945 erging die Anordnung der Regierung «Über die Rechtslage der Sonderumsiedler», nach der es ihnen das freie Reisen außerhalb der Bezirksgrenzen verboten war. Die Verletzung dieser Regel galt als Fluchtversuch.

Die Faldins waren aus der Ortschaft Warenburg im Bezirk Kukkus, Gebiet Saratow, ausgesiedelt worden.


Die Familie Faldin

Die Familie bestand aus zehn Personen, unter anderem den fünf Söhnen: Emmanuel, Friedrich, Eduard, Wladimir, Jurij, sowie drei Töchtern: Olga, Anna und Maria. An der Wolga führten sie ein wohlhabendes Leben, sie besaßen ein eigenes Haus und eine private Einzelhof-Wirtschaft, wo sie fleißig arbeiteten. Bei der Aussiedlung wollten sie hier häusliches Hab und Gut mitnehmen, aber man ließ sie mit ihren Sachen nicht auf den Lastkahn, und anderen Umsiedlern erging es genauso. Diesen Tag sollten sie ihr Leben lang im Gedächtnis behalten... Wie sie mit der Barke auf der Wolga fuhren, und im Wasser schwammen ihre ganzen zurückgelassenen Habseligkeiten; am Ufer standen die Kühe mit geschwollenen Eutern. Wie bitter, was für eine Kränkung bedeutete das für sie, deren Vorfahren schon zur Zeit Peters I im Gebiet Saratow gelebt hatten, dass sie innerhalb einer Stunde zu Feinden des Landes erklärt wurden, das sie für ihre Heimat hielten.

Niemand in der Familie Faldin wusste, wohin man sie brachte. Bis zur Regionsgrenze fuhr die Familie in Waggons, die für den Transport von Menschen überhaupt nicht geeignet waren. Alle waren dort zusammengepfercht: Männer, Frauen, Kinder, Kranke und Gesunde, Wasser und Nahrung waren nicht in ausreichender Menge vorhanden, es war kalt und ihre Notdurft mussten sie vor aller Augen verrichten. Die Leute erfuhren körperliche und seelische Erniedrigungen. Viele kamen unterwegs ums Leben.
Unter extremen Bedingungen stumpfen menschliche Instinkte wie Scham oder Angst ab, und sie hegen nur den einen Wunsch – zu überleben.

Diese Aussiedlung versetzte die Familie Faldin in die Kategorie der Heimatlosen, sie wussten nicht, was der nächste Tag ihnen bringen würde, sie verloren die Verbindung zu ihrem vorherigen Leben, den heimatlichen Gefilden, den ihnen nahestehenden Menschen. Nach dem warmen Klima mussten sie sich nun an die rauen sibirischen Gegebenheiten gewöhnen. Aber das Schlimmste lag noch vor ihnen. Die beiden ältesten Schwestern, Anna und Maria, wurden mit unbekanntem Ziel abtransportiert, das Familienoberhaupt kam in die Arbeitsarmee. Mutter Amalia Juliussowna blieb mit den kleinen Kindern allein zurück. Man empfahl ihr, sie in ein Kinderheim zu geben, aber damit war sie nicht einverstanden. Leider sollte sie weder ihren Mann, noch die beiden Töchter, jemals wiedersehen, und auch über ihr weiteres Schicksal war ihr nichts bekannt.

Nachdem Amalia Faldin die ärgsten Schwierigkeiten gemeistert hatte, dachte sie nur noch an das Wichtigste – ihre Kinder großzuziehen und auf eigene Füße zu stellen.

Man brachte sie bei einer dreiköpfigen Familie unter, die in einem alten Häuschen wohnte. Sie lebten dort in schrecklicher Enge, unter die Nachbarn waren von dieser Unterbringung nicht erbaut.
An den Glasscheiben der Fenster bildete sich bei Frost Eis, welches sie auftauten und zum Waschen und Trinken benutzten. Die Kate wurde mit dem beheizt, was gerade zur Verfügung stand, die Kissen stopften sie mit Schilfrohr aus, die Matratzen mit Stroh. Im Haus gab es viele Wanzen und Läuse. Um wenigstens die Wanzen irgendwie loszuwerden, goss man Wasser an die Stelle, wo alle schliefen. Das gab ihnen die Möglichkeit, wenn auch nur für kurze Zeit, ein wenig zu schlafen. Eine einzige Hoffnung lebte in ihnen – mit dem Sieg kommt die Freilassung, und dann würden sie wieder in ihr heimatliches Haus zurückkehren, dort die Verwandten wiedersehen und so leben wie früher. Das ganze jetzige Leben erschien ihnen wie ein böser Traum, der irgendwann einmal enden würde.

Amalia stürzte sich auf ihre geliebte Arbeit, um ein wenig Essen zusätzlich zu beschaffen. Sie hob einen Keller aus, pflanzte Kartoffeln, besorgte Brennholz und legte mit eigenen Händen einen Gemüsegarten an. Durch die alle Kräfte übersteigende Arbeit entstand an Amalias Hals eine große Beule. Sie kommt nach Hause, schläft ein wenig und geht erneut los, um nach Arbeit zu suchen, um ein Schälchen Kartoffeln zu verdienen. Aber es reichte nicht; sie musste auch noch Kartoffelschalen sammeln, welche die Leute fortgeworfen hatten. Um das Hungergefühl zu entschärfen, aßen sie Tresterkuchen. Sie hatten eine schwierige Kindheit, aber sie überlebten – trotz des Hungers und der Armut...

Sie durften nur Russisch sprechen, obwohl sie die Sprache kaum kannten.

Das bedeutete, dass die Familie praktisch auf eine neue Kultur, ungewohnte Natur-Bedingungen, eine andere Mentalität der Ortsbewohner stieß und gezwungen war, sich an das neue Leben zu gewöhnen, und das alles vertiefte nur die stressgeladene Situation der Umsiedler. Die Einen kamen damit zurecht, andere nicht.

Derzeit lebt in der Ortschaft Amalia Juliussownas jüngster Sohn Jurij (das Interview fand im April 2011 statt. Red.). Im Augenblick der Umsiedlung war er gerade zwei Jahre alt. Seine erste Erinnerung an die Kindheit ist – der Hunger, die zweite – die Kälte. Jurij Friedrichowitsch erinnert sich an eine Geschichte, von der ihm selbst nach so vielen Jahren noch die Tränen in die Augen steigen: «Die Kolchose hatte dem Bruder für gute Arbeitsleistungen ein Kälbchen zugeteilt; das hielten wir in unserer Hütte, versorgten es, und als es größer wurde, kamen Leute aus dem Bezirk und nahmen es uns weg. Das Getreue Tier rannte nach Hause zurück, durchschwamm sogar den Fluss Amyl, aber Pustekuchen! Im Winter, bei Schnee, kamen sie erneut und nahmen es für immer mit».

Diese fernen schrecklichen Jahre kommen uns heute schon nicht mehr so grauenhaft vor, wir können diesen ganzen Kummer, den die Menschen am eigenen Leib erfuhren, nicht verstehen. Sie – die Opfer der Willkür, hegen keinen Groll gegen die Staatsmacht, welche sie aus nationalen Beweggründen für Volksfeinde erklärte.

In jeder Situation muss ein Mensch vor allem immer Mensch bleiben. Befehle und Anordnungen werden von Leuten geschrieben, die besser darüber nachdenken sollten, wozu und für wen sie so etwas machen.

Die Arbeit wurde 2012 von den Schülern der 10.Klasse der Schule in Nischnij Kuschebar Regina Sorokina, Jekaterina Awlassenko, Jewgenia Kropatschewa, Natalia Koschuchowa verfasst.
(AP)


In den Materialien der Personen-Archivakte ¹ 1342 gibt es Zeugnisse darüber, dass Emanuel Friedrichowitsch FALDIN, geboren 1929, gebürtig aus der Ortschaft Warenburg, Kukkuosser (so steht es in dem Dokument) Bezirk, Gebiet Saratow, gemäß Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 im September 1941 aus der ASSR der Wolgadeutschen in den Karatusker Bezirk, Region Krasnojarsk, ausgesiedelt wurde.

Zusammen mit folgenden Familienmitgliedern befand er sich in Sonderansiedlung:

Mutter – Amalia Juliussowna Faldina, geb. 1900,
Schwester – Olga Friedrichowna Faldina, geb. 1926,
Bruder – Friedrich Friedrichowitsch Faldin, geb. 1931,
Bruder – Eduard Friedrichowitsch Faldin, geb. 1934,
Bruder – Wladimir Friedrichowitsch Faldin, geb. 1937,
Bruder – Jurij Friedrichowitsch Faldin, geb. 1939.
Aus der Sonderansiedlung freigelassen am 28.02.1956 auf Grundlage des Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 13.Dezember 1955.
Grundlage: Personen-Archivakte ¹ 1342
Stellvertretende Leiterin Ò. N. Kilina
Ober-Inspektorin N. W. Maschukowa


Bei der Umsiedlung gab es eine Instruktion.
Sie lautete insbesondere wie folgt:

- sollten einzelne Familienmitglieder zum Zeitpunkt der Verschickung abwesend sein, werden sie für den folgenden Transport an den neuen Wohnort der Familie registriert. Was faktisch nicht so gehandhabt wurde.

- laut Anordnung des Rates der Volkskommissare der UdSSR und des Zentralkomitees der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) vom 26. August war es den Umsiedlern gestattet, persönliche Dinge, kleineres Landwirtschafts- und Haushaltsinventar, Lebensmittel mit einem Gesamtgewicht von 1 Tonne pro Familie mitzunehmen. Die Mehrheit der Repressionsopfer, unter ihnen auch die Familie Faldin, traf mit leeren Händen ein; man hatte ihnen noch nicht einmal erlaubt, warme Kleidung einzupacken.

- Gebäude, landwirtschaftliche Ausrüstungen, Vieh und Getreide sollten nach bestimmten Bewertungskriterien an Sonder-Kommissionen übergeben werden. Im Gegenzug sollten die zu deportierenden Personen Quittungen erhalten, auf deren Grundlage es vorgesehen war, ihnen bei Ankunft vor Ort eine Kompensation in Naturalien für die konfiszierten landwirtschaftlichen Produkte und das Vieh zu zahlen. Die Gebäude sollten in Form einer Zuweisung fertiger Häuser oder der Zuteilung von Baumaterialien «wiederhergestellt» werden. Protokolle über den Wert des Besitzes der Familie Faldin existierten nicht; infolgedessen bekamen sie auch keine Quittungen ausgehändigt und erhielten keine Entschädigung. Von einer Zuweisung fertiger Häuser oder der Zuteilung von Baumaterialien war keine Rede.

„Banner der Arbeit“ (Ortschaft Karatuskoje), 30.10.2015


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