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Wie ein Donnerschlag, so der Wahrheit Zusammenbruch

Ewiges Gedenken den unschuldig Umgekommenen

Der Abend der Begegnung, gewidmet dem Gedenken an die Opfer der politischen Repressionen, fand am 30. Oktober im Sajaner Heimatkunde-Museum statt. Hierhergekommen waren Schüler, die am dritten Sammelband „Von Sibirien nach Sibirien“ arbeiten, und ihre Projektleiterin, die Geschichtslehrerin Tatjana Rubzowa, Vertreter der Bezirksverwaltung sowie Augenzeugen jener fernen Ereignisse.

Der Stempel der Geheimhaltung wurde entfernt

Muss man daran erinnern, dass im 20. Jahrhundert viele Schicksalsherausforderungen auf unser Land entfielen? Der Bürgerkrieg sowie zwei Weltkriege, Hunger und Zerfall rafften dutzende Millionen Menschenleben dahin und zwangen die Überlebenden, das Land immer wieder neu aufzubauen.

Schreckliche Seiten unserer Geschichte waren auch die politischen Verfolgungen, die noch in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ihren Anfang nahmen und sich bis ins Jahr 1953 hinzogen. Wie die Wellen der Meeresbrandung rollten sie heran, eine nach der anderen, und vernichteten hunderte, tausende, Millionen Menschenleben. Ingenieure und Bauern, Marschälle und Generäle, Wissenschaftler und Dichter, Schriftsteller und Schauspieler gerieten in den „Fleischwolf“ der Repressionen…Bis heute konnten die in ihrem Maßstab ungeheuerlichen Zahlen der Erschossenen, in den Gefängnissen Inhaftierten und in Kerkern Verfaulten, die Zahlen derjenigen, deren Kinder durch das Zusammentreffen grausamer Umstände niemals elterliche Wärme, mütterliche Zärtlichkeit erfuhren und in Kinderheimen aufwuchsen, nicht authentisch ermittelt werden. Nicht zu ermessen ist auch, wie viele Menschen, die als „Volksfeinde“ gebrandmarkt wurden, gezwungen waren, aus dem Heimatland zu fliehen. Manche von ihnen gelten bis heute als „verschollen“…

Repressionsopfer – das sind diejenigen, denen man in ungesetzlicher Weise ihren Besitz, ihr heimisches Haus wegnahm und aus ihrem gewohnten Leben herausriss. Es sind diejenigen, die nicht nur körperliche Qualen zu erleiden hatten, sondern, wegen der ungerechtfertigten Beschuldigungen, auch unerträgliche seelische Gram gegenüber sich selbst und den Mitgliedern ihrer Familie ertragen mussten. Heute sind sie keine Verfolgten mehr, sondern vielmehr Rehabilitierte.

Der Tag des Gedenkens an die politischen Repressionen – eine Bestätigung dafür, dass nichts vergessen ist: weder die große Heldentat, noch der feige Verrat oder die dunklen Verbrechen. All denen, die unschuldig gelitten haben, ihren guten Namen wiederzugeben – das ist die heilige Pflicht des Staates…

Gegenwärtig läuft eine große Forschungsarbeit zur Wiederherstellung von Familiennamen, Daten, Ereignissen. Der Stempel er Geheimhaltung wurde von den Archivakten der enteigneten Großbauern entfernt, sodass sie nun sorgfältig untersucht werden können. Besser als jedes Geschichtslehrbuch kann ein vergilbtes Dokument davon erzählen, was in jenen fernen Jahren geschah. Natürlich werden unschöne Fakten darüber enthüllt, wie Nachbarn oder die eigenen Eltern denunziert wurden. Aber wir können uns heute kein Urteil darüber erlauben, was sie dazu veranlasste Feder und Tinte zu nehmen und eine Verleumdung abzufassen. Und haben wir das Recht, sie zu verurteilen?

Die Regierung der Region Krasnojarsk, die Archivbehörde der Region Krasnojarsk, die „Memorial“-Organisation für geschichtliche Aufklärung und Menschenrechte sind heute mit umfangreichen Forschungstätigkeiten befasst, indem sie die Biographien verfolgter sibirischer Bauern – unserer Landsleute – sammeln und wiederherstellen. Angaben über entkulakisierte Bauern finden Eingang ins Buch der Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen der Region Krasnojarsk. Ihre Rehabilitierung geschieht in der vom Gesetz vorgesehenen Art und Weise. Und hinter jedem neuen Familiennamen verbirgt sich seine bittere Wahrheit. Alle Vor- und Nachnamen sind Bestandteil des Buches der Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen.

Von Sibirien nach Sibirien

Gerade ein solches Buch des Gedenkens gab vor einigen Jahren den Pädagogen und Schülern der Aginsker Mittelschule N° 2 den Anstoß zur Durchführung einer umfangreichen Forschungsarbeit und der Abfassung eines Sammelwerkes unter dem Titel „Von Sibirien nach Sibirien“.

Davon berichtete auf der Begegnung die ehemalige Geschichtslehrerin Ludmila Miller.

„Der Gedanke zur Arbeit an einem Buch der Erinnerung des Sajan-Bezirks kam nicht von Nun auf Jetzt, - sagt Ludmila Konstantinowna. – Alles begann vielmehr mit einem Besuch im Amtszimmer der stellvertretenden Leiterin der Bezirksverwaltung Tatjana Chlebnikowa, in deren Schrank ich das Buch der Erinnerung entdeckte. Dieses erste Buch nahm ich mit in die Schule, zeigte es meiner Kollegin – der Geschichtslehrerin Tatjana Rubzowa, und machte die Kinder damit bekannt. Die Schicksale der Menschen interessierte viele von ihnen, und so fingen wir an, unsere eigene Forschung zu betreiben. In der Zwischenzeit wurden noch weitere Bände des Buches der Erinnerung herausgebracht, welche wir von Tatjana Wassiljewna ebenfalls in die Schule gebracht bekamen. Oft wandten wir uns an die Bibliothek und behielten die Bibliotheksausgaben lange Zeit bei uns, weil wir sie wieder und wieder studierten. Nach und nach rekonstruierten wir die Namen verfolgter Sajaner (der Sajanbezirk war damals noch der Bezirk Aginsk), rekonstruierten die Ereignisse. Das Ergebnis dieser Suche war die Herausgabe zweier Sammelwerke „Von Sibirien nach Sibirien“. An ihrer Entstehung nahmen teil: die Direktorin der Schule Maria Frolenkowa, die Pädagoginnen Natalja Morewa, Larissa Pylowa, Olga Leontjewa.

Heute lernen die Kinder, die an der Ausgabe des ersten Bandes „Von Sibirien nach Sibirien“ gearbeitet haben, bereits im fünften Kurs der höheren Lehreinrichtungen, und ihre Sache wird von den heutigen Oberklässlern unter der Leitung von Tatjana Rubzowa fortgesetzt. Außerdem studieren die Schüler alle zugänglichen Materialien und Bücher, arbeiten im Sajaner Archiv, treffen sich mit Nachfahren einstiger Repressionsopfer. Einer der ersten Teilnehmer an der Forschungsarbeit, Nikita Suchorutschkin, war zusammen mit dem Vorsitzenden der regionalen „Memorial“-Gesellschaft für Geschichtsforschung und Menschenrechte, Aleksej Babij, auf der Moskauer Konferenz. Nachdem Nikita in unserer Landeshauptstadt den ersten Teil des Buches „Von Sibirien nach Sibirien“ vorgestellt hatte, kehrte er als Diplomand des Finales des Allrussischen Wettbewerbs für heimatkundliche Forschungsarbeiten „Vaterland“ in unseren Bezirk zurück.

Doch bis dahin war es ein weiter Weg. Es kam nämlich so, dass für die Herausgabe des Buches kein Geld vorhanden war. Lange Zeit suchten wir einen Sponsor, den wir schließlich auch fanden. Den ersten Sammelband brachten wir mit Hilfe der Geschäftsführung der „Kommunalschtschik“ GmbH heraus. Den zweiten Band versprach erneut Aleksander Sacharow zu sponsern, doch die Mittel wurden nicht zugeteilt. Und so kam das zweite Buch „Von Sibirien nach Sibirien“ faktisch auf Kosten eigener Mittel der Redaktion der Bezirkszeitung „Prisajane“ heraus.

Die jungen Leute setzen ihre Arbeit fort. Sie haben inzwischen auch schon das Material für den dritten Band angehäuft, aber leider stehen auch in diesem Fall für die Veröffentlichung derzeit keine Geldmittel zur Verfügung“.

Ludmila Konstantinowna erinnerte auch daran, dass Dank der Forschungstätigkeit des Vorsitzenden der „Memorial“-Gesellschaft, Aleksej Babij, der 12. Band des Buches der Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen“ das Licht der Welt erblickt hat, in dem Informationen über enteignete (verfolgte) Bauern des Aginsker (heute Sajaner) Bezirks veröffentlicht sind. Hier ertönen Familiennamen wie Balanowskij, Belokon, Dadeusch (Dodeusch), Roman, Kowezkaja, Putschkow, Sulim, Permjakow, Kowezkij u.a. Anhand dessen setzen auch die Schüler der Aginsker Schule N° 2 ihre Forschungsarbeit fort. Gleichzeitig werden auch Korrekturen und Präzisierungen in den vorherigen Publikationen vorgenommen. Beispielsweise ist in Archivdokumenten vermerkt, dass die repressierte Warwara Demidenko erschossen wurde; doch nach den Worten von Maria Schipowalowa, überlebte ihre Großmutter und starb in hohem Alter im Kreise der Familie, was durch entsprechende Dokumente bestätigt ist.

Enteignet wegen einer Mühle

Bisweilen helfen das Einsteigen in die Geschichte seiner Heimat, seiner Familie und sogar ganz gewöhnliche Neugier dabei, Geheimnisse der Vergangenheit zu enthüllen. So verhielt es sich auch bei der Pädagogin des Zentrums für Kinder-Kreativität – Ludmila Waljanowa. Während sie Informationen über Nikolai Petrowskij gesammelt hatte, dessen sterbliche Überreste in diesem Frühjahr aus dem Gebiet Smolensk abgeholt und in seiner Heimatstadt Petropawlowka beigesetzt wurden, blätterte sie auch viele Male die Seiten des 11. Und 12. Bandes des Buches der Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen durch u8nd studierte sie aufmerksam. Als die eigentliche Arbeit bereits beendet war, öffnete Ludmila Nikolajewna noch einmal das Buch und entdeckte einen ihr bekannten Nachnamen – Waljanow. Viele Male war sie bereits darauf gestoßen, hatte jedoch keine Zeit gefunden, die Aufzeichnungen im Detail anzuschauen. Der Gleichklang des Familiennamens mit ihrem eigenen ließ ihr dann aber doch keine Ruhe. Nachdem sie das Buch ein weiteres Mal zur Hand genommen hatte, begriff sie, dass sie das Offenkundige zunächst überlesen hatte. Neben dem Namen stand in Klammern „Wal’janow“. Sie las weiter und erstarrte: „Aristarch“. Aber wenn der Großvater Wassilij Aristarchowitsch geheißen hatte, dann bedeutete es, dass ihr Urgroßvater Aristarch Waljanow (Wal’janow) gewesen war. Dies bestätigen auch Angaben über den Geburtsort von Aristarch – Priwolnoje im Bezirk Aginsk. Es stellte sich heraus, dass der Urgroßvater entkulakisiert und nach Sibirien verschleppt worden war, doch er überlebte.

Ludmila setzte ihre Forschungsarbeit fort: „Für mich war das sehr wichtig. Zuallererst rief ich alle Verwandten in der Hoffnung an, dass sich irgend einer an Aristarch erinnern würde und von ihm erzählen könnte. Ich wandte sich auch ans Bezirksarchiv, wo ich die Akte des Urgroßvaters ausfindig machte, welche unter dem Buchstaben R-2, Verz. 1, Dossier… (danach kamen noch einige Ziffern, die ich nicht verstand). Ich hatte Glück, die Akte meines Urgroßvaters war gut erhalten, und man konnte sie in die Hände nehmen, studieren und abfotografieren“.

Ludmila Waljanowa zeigte den Teilnehmern der Begegnung Fotos aus der Akte ihres Urgroßvaters. Vergilbtes Papier, hier und da im Laufe der Zeit abgebröckelte Ecken, die Tinte kaum noch zu sehen. Doch die Dokumente sind erstaunlich gut erhalten geblieben; man kann sich auch ganz frei die Korrekturen auf der ersten Seite ansehen, auf der der Name Kristof achtlos in Aristarch abgeändert wurde – auch hier wurden Fehler zugelassen.

Wie sich herausstellte, bildeten die Grundlage für Aristarch Waljanows Enteignung (auf einer der Seiten ist genau dieser Familienname eigenhändig von Aristarch aufgeschrieben worden) seine Pferde, Kühe und … eine Mühle. Das gesamte „Gut“ im Wert von 216 Rubel. Allerdings hat der Urgroßvater gemäß den Erinnerungen der Verwandten die Mühle selber errichtet. Er hatte drei Kinder – Wassilij, Aleksandra, Akulina. Hier in Aristarchas Akte befinden sich: eine Inventarliste, ein Protokoll und eine Karte mit den nicht aus landwirtschaftlicher Arbeit resultierenden Einkünften.

„Beim Studium der Akte, - sagt Ludmila Waljanowa, - wunderte ich mich über den Nachnamen eines der Kommissionsmitglieder. Genau demselben Namen begegnet man unter den Angehörigen, und das bestätigt wieder einmal mehr, dass der Hauptgrund für viele Streitigkeiten und Enteignungen die zwischenmenschlichen Beziehungen waren“.

Ludmila Nikolajewna lenkte die Aufmerksamkeit der Anwesenden auch noch auf eine andere Tatsache. Unter den vergilbten Seiten wurde eine Erklärung von Aristarchs Schwager – Timofej Donjajew (des Vaters des ehemaligen Direktors der Tugatschinsker Schule Wassilij Donjajew) – entdeckt. Er bestätigte, dass die Familie die Mühle mit ihren eigenen schwieligen Händen erbaute, um sich selber versorgen zu können, und dass Aristarch kein Kulak (wohlhabender Großbauer; Anm. d. Übers.) war. Im Gegenteil, er war vielmehr Rotarmist, der auch an kriegerischen Handlungen teilnahm. Es gibt sogar eine Bescheinigung, die das bestätigt. Nichtsdestoweniger wurde Aristarch 1930 Repressalien ausgesetzt und bekam die Wahlrechte entzogen.

Tragisch endete das Leben einer der Töchter Aristarchs – Aleksandra; sie starb 1943 bei Baumfäll-Arbeiten. Sein Sohn Wassilij hatte 11 Kinder, unter ihnen auch Ludmilas Vater Nikolaj; der älteste hieß Michail. Lange Zeit galt Michail als verschollen. Nach den Dokumenten zu urteilen, akzeptierte er den Vornamen des Vaters (Aristarch) nicht, und in seiner Geburtsurkunde wurde der Vatersname (Aristarchowitsch) geändert. In dieser Spalte steht Wassilij Aleksandrowitsch.

Dafür, dass er Filzstiefel walkte

Ëèäèÿ ÈäòDie Großeltern von Lidia Idt wurden unterdrückt, als ihre Mutter gerade erst zehn Jahre alt war. „Und alles nur deswegen, weil der Großvater eine eigene Vorrichtung zum Wolleschlagen besaß – er walkte Filzstiefel, - erzählt Lidia Wassiljewna. – Und da waren auch noch 8 oder 9 weitere Kinder, die alle ernährt werden mussten. Als sie die ganze Familie aus dem Haus getrieben und in einen Leiterwagen verfrachtet hatten, schrie Kusma, der Jüngste: „Bringt mich zu Anissa (die Frau des ältesten Sohnes, die schon lange Zeit allein lebte), ich will Milch trinken!“ Er hatte Hunger. Aber wer hörte ihn schon – den Sohn eines Kulaken. Sie haben dem Großvater alles weggenommen, - in Lidia Wassiljewnas Augen steigen Tränen auf, doch sie nahm sich zusammen und fuhr mit ihrer Erzählung fort. – Sie enteigneten auch die Eltern meines Vaters Semjon Filippowitsch und Ksenja Iwanowna Antonenko aus dem Dorf Tschargi. Auch ihre Familie war groß. Sie besaßen eine windschiefe Bruchbude, die sie selber zusammengebaut hatten, und nur Großmutters Bruder hatte ihnen dabei geholfen. Als der Großvater enteignet wurde, rissen sie dieses Häuschen ab und flößten es auf dem Fluss nach Irbej. In den Dokumenten über die Enteignung ist vermerkt, dass der Großvater einen Knecht beschäftigt hatte. Aber was für ein „Knecht“ soll denn Großmutters Bruder gewesen sein, der beim Bau der Hütte half? Niemand wollte ihre Erklärung hören.

Man brachte die ganze Familie in die Siedlung Kodinskaja, wo die Großeltern, und später auch ihre Kinder, sich für viele Jahre niederließen. Ich wurde dort geboren. Sie wohnten sofort in einer Baracke, die sie später in Sektionen unterteilten; schließlich bauten sie sich ein Haus. Als der Vater heranwuchs, fällte er dort Bäume. Es gibt sogar Ehrenurkunden – er war Stachanow-Arbeiter. Sie zersägten das Holz mit einer Bügelsäge, der Großvater schliff sie, und Mama hieb die Zweige ab. Ich weiß noch, wie ich selber losging, um Ähren zu sammeln. Wir führten ein Hungerdasein“.

So zerbrachen die Schicksale mit einem Schlag. Aus dem Helfer wurde ein Knecht und der, dem er half – unweigerlich zum Ausbeuter. Diesem Wort begegnet man oft in den Akten der enteigneten Bauern. Ludmila Miller erinnert sich, dass sie, als sie sich einmal mit einer anderen Enteignungsakte befasste, auch folgendes Wort sah – „Jonsplantator“. Heute mag sich das sehr witzig anhören, aber damals…

Erzieherin im Kinderheim

Die Geschichte von Ljubow Jurkowa war faszinierend. Sie studierte nicht nur Dokumente, sondern leistete selber große Forschungsarbeit, fand Verwandte des Vaters, der Mutter, lernte Kusinen und Vettern kennen. Viele Jahre verwendete sie auf diese Forschungen, aber die Ergebnisse daraus sind verblüffend.

Das Leben Ljubow Anatoljewnas ist bereits seit über 40 Jahren mit dem Sajaner Bezirk verbunden, aber geboren wurde sie im Altai-Gebiet. Bereits in der Schule wusste sie, dass ihre Mutter seit ihrem dritten Lebensjahr im Kinderheim erzogen wurde. Warum? Niemand konnte ihr diese Frage beantworten. So vergingen viele Jahre. Ljuba wuchs heran, verließ die Altai-Region, heiratete. Erst 2010 brachte sie das Jahr 1938, in dem ihre Mutter ins Kinderheim kam, mit dem Tag des Gedenkens an die Opfer der politischen Repressionen in eine Wechselbeziehung. Sie fand das Buch des Gedenkens der Altai-Region und entdeckte darin den Familiennamen des Großvaters. Doch es gab dort eine Unstimmigkeit. Die Mutter hieß Lilia Aleksejewna, aber der Name des Großvaters lautete Aleksander. Sie stellte eine Anfrage ans Archiv und bekam eine Antwort, in der Informationen darüber enthalten waren, dass Aleksander eine dreijährige Tochter namens Lilia hatte; damit wusste sie, dass sie tatsächlich ihren Großvater gefunden hatte.

Im Verlaufe eines Jahres verschickte Ljubow Anatoljewna eine Anfrage nach der anderen. Die Briefe flogen in Archive Weißrusslands, der Altai-Region und des Nowosibirsker Gebiets. Zurück bekam sie Archiv-Auskünfte. Und im Jahre 2011 gelang es ihr und der Mutter, die zu der Zeit bereits 80 Jahre alt war, mit den weißrussischen Verwandten zusammen zu treffen.

„Das war eine unvergessliche Begegnung, - sagt Ljubow Jurkowa. – Heute hat man viel darüber erzählt, wie die Enteignung vor sich ging (politische Motive, Verleumdungen, Falschaussagen usw.), all das betraf auch die Familie meines Großvaters. Die Verwandten, die heute in Weißrussland leben, berichteten, dass ihre Familie sehr groß war. Mein Urgroßvater hatte 9 Kinder. 2 Töchter starben in der Kindheit. Alle anderen wuchsen heran. Der Urgroßvater selber starb 1936. Die ganze Sorge für die Familie lag auf den Schultern der ältesten Kinder, auf seiner Frau und seiner Schwester, die bei ihnen wohnte. 1941 begann die Enteignung in Weißrussland. Ihre Familie besaß eine Schmiede und ein kleines Stück Land, was auch der Grund für die Entkulakisierung war. Die Verwandten berichten, dass das Haupthaus mit der Schmiede am Ortsrand stand, das zweite Haus, in dem der älteste Sohn mit seiner Frau und dem Kind wohnten, auf der anderen Seite der Einzäunung. Als sie enteignet wurden, wurde die gesamte Familie verhaftet, aber was mit dem Sohn geschah, erinnern sie nicht. Im Durchgangslager wurden sie anhand von Listen überprüft. Es stellte sich heraus, dass drei Familienmitglieder fehlten. Ihnen fiel nichts Besseres ein, als die Familie zurück zu bringen, um sie alle gemeinsam einzusammeln und dann erneut abzutransportieren. Am 21. Juni brachten sie sie nach Hause, und am 22. Juni begann der Krieg – man vergaß die Enteignung. Natürlich gingen alle Söhne an die Front, ein kam ums Leben, die anderen kehrten zurück“.

Als interessant erwies sich auch die Geschichte der Enteignung von Ljubow Jurkowas Großvater väterlicherseits. 1914 begann der Erste Weltkrieg. Die Familie geriet in die Wirren dieses Ereignisses. Der Urgroßvater fuhr mit den Kindern nach Russland – nach Rostow-am-Don. Nach Ljubow Anatoljewnas Worten erhielt ihr Großvater seine Ausbildung in einer der Schuleinrichtungen in Rostow, später war er Mitglied der Weißrussischen Arbeiter- und Bauern-Union (es gab dort so eine bolschewistische Partei), arbeitete als Haupt-Redakteur der Zeitung. Da die Zeitung auf polnischem Territorium herausgegeben wurde, setzten Verfolgungen gegen die Redaktionsmitarbeiter ein, und der Großvater kehrte auf sowjetisches Gebiet zurück. Derartige Rückkehrmaßnahmen und Grenzübertritte aus Polen nach Russland waren eine ganz normale Erscheinung, weil ein Teil Weißrusslands polnisch, der andere russisch war.

Nach dem Bericht von Ljubow Jurkowa war der Großvater Anfang der 1930er Jahre bereits verheiratet; es wurde ein Sohn geboren, der sehr krank war. Die Ärzte empfahlen in den Süden zu ziehen. Und so beschloss die Familie nach Taschkent zum Bruder der Großmutter zu fahren. Aller Wahrscheinlichkeit nach starb das Kind unterwegs. Eine Zeit lang lebten die Großeltern in Usbekistan, dann kehrten sie nach Russland, ins Nowosibirsker Gebiet, zurück. Der Großvater war an der Schule als Lehrer tätig, danach als Direktor an einer der Nowosibirsker Schulen. Und am 1. September 1937 zog die Familie ins Altai-Gebiet, an die Bahnstation Rebricha. Hier wurde der Großvater vor Neujahr verhaftet und beschuldigt, Propagandatätigkeiten zu Gunsten Polens ausgeübt zu haben. Er wurde am 27. März 1938 erschossen. Im Januar wurde auch die Großmutter verhaftet, seine Frau – sie wurde am 5. August desselben Jahres erschossen. Und so kam die kleine Lilia ins Kinderheim.

„Es ist mir gelungen, Verwandte von Seiten des Großvaters zu finden, - ergänzte Ljubow Anatoljewna ihren Bericht. – Es sind nur wenige geblieben, aber sie leben einmütig miteinander. Von Mamas Vettern und Kusinen sind noch sechs am Leben. Ihre Schicksale haben sich unterschiedlich zusammengefügt. Einer von ihnen geriet noch in den Kriegsjahren als junger Mann ins Ausland. Nächstes Jahr wird er 90 Jahre alt; bis heute lehrt er an einer New Yorker Universität. Ein persönliches Treffen kam nicht zustande, aber wir rufen uns oft an. Interessant ist, dass es unter den Verwandten in Weißrussland eine Menge Lehrer gibt. Die Tatsache, dass auch ich den pädagogischen Weg eingeschlagen habe, war wohl ein Appell der Vorfahren. Auf diese Weise existiert unsere Lehrer-Dynastie seit mehr als 200 Jahren“.

Ljubow Jurkowa konnte auch eine Menge über die Verwandten ihrer Großmutter mütterlicherseits erfahren. Offensichtlich geriet einer ihrer leiblichen Brüder während des Krieges in Gefangenschaft. Befreit wurde er zusammen mit anderen Gefangenen von den Alliierten. Aber er kehrte nicht nach Hause zurück – man setzte ihn unverzüglich davon in Kenntnis, dass er, wenn er nach Russland zurück ginge, entweder erschossen oder ins Gefängnis gesteckt würde. Man empfahl ihm, nach Brasilien oder Australien auszuwandern. In Weißrussland hatte er seine Ehefrau zurückgelassen, doch man teilte ihm mit, dass diese gestorben sei und Kinder nicht vorhanden wären. Für die Familie galt er als „verschollen“. Erst 2005 machte man ihn ausfindig. Genauer gesagt: nicht er, sondern seine Tochter…

„Eine der Tanten, die in Weißrussland lebt, arbeitete zu der Zeit als Sekretärin im Dorfrat ihrer Siedlung, - erklärte Ljubow Anatoljewna. – Einmal kamen zwei Frauen hierher – eine Ausländerin und eine Dolmetscherin. Die Ausländerin sagte, dass sie jemanden aus der Familie Juschnewitsch (Familienname der Großmutter) sehen wolle. Die Tante antwortete, dass sie aus dieser Familie stamme. Da erzählte die Fremde, dass sie Jewgenij Juchnewitschs Tochter wäre – eben jenes Mannes, der als verschollen galt. Er war nach Australien gelangt und hatte dort nach einiger Zeit geheiratet. Er hat dort vier Kinder. Die Tochter hatte extra einen Umweg aus England, wo sie geschäftlich unterwegs war, nach Weißrussland gemacht, um Angehörige zu treffen und kennenzulernen“.

Solche Ergebnisse haben also die Nachforschungen gebracht. Hier ist alles durcheinander, teilweise unverständlich, doch nachdem Ljubow Anatoljewna mit den heute noch lebenden Angehörigen zusammengetroffen ist, gelang es die Geschichte ihrer Familie fast vollständig zu rekonstruieren…


12. Band des Buches der Erinnerung

Auf dieser Begegnung löste eine grausame Geschichte die andere ab. Und sie alle waren voller bitterer Verluste.

Wie er ins Wasser schaute…

Nicht so verwickelt und vielfältig wie die vorherige Geschichte ist die von Prokopij Karafejew, die von seiner Tochter Tamara Kalinitschenko erzählt wurde.

Prokopij Aleksejewitsch arbeitete als Brigadier in einem Holzfäller-Trupp. Er war ein hochgewachsener, schöner und kräftiger Mann. Im wieder half er den Jungs, die unter ihm arbeiteten. Wenn es ihnen nicht gelang, einen Baumstamm fortzurücken, dann hatte der Brigadier ihn im Handumdrehen zur Abflößstelle gerollt.

In Prokopijs Familie gab es vier Kinder, unter ihnen die kleine Tamara, die am 1. Februar 1937 das Licht der Welt erblickte. Und am 6. Juli desselben Jahres kehrte der Vater von der Arbeit heim, nahm ein Dampfbad, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und meinte: „Na also, nun ist es auch nicht mehr so schlimm zu sterben…“ Er sagte das, als habe er alles kommen sehen. Die Gartenpforte quietschte, und irgendwelche Leute betraten die Hütte. Prokopij wurde verhaftet, man erhob gegen ihnen Anklage nach § 58-10 (terroristische Aktivitäten) und erschoss ihn bald darauf. Die Familie wurde aus dem Haus auf die Straße getrieben, den Kinderwagen mit der drei Monate alten Tamara warfen sie ihnen hinterher, beschlagnahmten das Vieh, das sie besaßen.

„Dabei hatten wir nach den Erzählungen der Mutter überhaupt nichts, erinnert sich Tamara Prokopjewna. – Lediglich – das Haus, eine Kuh, einen Ochsen, Schweine“.

Seine Ehefrau Pelageja Innikentjewna lebte bis zu ihrem Tode in der Ortschaft Nagornoje, zog die Kinder allein groß und arbeitete ihr Leben lang in der Kolchose. Sie bekam sogar Medaillen verliehen. Aber welche Bedeutung haben Medaillen, wenn das Leben in einem einzigen Augenblick durch irgendein grausames Zusammentreffen von unglücklichen Umständen zerstört wurde.

Billige Arbeitskräfte

Auch die Familie des Vorsitzenden des Sajaner Bezirksrats der Veteranen, Gennadij Belokonij, wurde von den Repressionen berührt.

„Wir erinnern uns heute an Menschen, erzählen von ihren Schicksalen, grübeln über die Vergangenheit nach, sagte er. – Das wurde alles dank des Umstandes möglich, dass die Geheimhaltung in den Archiven aufgehoben wurde und die Angehörigen Zugang zu den Akten bekamen, die lange Jahre unter dem Siegel „Geheim“ verborgen waren. Auch ich habe mich für das Schicksal meiner Verwandten interessiert und bin ins Archiv gegangen, um etwas über meinen Urgroßvater Matwej zu erfahren. Heute sind die Archiv-Dokumente umgeordnet. Jede Akte hat ihren Platz. Früher waren 5, mitunter sogar 8, Personenakten zusammengeheftet, was die Suche merklich erschwerte. Dabei beinhaltet doch jede das Schicksal eines Menschen und einer ganzen Familie. Ein Schicksal, um das man niemanden beneidet. In jeder Akte befinden sich nicht einfach nur akkurat ausgefüllte Seiten. Es wurden darin auch auf Zeitungspapier, Pergament, zerknüllte Papierfetzen – Papirossi- oder Einwickelpapier – geschriebene Anträge, Gesuche, Denunziationen und Erklärungen gesammelt.

Historisch gestaltete es sich so, dass die schlimmsten Repressionen in den 1930er Jahren, zur Zeit der Kollektivierung, stattfanden. Meinem Urgroßvater nahmen sie 1928 die Mühle, Sämaschine, Kornschwinge und die Pferde weg. Und 1930 kam die Steuer – 1800 Rubel. Das war damals sehr viel Geld. So schreibt er auch in einer Erklärung: wie sollte ich wohl die Steuer bezahlen, wenn sie mir alles genommen haben. „Erbe“ meines Urgroßvaters war mein Opa Nikita – Unteroffizier von Beruf. 1937 kam die zweite Repressionswelle (Entkulakisierung). Wenn sie damals große Sachen konfisziert hatten, so war es jetzt alles – Löffel, Federbetten, Kissen, Geflügel, Spiegel. Das heißt – sie enteigneten die Menschen vollständig. Großvater Nikita bekam 10 Jahre Gefängnis. Natürlich fällt es auch heute noch schwer sich daran zu erinnern. Nicht umsonst wurden die Menschen inhaftiert, in Lager geschickt – man benötigte billige Arbeitskräfte. Damals wurden viele gemäß § 58 festgenommen und eingesperrt. „Volksfeind“, konterrevolutionäre Organisation (KRO), antisowjetische Tätigkeit (ASD) und sogar … Nicht-Denunzieren. Wenn du etwas über deinen Nachbarn weißt und verschweigst, kann dir das zwischen 5 und 10 Jahre einbringen“. Nach den Worten von Gennadij Wassiljewitsch entdeckte er, nachdem er die Akten seines Urgroßvaters und Großvaters studiert hatte, dass vieles hinzugefügt und nicht alles verständlich war…

„Aber diese Nachforschungsarbeit muss man leisten, - unterstrich Gennadij Belokon. Man muss seine Familie und ihre Geschichte kennen, die Wahrheit rekonstruieren – egal, wie sie auch gewesen sein mag“.


Schülerinnen der höheren Klassenstufe der Aginsker Oberschule N° 2

Fotografien sind zu vernichten…

Auf dem Territorium der Region Krasnojarsk befanden sich zu Sowjet-Zeiten mehr als 20 Lager des GULAG. Eben jenes GULAG, von dem Alexander Solschenizyn so einprägsam berichtete. Im Sajaner Bezirk befand sich das Tugatschinsker Lager und in seiner Umgebung, wie Tupfen verteilt, lagen verstreut angeordnet: Uspenka, Schidorba, Stepanowka, Mamsa, Karin Klein, Ore, KanOkler, Ule usw. Eine detaillierte Karte des Tugatschinsker Lagers wird im zweiten Sammelband „Von Sibirien nach Sibirien“ vorgestellt, welche Jakob Sapetschenko, der bei den Lagerwachen tätig war. aus der Erinnerung zeichnete.

Nicht zufällig wurde gerade in Tugatsch vor ein paar Jahren ein Denkmal für die Opfer der politischen Repressionen aufgestellt. Die Idee das Gedenken an sie zu verewigen gehörte dem Vorsitzenden des Tugatschinsker Dorfrats Nikolaj Starikow. Auf seine Initiative hin wurde an der Stelle der Baracke mit verschärften Haftbedingungen, deren Chef von 1953 bis 1956 Konstantin Leontjew war, auch in der Taiga-Siedlung diese Gedenkstätte, die sich als geöffnetes eisernes Tor darstellt, über dem anstatt der Sonne ein Kranz aus Stacheldraht hängt. Die Skizze für das Denkmal entwarf Nikolaj Iwanowitsch selber, er bestellte es und stellte es auf. Die Arbeit für die eigentliche Anfertigung wurden von den Bezirksratsdeputierten Aleksander Antonow und Vera Leontjewa bezahlt. Seit der Zeit findet jedes Jahr am 30. Oktober an der Gedenkstätte eine Versammlung zum Gedenken an die unschuldigen Opfer aus der Zeit der stalinistischen Verfolgungen statt. Heute ist das Denkmal eingezäunt, Schüler der örtlichen Schule unter der Leitung ihres Direktors Dmitrij Sdrestow sowie Einwohner der Siedlung kümmern sich um die Stätte, legen Blumen und Kränze nieder. Jakob Sapetschenkos Enkelin, Natalia Wolkowa, sammelt und vervollständigt Jahr für Jahr Material über die Repressionsopfer in der Bibliothek…

„Auch ein weiteres Schicksal darf man nicht vergessen, erzählt Ludmila Miller. – Das Schicksal des Luka Petuchow – eines Verwandten der Schwezows. Er stammte aus Tomsk, diente in der Koltschak-Armee. Anhand einer erhalten gebliebenen Fotografie kann man sehen, dass er kein einfacher Soldat war, sondern zu den „Besonderen“ gehörte, mit einer gepflegten äußeren Erscheinung und Krawatte. Mit der Koltschak-Armee gelangte er nach Krasnojarsk und blieb dort aus irgendeinem Grund im Spital. Seine Frau Sinaida Iwanowna reiste ihm nach. Koltschaks Feldzug ging dem Ende zu, und die Suche nach den Koltschak-Leuten begann. Die Petuchows beschlossen weiter fort zu fahren und kamen so in den Sajaner Bezirk. Er arbeitete als Buchhalter in der Bezirksfinanzabteilung, Sinaida Iwanowna als Lehrerin in der Schule. Sie ist die älteste, die klügste Lehrerin unseres Bezirks – Olegs Urgroßmutter, Natascha und Lena Schwezow. Doch auch hier wurde die Familie von den Repressionen eingeholt: am 4. November 1937 wurde Luka Petuchow verhaftet, weil man ihn konterrevolutionärer Aktivitäten gemäß § 58 bezichtigte. Die Familie wurde aus dem Haus gejagt, ihre Nähmaschine und auch die Kuh konfisziert und fortgebracht. Was aus Luka Michailowitsch wurde, ist nicht vollständig geklärt. Einigen Aussagen zufolge ist er auf dem Weg nach Kansk erschossen worden, während er nach offiziellen Angaben am 15. August 1938 bereits in Kansk erschossen wurde. Die Familie mit den drei Kindern und der schon recht betagten Mutter stand ohne Existenzgrundlage da, denn Sinaida Iwanowna wurde von ihrem Arbeitsplatz entlassen und aus der Gewerkschaft ausgeschlossen. Den Schullehrern und den Kindern w7urde befohlen, alle Fotografien der Lehrerin zu vernichten, aber nicht alle folgten dieser Anweisung. Sinaida Iwanowna - eine kluge Frau, die über gute Kenntnisse verfügte, schrieb in ihrer Verzweiflung einen Brief an Nadjeschda Krupskaja. Jene legte offenbar ein gutes Wort ein. Jedenfalls bekam Sinaida Petuchowa ihren Arbeitsplatz zurück und wurde auch wieder in die Gewerkschaft aufgenommen. Die Kuh brachte man ihr natürlich nicht zurück, aber das Haus und die Nähmaschine. Rehabilitiert wurde Luka Michailowitsch 1956 vom Krasnojarsker Regionalgericht. In diesem Jahr wurde Sinaida Iwanowna, zusammen mit einigen wenigen anderen Lehrerinnen der Region, der Lenin-Orden verliehen – sie ist die einzige Lehrerin unseres Bezirks mit einer so hohen Auszeichnung“.

Ich sehe nur Angst

Man kann noch endlos lang über die Stalinistischen Verfolgungen berichten. An die wichtige Bedeutung der Forschungsarbeit der Schüler aus der Aginsker Oberschule N° 2 und der regionalen „Memorial“-Gesellschaft wurde während der Begegnung mehrfach erinnert. Gegenüber den Forschern wurden Worte des Dankes ausgesprochen. Die Direktorin des Sajaner Archivs, Olga Kaschina, unterstrich, dass die Türen des Archivs immer offen stünden und dass sich dort jeder mit er Geschichte seiner Familie bekannt machen, die offenen Dokumente studieren kann. „Es ist sehr wichtig, die Geschichte seiner Familie zu kennen und sie für die Nachkommen zu bewahren“, akzentuierte sie.

Die Lehrerin der Aginsker Oberschule N° 2 Tatjana Rubzowa erzählte von den letzten Funden und Errungenschaften der Schüler, dankte allen, die im Rahmen der Forschungsarbeit nicht tatenlos geblieben waren. ..

 

Die bitteren Schicksale der Verfolgten sind ein nicht wegzudenkender Teil der russischen Geschichte. Die Jahre der Repressionen gehörten dazu ebenso, wie die Jahre des Schmerzes und der Angst, als niemand vor Elend und Not sicher sein konnte, als sie jeden beliebigen zum „Volksfeind“ erklären und zum Tod durch Erschießen verurteilen konnten. Das System kämpfte gegen vollkommen unschuldige Menschen, indem es sich Feinde ausdachte und diese dann erbarmungslos vernichtete.

„… Indem ich diese Zeit als Wirbelsturm, Donnerschlag und Zusammenbruch der Wahrheit erinnere, sehe ich über allen nur die schreckliche Angst … Orchester, Versammlungen und Angst“, schrieb der sowjetische Poet und ehemalige Häftlinge der stalinistischen Lager Naum Korschawin über die Repressionen. Und treffender kannst du es nicht sagen…

Definition des Begriffs „Kulak“ gemäß Befehl der Vereinigten Staatlichen Politischen Verwaltung (OGPU) N° 44/21 vom 2. Februar 1930:

Historische Information

Am 30. Oktober 1974 wurde auf Initiative des Dissidenten Kronid Ljubarskij und anderer Häftlinge der mordwinischen und Permer Lager mit einem gemeinsamen Hungerstreik und dem Anzünden von Kerzen zum Gedenken an die Umgekommenen der „Tag des politischen Gefangenen“ begangen. An dem Tag berief der gesellschaftliche Funktionär Sergej Adamowitsch Kowaljow in der Wohnung des Menschenrechtlers Andrej Dmitrijewitsch Sacharow in Moskau eine Pressekonferenz ein, auf der die durchgeführten Aktionen erklärt und Dokumente aus verschiedenen Lagern vorgestellt wurden.

Danach führten politische Gefangene jedes Jahr am 30. Oktober einen Hungerstreik durch und ab 1987 – Demonstrationen in Moskau, Leningrad und anderen Großstädten. Zwei Jahre später bildeten etwa 3000 Menschen mit Kerzen in den Händen eine „lebende Kette“ um das KGB-Gebäude, doch diese Zusammenkunft wurde von den Behörden auseinander getrieben.

1990 stellte man in Moskau auf dem Dserschinskij-Platz einen Feldstein auf, der von den Solowezker Inseln herangeschafft worden war, wo sich in den 1930er Jahren eines der ersten sowjetischen Lager befand – das Solowezker Lager (SLON), von wo aus der Archipel GULAG seinen Anfang nahm. In den Stein war die Aufschrift eingemeißelt: „Dieser Stein stammt vom Territorium des Solowezker Lagers mit besonderer Bestimmung. Beschafft von der „Memorial“-Gesellschaft und errichtet zum Gedenken an Millionen von Opfern des totalitären Regimes“.

Ein Jahr nach diesem Ereignis wurde der 30. Oktober auf Beschluss des Obersten Sowjets der Russischen Föderation zum nationalen Tag des Gedenkens an die Opfer der politischen Repressionen erklärt. Und 1991 wurde das Gesetz „Über die Rehabilitierung der Opfer der politischen Repressionen“ verabschiedet“.

Irina Majazkich
Fotos der Autorin

„Prisajane“
12.11.2015
19.11.2015


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