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Verse für den ganzen Waggon

Zum Jubiläum von Konstantin Simonow. „Wart‘ auf mich“ als universelles und ewiges Erlebnis der vaterländischen Geschichte


Foto: RIA Novosti

Je mehr sich unsere Erdkugel im kalten Kosmos dreht und dabei unzählige Gigabites der Erinnerung anhäuft, umso mehr runde Daten überfallen einander, und sie reimen sich und rufen einander zu. Am 28. November werden es 100 Jahre seit dem Tag, an dem der Schriftsteller und Dichter Konstantin Simonow das Licht der Welt erblickte. Vor 80 Jahren erblickte auch die Anordnung des Rates der Volkskommissare „Über den Bau des Norilsker Nickel-Kombinats“, das ans GULAG des NKWD übertragen wurde und für das Schicksal des Landes und das der Sowjetmenschen von entscheidender Bedeutung war, das Licht der Welt; in der Tundra traf die erste Partie Gefangener ein – 1200 Mann. Wenn es schon dankbare Nachfahren fertig brachten, Brodskij im Zusammenhang mit seinem 75. Geburtstag als Dichter des Imperiums zu verbuchen, so wurde es Simonow wohl von Gott selbst befohlen. Doch es gibt da feine Nuancen.

Die Entstehung des berühmten Gedichts „Wart‘ auf mich“ im Sommer 1941wurde vom Autor selber geschrieben. Nachdem er von der Front zurückgekehrt war, verbrachte er eine Woche in Moskau. „Verschiedene Kriegstage“, Band eins, Kapitel zehn: „In diesen sieben Tagen schrieb ich, neben ein paar Front-Balladen für die Zeitung, plötzlich in einem Zug „Wart‘ auf mich“, „Der Major brachte den Jungen auf einer Lafette“ und „Seid nicht zornig, es wird sich zum Guten wenden“. Ich habe auf der Datsche von Lew Kassil in Peredelkino übernachtet und bin am Morgen dort geblieben und nirgends hingefahren.

Ich saß den ganzen Tag allein auf der Datsche und schrieb Verse. Im mich herum standen hohe Kiefern, überall wuchsen Erdbeeren, grünes Gras. Es war ein heißer Sommertag. Völlige Stille. Es war so still, dass ich urplötzlich Müdigkeit empfand. Für ein paar Stunden wollte ich sogar vergessen, dass auf der Welt Krieg herrscht…

[…] Und als diese Verse geschrieben wurden, konnte man bereits ahnen, dass dieser Krieg lange dauern würde. „… Warte, wenn der Schnee verweht…“ – wurde an diesem heißen Julitag nicht zum Reimen geschrieben. Zum Reimen fand sich sicher etwas anderes…

Er veröffentlicht das Gedicht Anfang 1942 in der dritten Kolumne der „Prawda“. Mir fallen keine anderen Verse ein, die zu so einem absoluten Ereignis für das ganze Volk, ohne Ausnahme, geworden wären. Und es gab nicht nur dieses Ereignis: im Jahre 2005 drehte Aleksej Simonow den Film „K M“ über seinen Vater. Eine der Episoden: er macht in der israelischen Stadt Arad einen Veteran des Zweiten Weltkriegs ausfindig – jener hatte in einer Kampfpause das ins Hebräische übersetzte „Wart‘ auf mich“ als Musikstück verfasst. Und später sang er es an allen Fronten; das Lied wurde zur Hymne der kämpfenden Juden.

„Wart‘ auf mich“ sangen auch die Litauer – in der Übersetzung ihrer Dichterin Salomei Neris.

Es war ein Gedicht für alle Mädchen auf der Welt und alle in den Krieg ausgezogenen Männer. Vom gewöhnlichen Soldaten bis hin zum General.

In den neunziger Jahren entstanden Walerij Agranowskijs Memoiren „Die letzte Pflicht“. Darin gibt es ein Kapitel mit dem Titel „Variationen“ über Simonows „Wart‘ auf mich“. Und es beginnt nicht mit Liebe, nicht mit Krieg, sondern mit der Verhaftung von Salman Rumer am späten Abend des 31. Dezember 1938 in der Redaktion der „Komsomolskaja Prawda“ – unmittelbar, nachdem er, der diensthabende Redakteur, die letzte Kolumne für die Neujahrsausgabe hinzugefügt hatte. Mit der Brigade hatte er noch auf das neue Jahr angestoßen, der zweite Trinkspruch war, wie es sich gehörte, auf den Genossen Stalin erhoben worden, - da waren plötzlich zwei Männer herein gekommen. Sie erlaubten ihnen noch, auf Josef Wissarionowitsch ihre Gläser zu leeren, dann brachte man sie fort – für 17 Jahre. Rumer begleitete sie nach Kolyma.

Im weiteren Verlauf trägt Walerij Abramowitsch die Leser ins Jahr 1977 hinüber. Das Zentrale Haus der Literaten: Schriftsteller treffen sich mit Mitarbeitern des Norilsker Metallurgie-Kombinats. „Aus den Lautsprechern ertönte „Meine Adresse ist kein Haus und keine Straße, meine Adresse…“, vorgetragen von Kobson, und die jungen Arbeiter berichteten den Schriftstellern unter Mithilfe der Melo-Deklamation, wie Pioniere auf Erwachsenen-Foren, von den Erfolgen des heimatlichen Kombinats: der Rhythmus in den Versen gab die Tonnen und Prozente des Plansolls an …“ Moderiert wurde der Abend von Konstantin Simonow; ihm half Jewegenij Rjabtschikow.

Auskunft: Jewgenij Iwanowitsch Rjabtschikow (1909-1996), Kollege und alter Kamerad von Simonow, arbeitete bei der „Komsomolskaja Prawda“, verhaftet 1937. Verurteilt am 02.02.1938 von einem Sonderkollegium des NKWD der UdSSR nach §58 zu 5 Jahren Arbeits-/Erziehungslager. Bei Ende der Haftzeit brachte er ab 1943 in Norilsk die Sportzeitung „Sapoljarnij Dinamowjez“ heraus, war am Erscheinen der Zeitungen „Sa Metall“ (für die in Freiheit lebenden Mitarbeiter) und „Metall – Frontu“ (für Häftlinge) beteiligt. Faktisch befand er sich in der Verbannung – laut Bescheinigung musste er für jeden Ortswechsel außerhalb von Norilsk erst die Erlaubnis der Behörden einholen. Er schrieb nach Moskau, bat um Überprüfung seines Falls. Dank der Fürsprache des stellvertretenden Volkskommissars für innere Angelegenheiten, Kurator der sowjetischen Metallurgie – A. Sawenjagin und des Flugzeug-Konstrukteurs A. Jakowlew kehrte er nach Moskau zurück und wurde noch damals rehabilitiert.

Der Abend im Zentralen Haus der Literaten lief ein wenig langweilig seinem Ende entgegen, als plötzlich David Kugultinow ums Wort bat.

- Meine Freunde, - sagte er, - ich möchte eure Festtagslaune nicht verderben, aber ich kann nicht umhin, mich an die Menschen zu erinnern, auf deren Knochen Norilsk erbaut wurde!

„Kugultinow sagte kein einziges Wort über den heroischen Arbeitsalltag im heutigen Norilsk, sondern erinnerte sich daran, wie er als junger Mensch an Stalin einen Brief geschrieben hatte, um sein kleines Volk zu schützen, „den Freund der Steppe“,, welches des totalen Vaterlandsverrats angeklagt und vom eigenen Land vertrieben worden war, woraufhin es dann auch für lange zehn Jahre nach Norilsk gelangt war, um „den ewigen Frost zu bezwingen“. […] Es war als ob sich im Saal etwas verändert hatte, in ihm saßen nicht mehr dieselben Menschen, die vor der Ansprache des Poeten dort gesessen hatten, […], Bitterkeit und Nostalgie zogen alte Menschen auf die Bühne, um sich an das wenig festliche Norilsk zu erinnern und der noch lebenden und umgekommenen Kameraden zu gedenken. [..] Ich sah, wie Jewgenij Iwanowitsch Rjabtschikow sich Simonow näherte, ihm mit besorgtem Gesichtsausdruck etwas zuflüsterte (was konnte er schon flüstern außer: „Kostja, die Sache ging nicht in die Richtung, und wir werden dafür auch nicht gelobt“), und Simonow hob darauf als Antwort nur die Schultern, als ob er sagen wollte: was soll man da schon machen!?
In diesem Augenblick erinnerte sich irgendeiner der Alten von der Tribüne an den Friedhof am Stadtrand von Norilsk. […] Eine Pause abwartend flüsterte Konstantin Michailowitsch Rjabtschikow wahrscheinlich zu: „ Schenja, kündige mich an“. Was der auch unverzüglich tat. Ich weiß nicht mehr genau, womit Simonow begann, aber er sagte ungefähr folgendes: vor dem Krieg hatte er Verse geschrieben, die seinem Freund gewidmet waren, welcher in jenem Gefängnis in Norilsk saß, doch aus verständlichen Gründen gelang es erst einige Zeit später sie zu veröffentlichen, zu Beginn des Krieges, und, sofern der Saal keinen Einspruch erhebe, wäre Simonow jetzt bereit sie zu zitieren. Nachdem er sich von dem Tisch, an dem er saß, erhoben hatte, stellte Konstantin Michailowitsch sich nicht auf die Bühne, sondern ging auf der Bühne zwei-drei Schritte auf die Zuschauer zu, blieb ganz am Rande stehen und begann in tiefster Stille, ohne Mikrofon, das russische „R“ als Rachenlaut aussprechend:

-„Wart‘ auf mich, ich komm‘ zurück, nur bitte warte sehr auf mich… - Bei der dritten Zeile erhob sich der Saal plötzlich. Stehend lauschten wir dem uns allen bekannten Gedicht, das mit einem Male einen ganz anderen Klang bekam, ich würde sogar sagen – einen dröhnenden Klang“.

Agranowskij erzählt, dass einige Zeit später – Simonow lebte bereits nicht mehr – er in einem Haus gemeinsam an einem Tisch mit Jewgenija Samoulowna Laskina, der ehemaligen Ehefrau Konstantin Michailowitschs und Mutter sein Sohnes Aleksej, zu sitzen kam. „Bei Tisch erzählte ich ihr „von Angesicht zu Angesicht“ die Geschichte, die mich so erschüttert und die sich im Zentralen Haus der Literaten zugetragen hatte, wenngleich, wie ich verstand, Jewgenija Samoilowna bereits Reaktionen darauf zu Ohren gekommen waren. Nichtsdestoweniger gestattete sie mir alles auszusprechen; dann meinte sie: leider verhielt es sich mit dem Gedicht „Wart‘ auf mich“ keineswegs so. Es herrschte bereits Krieg, wir schrieben das Jahr einundvierzig, ich und der kleine Aljoscha befanden uns in der Evakuierung, und da kam eines Tages für ein paar Tage Konstantin Michailowitsch vond er Front nach Moskau…“ Im weiteren Verlauf folgt die Chronologie der Geschichte der Entstehung von „Wart‘ auf mich“.

„Ich kann nicht annehmen, - endete Jewgenija Samoilowna, - dass Simonow, beeinflusst von der allgemeinen Stimmung und auch um in keine Dissonanz mit ihr zu geraten, auf dem Abend im Haus der Literaten die Geschichte des Schreibens von „Wart‘ auf mich“ ein wenig mystifizierte – das werden sie verstehen, selbst wenn alles so war, wie sie es uns erzählt haben“.

Wieder verging einige Zeit, und Agranowskij schaute dienstlich bei der „Literaturka“ herein, wo damals Rumer arbeitete. Der interessierte sich für die näheren Einzelheiten der Rede Simonows im Zentralen Haus der Literaten, und das hier bekam Agranowskij von Rumer als Antwort zu hören: „Im Dezember 1939, als er sich in den Lagern von Kolyma befand, geriet er in eine heikle Lage, die ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Einer der Barackengenossen zeigte ihm ein Blättchen Papier mit handgeschriebenen Versen mit dem Titel, wie sie bereits erraten, „Wart‘ auf mich“, von einem unbekannten Autor. Rumer gefielen die Verse wegen ihrer Aufrichtigkeit, er nahm das Papier an sich, und, wie es in solchen Fällen gehörte, wurd dies nach ein oder zwei Tagen dem „Kum“ (dem Sonderbevollmächtigten für operative Angelegenheiten) zugetragen. Der ließ Rumer zu sich rufen: wessen Verse das seien, wie sie in die Lagerzone gelangt wären, wer sie ihm ausgehändigt und wem er sie inzwischen schon gezeigt hätte – ein vollständiges Verhör mit Erstellung eines Protokolls. Weder der „Kum“ noch Salman Afroimowitsch hegten irgendwelche Zweifel daran, dass es sich um „Lager“-Verse handelte, dass sie einem Politischen und nicht irgendeinem Kleinkriminellen oder Verbrecher gewidmet waren, und das konnte auch gar nicht sein. Nachdem er sich ausgemalt hatte, dass man nun eine neue Akte über ihn zusammennähen würde und dies möglicherweise sogar ein Gruppenfall werden könnte (wenn mindestens zwei Personen in ihn verwickelt waren), beschloss Rumer, um größerem Unheil zu entgehen, ein „Geständnis abzulegen“; niemand hat mir das Blättchen gegeben, ich habe es auch niemandem gezeigt, und die Verse, verzeihen sie Bürger Vorgesetzter, habe ich selber geschrieben! Der „Kum“ beglaubigte das Geständnis […] und sperrte ihn sogleich für die nächsten 15 Tage im Strafisolator ein“.

Und als dann zwei Jahre später die „Prawda“ mit diesen Versen herauskam, scheute sich der „Kum“ nicht, Rumer wegen der Aneignung fremder Verse nocheinmal fünf Tageaufzubrummen.

„Nachdem Salman Afroimowitsch nach der Rehabilitierung nach Moskau zurückgekehrt war und irgendwie Simonow in der Redaktion begegnet war, machte er sich extra mit ihm bekannt, um ihm, wie er es stets tat, ernsthaft und ohne Anspielungen auf einen Witz, zu sagen: „Es ist gar nicht gut, KonstantinMichailowitsch, sich fremde Verse zu eigen zu machen“. – „Wie meinen Sie das?“ – „Nun, „Wart‘ auf mich“ habe ich verfasst!“ Und dann breitete er die ganze Kolyma-Geschichte vor ihm aus. Ich, - fährt Agranowskij fort, - fragte natürlich, wie Simonow darauf reagierte. „Seine Reaktion war normal, - antwortete Rumer, - wir begaben uns ins Ecklokal „Narwa“, ich bestellte Kostja 150 Gramm Wodka und er – mir. Auf die gemeinsame Autorenschaft! Na, und dann einigten wir uns auch noch aufs „Du“ und tranken Bruderschaft. Walerij hat also im Zentralen Haus der Literaten die Wahrheit gesagt: die Verse wurden vor dem Krieg geschrieben“.

Schließlich äußert Agranowskij einige Zweifel. Hat Simonow das auf der Bühne des Zentralen Hauses der Literatur tatsächlich direkt so gesagt? Um es dem ganzen Saal „zu zeigen“, solche Fälle kommen ja vor. Zweitens. Bereits nach den Ereignissen im Zentralen Haus er Literaten, im Sommer 1979, sagte Simonow zu Boris Saweljewitsch Laskin, in dem Wissen, dass er auf derselben Datsche wohnte, auf der auch Kissel gelebt hatte: „In dem Fall, mein Junge, kann ich dir etwas mitteilen. Im Herbst 1941 kam ich für kurze Zeit von der Front nach Hause, und es fügte sich so, dass ich mehrere Tage in Peredelkino auf der Datsche bei Kissel verbrachte. Und genau damals, genau dort, wo du jetzt lebst und arbeitest, schrieb ich das Gedicht „Wart‘ auf mich“ (Sammelband „Konstantin Simonow in den Erinnerungen seiner Zeitgenossen“). Es stellt sich die Frage: wenn Konstantin Michailowitsch im Zentralen Haus der Literaten die Wahrheit gesagt hat, wozu musste er dann Laskin mystifizieren? „Wenn Laskin die Wahrheit gesagt worden und sie in Tagebüchern dargelegt worden wäre, welchen Sinn hatte es dann gehabt, dass Simonow eine Menge Leute in die Irre führte, die mit großem Taktgefühl jedem Wort lauschten, das Konstantin Michailowitsch an jenem Abend von der Bühne verlauten ließ?“

Drittens. Geschah in Kolyma tatsächlich die Geschichte, die von Rumer erzählt wurde? Und sie ereignete sich im Winter 1939 und nicht 1941/1942? „Es ist trotzdem schwer zu verstehen, warum Konstantin Michailowitsch dem ganzen Saal erklären musste, dass diese Verse, wie es scheint, gar nicht Walentina Serowa gewidmet sind, sondern einem Freund, der in den Norilsker Lagern saß. [...] Da hat Aljoscha, Konstantin Michailowitsch Simonows Sohn, schon wahrhaftig recht, - fährt Agranowskij fort, - der einst schrieb, dass wir alle in Zeiten aufgewachsen sind, deren eines Prinzip es war: wenn Legenden entstehen, dann schweigen die Fakten. Ich möchte Aleksej nur korrigieren: wenn die Fakten schweigen, dann entstehen auch Legenden…“

Übrigens, eine Geschichte analog der Rumerschen erzählt im Film „K M“ von Aleksej Simonow der Soziologe Wsewolod Wiltschek – er arbeitete beim Norilsker Fernsehen. Und er nennt das, was er gehört hat, von vornherein eine „Fabel“ mit unbekanntem Maß an Glaubwürdigkeit: „Man trieb die Gefangenen von der Produktionsstätte ins Lager. Unterwegs schauten alle immer nach unten: vielleicht findet sich irgendetwas Brauchbares unter den Füßen. Und da sah einer von ihnen eine Streichholzschachtel, hob sie, von den Wachen unbemerkt, vom Boden auf und öffnete sie in der Baracke. Darin lag ein Stückchen Papier. Er liest: „Wart‘ auf mich…“ Jemand denunzierte ihn. Der Lagerleiter ruft ihn zu sich: „Hast du das geschrieben?“ Man übte Zwang auf ihn aus – er gestand. Man brachte ihn nach Krasnojarsk, zum großen Chef. Der Oberst: „Du also hast das geschrieben?“ – „Ja, ich!“ – „Du Scheißkerl, das hat Simonow geschrieben, du gehst zurück ins Lager“.

Übrigens. Anfang 1990 hörte ich in Norilsk ein Apokryph darüber, dass es in dem berühmten Lied „Nadjeschda“ („Hoffnung“) von Pachmutowa und Dobronrawow – in Wirklichkeit um den Norilsker Flugplatz „Nadjeschda“ geht, der von Mitte der vierziger bis Mitte der sechziger Jahre in Betrieb war, als der Flughafen „Alykel“ eröffnet wurde. Und dieser Text war ursprünglich beinahe in der Wandzeitung des Flugplatzes erschienen… Natürlich ist das nicht so, aber was wäre gewesen wenn? Und mit welchen neuen Bedeutungen hätten sich dann die bekannten Zeilen für alle gefüllt? „Es leuchtet ein unbekannter Stern…“

Die „Neue“ wandte sich zwecks Kommentaren an Aleksej Simonow:

- Walja Agranowskij war genau bis zu der Veröffentlichung Mamas und mein guter Freund, - sagte Aleksej Kirillowitsch, - und das, was er darin über die Reaktion meiner Mutter auf ihn, Walja, erzählt – ist seine Erfindung. Er gab „Wart‘ auf mich“ im „Moskauer Komsomolzen“ die Überschrift – dort gab es noch ein paar weitere Geschenke der Art, dass er von meiner Mutter gehört hätte, dass Konstantin Simonow ihr, nachdem er von der Front zurückgekehrt war, „Wart‘ auf mich“ zitiert hätte. Es hat bei uns kein Gespräch mit ihm gegeben, aber eine Notiz von mir in derselben „MK“, in der ich ihn – mit Mamas Segen – an die richtige Stelle rückte. Gerade von daher entstand bei Agranowskij die Erwähnung von Tagebüchern und dem Bericht von Boris Laskin, meinem Onkel. Agranowskij hat, wie Sie sehen, das Ganze in recht kreativer Weise umgearbeitet und eine zurückhaltende, doch nicht weniger apokryphe Variante aufgestempelt. Was Agranowskij vorschwebte: der Freund geriet er ins Lager und überredet den in Freiheit Zurückgebliebenen auf ihn zu warten (??!). Na ja, wenn man die Logik als solche verwirft, soll wenigstens die Logik der Gefühle vorhanden sein: kann man einen Menschen, der ins Lager geraten ist, durch Zauberformel beschwören, seinen Freund nicht zu vergessen, der in Freiheit geblieben ist – ohne Rücksicht auf die schwierigen Lebensumstände?

Jewgenij Simonow, Enkel von Konstantin Simonow und Sohn von Aleksej Simonow:

- Ich habe keinen Grund daran zu zweifeln, dass „Wart‘ auf mich“ während des Krieges geschrieben wurde, doch der Preis für mein eigenes Urteil ist unwichtig: nicht gesehen – nicht im Dienst gestanden – nicht teilgenommen – nicht herangezogen… Aber ich liebe dieses Apokryph aus dem Grund, der von Agranowskij beschrieben wurde: „Das Wichtigste, das man unbedingt sagen sollte: egal, wie es auch gewesen sein mag, ob Simonow „Wart‘ auf mich“ vor dem Krieg oder im heißen Juli 1941 schrieb, die Möglichkeit eines natürlichen und wahrheitsgetreuen „Aufschreibens“ von Kriegsgedichten als Lagerverse an sich (oder wie es einem vorkommen mag - Lagerverse als Kriegsgedichte) birgt so viel ausdrucksvollen Inhalt in sich, dass es wirklich keinen vernünftigen Anlass oderirgendein Vergnügen gibt, der Sache bis auf ihre historisch-bibliographische Wahrheit auf den Grund zu gehen“. In der Tat ist die Poesie selbst wichtiger, als die authentische Klärung der Umstände ihres Schreibens. Begreifen Sie, dass letztendlich die faktische Wahrheit keine entscheidende Bedeutung besitzt – außer einer: „Wart‘ auf mich“ – handelt auch von den Norilsker Lagern. Was auch diese Geschichte beweist. Und was auch immer Simonow auf Kassils Datsche und im Grunde genommen auch 1977 im Zentralen Haus der Literaten beabsichtigte, ist für die Fällung dieses Urteils nicht wichtig. Man kann „Wart‘ auf mich“ selber lesen, und dann ist alles ganz offensichtlich.

Dies ist kein Versuch einer Untersuchung, hier gibt es nichts zu ermitteln. Russland – das ist der ganze Waggon. Über welchen Krieg wurde „Wart‘ auf mich“ geschrieben? Über den Bürgerkrieg, dessen Fortsetzung das GULAG war, oder den Vaterländischen? Mir scheint, dass es sich einfach nur um eine Geschichte über großartige Verse handelt, die einem jeden in die Seele gehen- Wo und wer du auch gewesen sein magst.

Sehen Sie: Gedichte werden heute nicht gelesen; die Leute hören Musik, - welchen neuen Hit gibt es im Land? „Russischer Frühling“ von Jurij Schewtschuk.

Alles um uns herum wird zerbrechlich und unbeständig, wir sind wieder nackt, unnütz und vom Zufall abhängig. Selbst Präsident Putin, der zuerst der Mehrheit Vertrauen einflößte, stellt unmittelbar fest: Hemmungen werden abgewertet und die Schwelle der Kraftanwendung deutlich gesenkt. Wer empfindet das nicht? Ein autoritäres Regime herrscht immer dann, wenn kein Krieg herrscht, aber man sich auf ihn vorbereitet. Wer sieht nicht, dass der russische Frühling – ein Krieg ist? Und in überschaubarer Zukunft ist bereits nichts mehr zurückzugewinnen.

Und das heißt – es ist wieder die Zeit für so eine Simonow-Lyrik gekommen. Durchdringend Gefühle, Flehen und Gebet, als einziges Mittel sich in dem sich immer schneller drehenden Extrem, dem Krieg, dem Feldzug, der Gewalt, der Gegenüberstellung Russlands mit der übrigen Welt zu schützen… Glaube nicht, kämpfe nicht, bitte nicht. Und – wart‘ auf mich. Wart‘ doch nur. Das ist unser Altes und Neues Testament, unser Menäon-Buch. Unsere Kunst über des Messers Schneide zu laufen.

Die erste Triade ist fakultativ, das ist die Forderung an sich selbst. Und von der Welt braucht man nur eins: „Wart‘ auf mich, und ich werde zurückkehren, / Allem Sterben zum Trotz“. Wir werden noch hundert, zweihundert, dreihundert Jahre miteinander streiten und die vernichten, die mit der Mehrheit uneinig sind, aber in der Beziehung sind wir uns einig.

Die Zeiten – ob nun das Jahr 1939, 1941 oder das jetzige – kann ich selbstverständlich nicht miteinander vergleichen. Solche Repressionen und so einen Krieg wird es natürlich niemals wieder geben. Aber für den konkreten Menschen wiederholen sich die Maßstäbe der Erschütterung, vor allem – sein persönliches Schicksal. So schreibt Agranowskij: „Das sind ganz und gar keine Kriegsverse: es kommen darin weder Faschisten noch Feinde vor, welche die „heimische Hütte abgebrannt“ haben, und auch keine Flugzeuge, Panzerabwehrwaffen und Soldaten…“ Das ist natürlich kein Argument zugunsten seiner Version, weil das Leben – das an der Front und das im Lager, egal wo und in welchem – kein äußeres Ereignis ist, sondern unermesslicher innerlicher Gram. Die Welt – das ist kein Bild in den TV-Nachrichten, keine geopolitischen und innerpolitischen Spiele, sondern der inmitten der tragischen, endlosen, verschneiten Steppe dahineilende Nachtzug. Es ist auch das Leben eines jeden Einzelnen, denn die Welt besitzt nur deswegen an Wert, weil du in ihr geboren bist. Ist das denn nicht auch Schicksal – unsere persönlichen Versuche, mit dem Atem das Eis an den Abteil-Vorräumen inmitten des offenen Kosmos aufzutauen?

Und je dichter der Strom der Ereignisse ist, umso klarer wird das. Nicht in einem Krieg, nicht in einem gewaltsamen Regime-Wechsel – für den konkreten Menschen mit einem konkreten Herzen, Augen, Atem, Liebe und Angst wird es keine Sieger und keine Besiegten geben. Was für Sieger, was für Größen kann es in einem Krieg, einem Massenwahnsinn, denn schon geben?

Der Simonow-Text ist einfach, sehr männlich und zudem suggestiv. Simonow hat solche Worte und solche Musik für den Aufbau der Verse gefunden, dass sie aufgehört haben einfach nur Verse zu sein, die Erlebtes bezeichnen; sie wurden selbst zum Erlebten, näherten sich der Realität an – der Tragödie, dem Schock. Und – der Hoffnung. Eine fast magische Überwindung der unerträglichen Belastung durch Syntax, Wortschatz und Reim.

Es ist ein Gebet, eine Beschwörung, ein Zauberspruch, abgeschickt in die tiefsten Tiefen, sowohl des Menschen, als auch des Menschlichen, den höchsten Werten und Mächten. In der Epoche einer solchen Bestimmtheit kann der Sinn allein darin liegen.

Diese Zeit – der Gedichte für den ganzen Waggon – ist wieder hier, ist mit uns.

Aleksej Tarassow

Neue Zeitung, 30.11.15


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