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Man sucht sich die Zeiten nicht aus

Norilsker Chronograph

In ihnen leben und sterben Menschen… So lautet die erste Zeile eines Gedichts ohne Namen des guten Poeten Aleksander Kuschner. Der Sinn liegt darin, dass es sich nicht lohnt, auf bessere Zeiten zu warten. Richtiger ist es, hier und jetzt sein Leben zu leben. So wie es die Helden unserer Rubrik getan haben.

„Zum Ausgang!“

Am 17. Dezember 1952 unterzeichnete der Direktor des Norilsker Dramen-Theaters Jewgenij Gorin den Befehl N° 140, der lautete: „ … Ab dem 30.12. dieses Jahres sind wegen der Unmöglichkeit einer Weiterbeschäftigung folgende Dramaturgie-Schauspieler von der Arbeit freizustellen: „.D. Golowin, N.N. Rytkow, E.J. Urossow, J.M. Klawdijew“.

In seinen Erinnerungen kommentierte der künftige Volksschauspieler der UdSSR Georgij Schschenow folgendermaßen: „Einmal entließ die Theater-Direktion törichterweise alle verbannten Schauspieler aus dem Theater, weil sie sie für unzuverlässig hielt… Der Oberst setzte sich für uns ein und nötigte die Theaterleitung, alle wieder einzustellen“.


Das Norilsker Theater

Ææåíîâ â ÍîðèëüñêåAll das geschah im Theater in der Gornaja-Straße, dessen musikalischen Teil in jenen Jahren Wladimir Rassadin, Sohn des Komponisten Oleg Rassadin, leitete; später beschrieb er es so: „Vom Aussehen her ähnelte es einem Mittelding zwischen Gemüse-Station und Produktionslager. Es gab weder die gewohnten Säulen, noch einen Giebel oder Portale… Erst beim zehnten Hinsehen konnte man erahnen, dass es sich bei diesem unansehnlichen Gebäude um das dramaturgische Theater handelte. Dafür verblüffte das Interieur mit seinen kegelförmigen Säulen, um die weichgepolsterte Sitzgelegenheiten angeordnet waren, auf denen sich bequem die Schuhe wechseln ließen, mit seiner Schönheit und Eleganz. Der Zuschauersaal bestand aus Parkett und Amphitheater. Links und rechts der Bühne gab es Doppellogen in rund-bauchiger Form. Die Brüstungen waren mit feinen Samt in einem dunklen Kirschton drapiert. Die linke Loge trug die Bezeichnung Direktoren-Loge; sie war für privilegierte Zuschauer, persönliche Gäste des Direktors oder Regisseurs reserviert. Und die rechte war ausschließlich für den Kombinatsleiter bestimmt. Der Zutritt zur Loge erfolgte nicht durch das Foyer, sondern über den Erholungsraum, in dem die wichtigen Persönlichkeiten sich in den Pausen ausruhten. Das übrige Publikum verkürzte sich die Unterbrechungen im Foyer oder am Büfett, wo es auch heiße Getränke gab.

Rassadin der Jüngere erinnert sich auch an die zahlreichen Späße, die im Schauspieler-Milieu recht populär waren. Einmal spielte sein Vater Schschenow einen Streich, als jener, der in einem Theaterstück nicht mitspielte, abends im Theater erschien. Er spielte mit irgendjemandem Schach, als der alte Rassadin in die rote Ecke hineinstürmte und rief: „Schschenow, zum Ausgang!“

Der Schauspieler sprang auf und rannte auf die Bühne; an den Kulissen fing ihn der Assistent des Regisseurs ab und flüsterte: „Wohin wollen Sie denn? Sie spielen in dem Stück doch gar nicht“. Da erst begriff er, was los war und machte sich mit den Worten „Wo ist Rassadin? Ich bringe ihn um!“ – auf die Suche nach dem Spaßvogel. Aber er fand ihn nicht …

Mit selbstgemachten Henkeln

Am 21. Dezember 1950 wurden in der Kupferfabrik, ein Jahr nach seiner Inbetriebnahme, die ersten Kathoden aus Norilsker Kupfer abgeladen. Der Bau von Anden- und Elektrolyse-Umarbeitungen begann noch im Januar. Die Öfen wurden unter freiem Himmel gebaut. Gleichzeitig errichtete man das Werksgebäude. Die Metallkonstruktionen wurden mit Hilfe von Winden montiert, aber d8ie einzelnen Ziegelsteine reichte man per Hand bis nach oben durch.

Parallel dazu eignete sich eine Gruppe Norilsker Meister und Arbeiter in den Fabriken des Ural praktische Erfahrungen im Bereich der Elektrolyse an. Unter ihnen befanden sich fünf Absolventen des Norilsker Bergbau- und Metallurgie-Technikums, u.a. auch der künftige Direktor des Kombinats Boris Kolesnikow. Die frischgebackenen Schmelzer (insgesamt zehn Mann) kehrten im November nach Norilsk zurück. Obwohl der Erhalt von Anoden-Kupfer zeitlich auf den Tag von Stalins Geburtstag festgesetzt worden war, wurden die ersten Anoden in der Kupferfabrik am 8. Dezember gegossen. Nach den Erinnerungen von Michail Wassiljew, Kursmitschüler von Boris Kolesnikow, hatten die Anoden ein Gewicht von 600 kg (anstatt 250), und dann wegen der schlechten Qualität des Kupfers auch noch ohne Henkel: die selbstgemachten Griffe wurden mit Bolzen befestigt…

Die ersten Kupfer-Elektrolyse-Arbeiter stießen auf dieselben Probleme, wie bereits ein Jahr zuvor die Pyrometallwerker: der Anteil an Nickel in den Anoden war höher als berechnet, was die Technologie der Elektrolyse in der Kupferhütte in jederlei Hinsicht einzigartig machte. Die Absolventen des Technikums eigneten sich den Prozess zwei Jahre lang an, indem sie ohne freie Tage arbeiteten, und machten ihre Diplome erst im Jahr 1952.

Die Meister der Anodenfabrik, Boris Kolesnikow und Michail Wassiljew, wurden Ende desselben Jahres zur Schaffung einer Umarbeitungsanlage zur Gewinnung von Stangen und Blöcken aus Kathodenkupfer für Walzwerkserzeugnisse entsandt. Diese Aufgabe bewältigten die Kupfergießer in Stalins Todesjahr – 1953.

Beim Direktor des Norilsker Kombinats Boris Iwanowitsch Kolesnikow erfolgte der erste Eintrag im Arbeitsbuch in der Kupferfabrik: 1950-1958. Sein Mitschüler aus demselben Kurs und Freund Michail Georgiewitsch Wassiljew arbeitete bis 1990 am Norilsker Bergbau- und Metallhütten-Kombinat und war an der Erschließung des Schmelzens in der Schmelzwanne beteiligt – einer Technologie, die einen neuen Impuls erhielt, nachdem Kolesnikow Direktor des Kombinats geworden war.

Mach es selbst

Am 22. Dezember 1935 wurde in Norilsk das Zentralbüro für Arbeitserfinder organisiert. Den Mitgliedern des Büros (Leitern der Lagerabteilungen) wurde der Befehl erteilt, binnen einer Frist von zwei Tagen von jeder Lagerabteilung und Gruppe Themen zur „Erarbeitung von Rationalisierungs- und Erfindungsgedanken“ vorzulegen.

Es ist schwierig, den Beitrag der Norilsker Erfinder zum Bau des allernördlichsten Giganten des vaterländischen Metallhüttenwesens einzuschätzen. Wenn man Leskow mit anderen Worten wiedergibt, kann man sagen, dass der Ersterbauer von Norilsk auch ein Linkshänder ist, das heißt ein Meister auf allen Gebieten, der auch häufig über eine gute Ausbildung verfügte.

Wladimir Lebedinskij, der im Kombinat von 1942 bis 1968 tätig war, erinnerte sich beispielsweise daran, dass die erste Sirene des Norilsker Wärmekraftwerks im Reparatur- und Montage-Werk nach einer „Anleitung zur Herstellung und zum Stimmen von Instrumenten des Blasorchesters“ angefertigt wurde. In der Siedlung fanden sich damals keine Menschen, die mit dem Aufbau einer Sirene vertraut waren, damit man sie am 13. Dezember in Norilsk hören konnte; deswegen machte sich der politisch unterdrückte Ingenieur des Reparatur- und Montagewerks, Jurij Libinson, auf den Weg in die technische Bibliothek, wo er zum Ende des Tages ein kleines Büchlein ausfindig achte, in welchem von Blasinstrumenten die Rede war. Sein Autor lenkte die Aufmerksamkeit ganz beiläufig auch auf Pfeifen:

- Jurij Matwejewitsch nahm selber die Berechnungen in Angriff und fertigte schon bald darauf technische Zeichnungen dazu an. Er wählte eine Pfeife in einem tiefen Dur-Ton in drei Noten. Der Ton der Sirene sollte feierlich klingen.

Ein paar Tage später wurde die riesige Anlage aus drei Röhren und einem Gewicht von zwei Tonnen bereits auf ein Fahrzeug verladen….

Es ist bekannt, dass in Norilsk zu Kriegszeiten Pflüge, Traktoren-Eggen, Löffel, Spielsachen, Bleistifte, Tusche und sogar Zahnkronen hergestellt wurden…. Damals hatte es schwerwiegendere Probleme gegeben – beispielweise mit Benzin oder Schwefelsäure, - aber auch das lernten sie produzieren.

Text Walentina Watschajewa

„Polar-Bote“, 17. Dezember 2015


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