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Aleksej Babij: „Der Spießbürger braucht Stalin, den er so süßlich fürchtet

Der Vorsitzende des Krasnojarsker „Memorial“ erzählte der Zeitung „Nowaja Pritschulymka“ („HP“) von der Natur der Angst, dem Hintergrund von Denunziationen und den Wurzeln des alltäglichen Stalinismus

- Aleksej, es herrscht die gängig Meinung, dass die Stalinistischen Repressionen Gutsherrn betrafen, während Arbeiter und Kolchosbäuerinnen in Ruhe und Frieden lebten. Ist das so?

- Das ist ein Irrtum, auf dem auch der alltägliche Stalinismus beruht. Tatsächlich wurden vorwiegend Bauern verfolgt, und das auch nicht nur während der Zeit der Entkulakisierung. Die Operation des Jahres 1937 wurde als Antikulaken-Operationen bezeichnet, und sie besaß klare vorübergehende Grenzen, Limits für die Erschießung und die Kategorie, wer zu verhaften war.

In der Region Krasnojarsk machten unseren Angaben zufolge die Bauern 80-90% aller Unterdrückten aus, Partei-Angehörige ungefähr 5%. Beginn für die Ausführung des Befehls war der 5. August 1937, das Ende der 5. Dezember 1937. Doch die Organe entwickelten dabei ein derartiges Tempo, dass sie die Limits schnell erreicht hatten. In der Region hatten sie beispielsweise Anfang Oktober bereits die „geplanten“ 750 Mann erschossen und baten nun den Genossen Stalin: „Wir hätten gern noch sechstausend...“

- Woher kam diese irrige Meinung?

- Der 20. Parteitag der Kommunistischen Partei war vor allem wegen der verfolgten Partei-Angehörigen betrübt – Oberbefehlshaber der Armee, Sekretäre der Gebietskomitees u.a. Alles, was während der Tauwetter-Periode über die Repressionen geschrieben wurde, waren Erinnerungen von Überlebenden der Intelligenz. (Ausnahme – „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ von Solschenizyn). Der Bauer, sofern er unversehrt geblieben war, verkroch sich in eine Höhle und erfror, und da konnte er nicht mehr schreiben. Wenn die Bürger begriffen hätten, dass Menschen wie sie 90% der Verfolgten ausmachten, dann hätten sie vielleicht auch Stalin nicht so schnell gewollt. Und der zweite Mythos ist – dass unter Stalin Ordnung herrschte. Dabei herrschte zu seiner Zeit unheimliches Chaos! Überall. Anweisungen von oben wurden widerspruchslos ausgeführt. Aber wenn eine Entscheidung vor Ort getroffen werden musste, dann zögerte man sie hinaus, hatte Angst, weil sie, weiß der Teufel wie, vorgehen sollten. Genosse Bucharin leitete beispielsweise die „Prawda“, und er stand auf dem Spiel, und da ist er auch schon ein – Volksfeind. Jetzt sieht das Bild übrigens genauso aus. Gestern sind die Türken die besten Freunde, heute die verfluchten Feinde. Was denken sich die da oben, wer morgen der Feind ist?...

Kleine Tragödien des Großen Terrors

- Gibt es unter den tausenden von Tragödien Geschichten, die sie berühren?

- Ich kenne solche Geschichten, aber ich mag sie nicht erzählen. Sie rufen beim Spießbürger süßen Schrecken hervor, was ebenfalls im Stalinismus begründet liegt. Der Spießbürger braucht Stalin, denn er so herrlich fürchtet und den er deswegen nicht aufhört zu lieben. Das funktioniert nicht. Da ist folgende Geschichte. Eine Familie – Mann und Frau – werden ausgesiedelt, weil bei ihnen ein Knecht lebte. Aber dieser Knecht ist – der angenommene Sohn, ein verwaister Halbwüchsiger, der ihnen natürlich bei der Arbeit behilflich war. Ein Jahr lang schrieb er an die Organe: „Sie waren für mich wie Vater und Mutter, ich habe mit ihnen gegessen und gelebt“. Schließlich hatte man genug von ihm: „Dann gestehst du also, dass du Mitglied einer Kulaken-Familie warst? Dann siedeln wir dich auch aus“. Und so verschleppten sie ihn ebenfalls dorthin. Wie sie sehen, gibt es hier keine gequälten Jungen, und es fließt auch kein Blut. Die ganze Erscheinung liegt darin, dass das Böse an der Tagesordnung war. Und diese Atmosphäre, wenn du dich davor fürchtest, den Mund aufzumachen, setzte sich jahrzehntelang fort. Das war und ist ein wahrer Schrecken, aber er ist in vielerlei Hinsicht unverständlich.

- Sind ihnen vielleicht auch untypische Situationen begegnet?

- Es gab eine interessante Geschichte, als 10 junge Trotzkisten 1927 aus beiden Hauptstädten (gemeint sind Sankt-Petersburg und Moskau; Anm. d. Übers.) nach Atschinsk ausgewiesen wurden. Ideengeber der Aktion waren die Jungs selber. Auf die Frage, weshalb man sie verschleppt hatte, antworteten sie voller Stolz: „Wegen unserer Ergebenheit gegenüber Lenins Idealen“. Die Praxis sah so aus: wenn du Verbannter warst, wurden dir zuerst die Wahlrechte entzogen. So war das auch hier der Fall. Sie verkündeten einen Hungerstreik und schrieben ununterbrochen irgendwelche Gesuche… Na ja, sie wurden verhaftet und einzelnen irgendwohin verschickt. Noch deutlicher ist dieser Fall. Es gab da einen gewissen Liber, er war Lette. Nachdem man ihn 1937 verhaftet hatte, schlug er dem Ermittlungsrichter mit einem Briefbeschwerer auf den Kopf, entriss ihm den Revolver und schoss ihm in den Kopf. Und es gelang ihm, auch noch ein paar andere zu verwunden, bis man ihn schließlich fesseln konnte.

- Weshalb gibt es in Atschinsk bis heute kein Denkmal zu Ehren der Opfer der politischen Repressionen?

- In der Region gibt es zwei Städte, in denen es so etwas gibt: Minussinsk und Jenisseisk. In den übrigen Städten hat man damit große Probleme. In Kansk, Atschinsk, Turuchansk sind die Orte, an denen Massenbegräbnisse stattfanden, bekannt, aber nicht gekennzeichnet. In Atschinsk deckte man, als in den 1970er Jahren der Flugplatz gebaut wurde, eine solche Grabstätte. Anfang der 1990er Jahre (es gab noch lebende Zeugen dessen, wie die sterblichen Überreste aus dem Boden geholt wurden) forderte das Atschinsker „Memorial“ von der Staatsanwaltschaft, diesen Tatbestand offiziell zu bestätigen und Ermittlungen einzuleiten. Damals hätte man einen Gedenkstein aufstellen können. Aber die von der Staatsanwaltschaft schufen sich die Leute vom Hals, ihr Briefwechsel liegt uns vor.

Das klebrige Netz der Angst

- Wenn die Denunzierungen nicht gewesen, hätte es dann eine solche Wucht der Repressionen gegeben?

- Die Denunzierung war ein effektives Mittel des sozialen Fahrstuhls. Man zeigte seinen Chef an – er wurde verhaftet, und du kamst auf seinen Platz. Allerdings musst du darauf gefasst sein, dass man auch dich anschwärzt… Oder – ein Mensch führte ein persönliches Tagebuch, in dem er sich über die Sowjetmacht nicht sonderlich positiv äußerte. Die Beziehungen zu seiner Frau waren nicht die besten. Und so holte die Ehefrau, um ihn loszuwerden, das Tagebuch hervor und übergab es dem NKWD… Wir kennen viele solcher Fälle. Aber wenn das Rechtsschutz- und Gesetzessystem im Land normal gewesen wäre, dann hätten diese Denunzierungen überhaupt nicht funktioniert – so ist das! Böswillige Anzeigen und Gesetzlosigkeit – das sind die zwei Seiten der Medaille. Ich verurteile solche eigenmächtigen Denunzierungen und würde die Aussagen von Verhafteten im Einzelnen betrachten: ihre Aussagen sind – erzwungen. Beim NKWD wurden die Menschen sehr schnell gebrochen. Es reichte schon die Drohung aus, man würde die Familie vernichten, um den Mann zu zwingen, alles zu unterschreiben, was auf dem Papier stand. Ab dem Augenblick der Entkulakisierung und Liquidierung der Neuen Ökonomischen Politik wusste der Spießbürger, das sie mit ihm sehr leicht alles machen konnten. Und das Jahr 1937 setzte den Schlusspunkt in dieser Angelegenheit. Die Angst wurde, bildhaft ausgedruckt, genetisch. Ab 2004 fingen ehemalige Repressionsopfer damit an, uns Interviews zu verweigern: „Nachher ergeht es uns oder unseren Kindern plötzlich schlecht“. Die Behörden verhielten sich ähnlich, und die Angst erwachte.

- Heute wird die Todesstrafe ausgesetzt. Warum ist man so zaghaft geworden?

- Heute ist es schon nicht mehr nötig zu erschießen, das Volk ist seicht geworden, hat bereits vor Kleinigkeiten Angst: dass sie einen von der Arbeit entlassen, eine Akte über sie anlegen. Und ins Gefängnis stecken kann man jemanden ganz unverhofft und ohne dass er schuldig ist. Und wenn er irgendein kleines Vergehen verbrochen hast – umso mehr. Das ist eine weitere Methode der Lenkung, die damals angewandt wurde – und heute auch. Wenn die Gesetzgebung derart widersprüchlich ist, dass du nichts tun kannst, ohne sie zu verletzen. So lange du zu ihnen gehörst, drücken sie ein Auge zu. Aber wenn sie beschlossen haben dich zu verschlingen, dann finden sich völlig legale Möglichkeiten, um dich hinter Gitter zu bringen. Und ich glaube, das ist alles ganz bewusst gemacht. Jeder hängt an der Angel.

- Hat ihre Einstellung gegenüber den Menschen, dem Leben sich durch ihre Forschungstätigkeit verändert?

- Gegenüber den Menschen ist meine Haltung in den vergangenen zwei Jahren erheblich schlechter geworden, nachdem ich gesehen habe, wie leicht dieser „Sowok“ („Sowjetmensch“; Anm. d. Übers.), den ich gehasst habe, auf allen Ebenen zurückkehrt, von oben bis unten, mit einem einzigen Schnipser! Dank dem, womit ich mich befasse, verstehe ich dieses System, weiß, wohin es führt und was daraus wird. Und was mit den Menschen geschieht, die es willig oder unwillig unterstützen. Mir tun diese Menschen nicht leid. Wenn sie mit voller Fahrt auf den Abgrund zusteuern, dann ist das ihr Problem, nicht meins. Die Aufgabe von „Memorial“ ist es, das Gedenken an diejenigen zu bewahren, die gelitten haben, die Geschichte zu rekonstruieren und denen zu Gehör zu bringen, die daran interessiert sind.

Information der „Nowaja Pritschulymka“

In den Jahren der Sowjetmacht wurden mehr als 50.000 Krasnojarsker aus politischen Motiven verhaftet und mehr als 20.000 erschossen. Im Atschinsker Bezirk wurden 2434 Familien die Wahlrechte entzogen, 1581 enteignet.

Margarita Baranowa

„Nowaja Pritschulymka“, 27.01.2016


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