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Letzte Verneigung

Familien-Geschichten

Im vergangenen Jahr wurde an der Gedenkstätte „Norilsker Golgatha“ ein weiteres Denkmal aufgestellt. Diesmal – zu Ehren der japanischen Kriegsgefangenen, die aus dem Zweiten Weltkrieg nicht zurückkehrten. Etwa zu der gleichen Zeit tauchte am Ufer des Jenisseis ein vier Meter hohes Kreuz zum Gedenken an die Verbannten-Siedler auf, die im Turuchansker Boden ihre ewige Ruhe fanden.

Das Denkmal in Turuchansk stellte der Norilsker Leonid Tukurejew auf, dessen „Golgatha“ in einer nördlichen Siedlung gelegen ist, in der seine Großeltern begraben liegen – die Perewersews und Tukurejews. Hierher waren im Jahre 1930, zur Zeit der Entkulakisierung, aus dem Omsker Gebiet die Familien seiner Eltern verschleppt worden. Hier, in der Siedlung Karassino im Bezirk Igarka wurden seine Geschwister und er selber geboren.

Aus der Verbannung kehrten nicht alle Tukurejews-Perewersews zurück, und natürlich übergab niemand ihnen das elterliche Haus, Grund und Boden und die Hofwirtschaft. Zum Wohnen teilte man der kinderreichen Familie einen verfallenen Schuppen zu. Leonid Tukurejews Mutter – Matrena Nikolajewna Perewersewa, die in fremden Gefilden neun Kinder zur Welt brachte, war zu der Zeit bereits erkrankt und lebte in der Heimat nicht mehr lange – insgesamt eineinhalb Jahre. Nach ihrem Tod kamen die jüngsten Kinder in ein Kinderheim, aber der 13-jährige Leonid lief fort und machte sich auf den Weg zu seinem älteren Bruder, der 1956 nach Norilsk gefahren war.

- Mit einem Güterzug bis nach Krasnojarsk, und von dort mit einem Schiffchen weiter auf dem Jenissei. Zwei Wochen war ich unterwegs. Weder Geld noch Essen hatte ich bei mir…

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In diesem Jahr feiert der ehemalige Energetiker, Erbauer der „Hoffnung“ und des Wasser-kraftwerks in Kureika – Leonid Tukurejew – seinen 70. Geburtstag. Der erste Eintrag in seinem Arbeitsbuch erfolgte 1962. Der letzte datiert aus dem Jahr 1996. Er ist auch heute noch Einwohner von Norilsk, obwohl er ebenso gut in Sotschi oder Petersburg leben könnte. Vielleicht möchte er sich noch nicht heute, aber möglicherweise morgen von der wichtigsten Stadt seines Lebens verabschieden.

Die letzten fünf Jahre befass5te sich Leonid Konstantinowitsch mit der Geschichte seiner Familie. Zu diesem Zweck reiste er in die Heimat der Mutter, ins Omsker Gebiet, nach Igarka, Krasnojarsk, Turuchansk. Nachdem er das Schicksal seiner Großeltern geklärt hatte, hielt er es für seine Pflicht, nicht nur das Gedenken an die Tukurejews und Perewersews zu verewigen, sondern allen Verbannten-Siedlern ein Denkmal zu setzen, die für immer in Turuchansker Erde geblieben sind. Das Gedächtnis hat auch festgehalten, wie die Mama immer davon träumte, eines Tages in die Heimat zurück zu kehren. Noch im Jahre 1012 erwirkte Leonid Tukurejew gerichtlich eine posthume Rehabilitierung der Matrena Nikolajewna Perewersewa und auch seine eigene.

Das vier Meter hohe Kreuz aus Zirbelkiefernholz am Ufer des Jenissei half ihm sein leiblicher Vetter zu errichten, den Leonid Konstantinowitsch ausfindig machte, als er an der Rekonstruktion seiner Familien-Geschichte arbeitete.

- Während meiner Suche entdeckte ich nicht wenige Verwandte, und das auch nicht nur an den Ufern des Jenissei. Ich habe sie alle angerufen und vorgeschlagen, sich hierzu versammeln, um das Kreuz aufzustellen. Aber der Eine war krank, ein Anderer hatte unaufschiebbare Angelegenheiten zu erledigen, - äußerte sich der Vetter aus Turuchansk. Wäre er nicht gewesen, dann weiß ich nicht, ob mir alles im vergangenen Sommer gelungen wäre. Er war beim Transport und mit den Menschen behilflich. Das Kreuz weihte ein Geistlicher aus der Heiligen Dreieinigkeits-Kirche, unweit derer das Kreuz auch errichtet wurde.

Er erbaute „Nadeschda“, erbaute das Wasserkraftwerk in Kureika

Die schwierige Nachkriegskindheit, die Arbeit im Hohen Norden mussten sich irgendwann auf die Gesundheit des Veteranen auswirken. Aber Leonid Konstantinowitsch ist der Meinung, dass er damals mit Norilsk großes Glück hatte. Hier absolvierte er die Abendschule. Den Spuren seines Bruders folgend, studierte er am Technikum und um Institut und wurde Energetiker.

- Mit dem Lernen war es schwierig. Nach der Arbeit, im warmen Auditorium, wollte man eigentlich immer nur schlafen, - erinnert sich Leonid Konstantinowitsch an die Studenten-Jahre, als er neben dem Studium auch noch arbeiten musste.

In den Kantinen standen damals Fässer mit rotem und schwarzem Kaviar. Wenn du keine Suppe wolltest, dann nahmst du hundert Gramm Kaviar und ein Stückchen Brot. Ich aß – und dann ging’s los zur Arbeit.

In der Biographie des Energetikers gab es im Arbeitsbuch auch die Kupferfabrik, die Kupfer-Elektrolyse-Halle – und viele Jahre war er auch als Ober-Ingenieur im Kulturpalast des Kombinats (kurz nach seiner Eröffnung) sowie der Verwaltung der kommunalen Wohnwirtschaft (Haupt-Energetiker) tätig, aber sein ganzer Stolz ist bis heute die Sieben-Klassen-Schule beim „Wasser-Spezial-Bau“.

Nach Vollendung des Nullzyklus am „Nadeschda“-Kombinat, wo unsere Bezirks-Bauverwaltung Steinbrüche abschüttete, wurden Pfähle aufgestellt, und uns schickte man zum Bau des Wasserkraftwerks in Kureika. Dort traf ich den berühmten Sakopyrin an, über den es sowohl vorher, wie auch nachher jede Menge Legenden gab. Er war ein äußerst populärer Mann und harter Chef.

Leonid Tukurejew wohnte fast sein ganzes Leben in Norilsk in der Komsomolsker Straße, wobei er erst in den letzten Jahren zum Metallurgen-Platz umzog; seinerzeit war er Komsomolze, trat aber nicht der Partei bei. Leonid Konstantinowitschs Kinder, es sind drei, und auch die Enkel und eine kleine Urenkelin – sie alle sind nach seinen Worten gut geraten. Aber entsprechend der Tendenz der letzten Jahre leben sie nicht in Norilsk, der Stadt, von der ihr Urgroßvater, Opa und Vater keine Eile hat sich zu trennen.

Der alteingesessene Norilsker verbirgt seine Gefühle der Genugtuung über die im Polargebiet verbrachten Jahre nicht, und auch nicht darüber, was er bereits geleistet hat und noch leisten wird. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist für ihn das Wichtigste – dass seine Kräfte und Mittel für die Errichtung des Kreuzes am Turuchansker Golgatha ausreichen mögen.

Historische Information

1930 erschien in der Zeitung „Roter Stern“ ein Artikel Stalins, in dem zum ersten Mal die Liquidierung der Kulakenschaft (Großbauern; Anm. d. Übers. )als Klasse erwähnt wurde. Ende desselben Jahres stellte die OGPU Sonder-Trupps auf, die sich mit der Aussiedlung der Großbauern aus ihren Heimatdörfern befassten. Die reichsten Kulaken und Organisatoren antisowjetischer Auftritte waren der Inhaftierung in Konzentrationslagern oder dem Tod durch Erschießen ausgesetzt. Ihre Familien sowie weniger aktive Kulaken wurden in Gegenden ausgesiedelt, die außerhalb von Kolchos-Ländereien lagen. Dabei wurde der gesamte Besitz der auszusiedelnden Familien konfisziert. Von der Enteignung waren auch Mittelbauern betroffen, die sich geweigert hatten, der Kolchose beizutreten, sogenannte Podkulatschniki (ärmere Bauern, die im Interesse der Großbauern tätig waren; Anm. d. Übers.).

Obwohl die für die Sowjetmacht am wenigsten gefährlichen Großbauern und Podkulatschniki in benachbarte Dörfer umgesiedelt wurden, verschickte man einen erheblichen Teil der Kulaken-Familien in schwer zugängliche und schwach bewohnte Territorien: nach Sibirien, Kasachstan, in den Ural und den Hohen Norden. Die Auszusiedelnden erhielten keine Geldmittel für die Fahrt und besaßen nicht das Recht, den Ort ihrer Zwangsansiedlung zu verlassen. In den ersten Jahren ihrer Existenz am neuen Aufenthaltsort kamen zahlreiche alte Menschen und kleine Kinder aus den Kulaken-Familien ums Leben. Im Unterschied zu den repressierten Parteimitarbeitern wurden die enteigneten Großbauern erst 1991 rehabilitiert.

Walentina Watschajewa

„Polar-Bote“, 11.02.2016


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